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»Behinderung« und Gesellschaft (eBook)

Ableismus in philosophischer und sozialtheoretischer Perspektive
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
227 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518782675 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Behinderung« und Gesellschaft -  Regina Schidel
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Menschen mit »Behinderungen« sind in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt und werden oft nicht als vollwertige Personen anerkannt. Ihre Diskriminierung - Ableismus - unterläuft das Gleichheitsversprechen liberaler Demokratien. Obwohl diese Stigmatisierung strukturelle Ähnlichkeiten zu Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus aufweist, erfährt sie gegenwärtig viel weniger Aufmerksamkeit. Regina Schidel schließt mit ihrem Buch diese Lücke, indem sie Ableismus aus philosophischer und sozialtheoretischer Perspektive analysiert, und zwar exemplarisch am Fall von Menschen mit kognitiven Einschränkungen/geistiger »Behinderung«. Sie zeichnet Ursprünge ableistischen Denkens in der philosophischen Tradition nach und entwickelt Möglichkeiten, diese zu überwinden.



Regina Schidel ist Akademische Rätin a. Z. an der Professur für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

11

Einleitung


Im Mai 2024 wurde eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe in Mönchengladbach Ziel eines vermutlich rechtsextremistischen Anschlags. Die Scheibe der Tür des Wohnheims, in dem Menschen mit »Behinderungen« leben,[1]  wurde eingeschlagen, daneben ein Stein mit der Aufschrift »Euthanasie ist die Lösung« platziert.[2]  Angespielt wurde damit auf das nationalsozialistische Massenmordprojekt an Menschen mit psychischen Krankheiten und geistigen »Behinderungen«.

Ebenfalls im Mai 2024 erwarb die US-Amerikanerin Rachel Handlin als eine der ersten Personen mit Trisomie 21, dem sogenannten »Down-Syndrom«,[3]  einen Masterabschluss an einer angesehenen amerikanischen Universität.[4]  Sie und andere Akademiker:innen mit Trisomie 21 entkräften damit das tief verwurzelte Vorurteil, Menschen mit »Down-Syndrom« seien »idiotisch«, geistig »minderbemittelt« oder »schwachsinnig«.[5] 

12Diese aktuellen Geschehnisse zeichnen ein höchst widersprüchliches Bild von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situierung von Menschen mit geistigen »Behinderungen« und stecken zwei Pole ab, zwischen denen sich soziale Positionierungen, kollektive Werthaltungen und Normen insgesamt bewegen. Einerseits macht der Universitätsabschluss von Handlin und anderen Akademiker:innen, die bis in die Gegenwart hinein als »geistig behindert« tituliert werden, deutlich, dass entsprechende soziale Räume und institutionelle Rahmenbedingungen es ermöglichen können, alteingesessene ideologische Normen über (mangelnde) Fähigkeiten zu durchbrechen. Andererseits zeigt der Anschlag in Mönchengladbach, dass entmenschlichende und gewaltbesetzte Phantasmen gegenüber Menschen mit geistigen »Behinderungen« in unserer Gesellschaft fortbestehen und deren Status als Gleiche beständig unterminieren.

Dieses Buch hat das Ziel, die spannungsvolle Konstellation genauer zu beleuchten, innerhalb derer Menschen mit geistigen »Behinderungen« in gegenwärtigen Gesellschaften situiert sind. Denn sie offenbart einen ungelösten Widerspruch in deren Innerstem: Moderne liberale Demokratien sind von dem Versprechen getragen, dass alle Menschen als Bürger:innen gleich zählen, das heißt gleiche Rechte besitzen, die sie zur Teilhabe an einem geteilten gesellschaftlichen Leben befähigen und die Mitbestimmung in Angelegenheiten des politischen Gemeinwesens sicherstellen. Diese rechtliche und politische Gleichheit soll die Bedingungen eines guten und gelingenden Lebens für alle Mitglieder der Gesellschaft in ihrer Verschiedenheit gewährleisten, ob sich diese Verschiedenheit nun als religiöses Bekenntnis, sexuelle Orientierung oder kulturelle Lebensform äußert. Doch eine solche Pluralität menschlicher Identitäten in gegenwärtigen Demokratien ist ständig von der Vorherrschaft bestimmter dominanter Vorstellungen von richtiger oder angemessener menschlicher Existenz in der Gesellschaft bedroht. Islamophobe, antisemitische, rassistische oder sexistische Tendenzen unterminieren die Gleichheit von Menschen und unterlaufen die ursprüngliche liberaldemokratische Idee des Respekts vor der Diversität.

13Gegenwärtig erfahren diese verschiedenen Ungleichheitsachsen ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit, indem sie wissenschaftlich hinsichtlich ihrer historischen oder sozialpsychologischen Wirkweisen aufgearbeitet werden. Auch in politischen und öffentlichen Debatten ist die Kritik an diskriminierenden Denkweisen und Strukturen gegenüber als different gedeuteten sozialen Gruppen präsenter als noch vor wenigen Jahrzehnten – auch wenn sich allerorten immer noch genug Fürsprecher:innen von Dominanzkultur und damit einhergehender Abwertung von Pluralität finden; der Aufschwung von rechtsextremen Parteien in Europa und darüber hinaus macht das drastisch deutlich.

Allerdings werden sowohl akademisch wie auch gesellschaftlich die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit (geistigen) »Behinderungen« in sehr viel geringerem Maß thematisiert als andere Ungleichheitsordnungen. Dementsprechend stoßen Gewaltakte wie derjenige in Mönchengladbach auch insgesamt auf viel weniger Empörung und Widerstand aus der Zivilgesellschaft – und das, obwohl die Projektion von Angst und Hass auf Menschen mit »Behinderung« und Akte sprachlicher und physischer Gewalt gegenüber ihnen eng mit Antisemitismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit verknüpft sind. Äußerungen von rechtsextremen Politikern über Menschen mit geistigen »Behinderungen« wie etwa diejenigen Björn Höckes[6]  sind solchen über Migrant:innen erstaunlich ähnlich, und auch historisch ist Behindertenfeindlichkeit eng mit Antisemitismus und Rassismus verschränkt. Das wird insbesondere in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts manifest: Die biopolitischen Vorstellungen eines gesunden »Volkskörpers«, die sich schon Jahrzehnte vor dem Nationalsozialismus in Deutschland entwickelten, waren rassistisch motiviert und wandten sich aus vermeintlich »rassehygienischen« Gründen unter anderem gegen Menschen mit geistigen »Behinderungen« und psychischen Krankheiten.[7]  Außerdem war die systematische Ermordung von Menschen mit »Be14hinderungen« und psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus, die sogenannte »Euthanasie«, nicht nur chronologisch und personell das direkte Vorläuferprojekt der Shoah, der Ermordung der europäischen Jüd:innen, sondern verlief ideologisch komplementär dazu und war vom gleichen rassischen Wahn angeleitet.[8] 

Das Fortwirken von Behindertenfeindlichkeit auch nach der nationalsozialistischen Diktatur ebenso wie die Kontinuität von antisemitischen, rassistischen und queerfeindlichen Einstellungen ist allerdings ein Indiz dafür, dass es sich hierbei keineswegs um ein Problem handelt, das nur einen rechten politischen Rand betrifft. Vielmehr waren und sind Stereotype und Ausgrenzungsphantasien gegenüber Menschen mit geistigen »Behinderungen« tief im kollektiven Imaginären verwurzelt, und es ist in Deutschland hauptsächlich mutigen Aktivist:innen und Vordenker:innen zu verdanken, dass entmenschlichendes Denken gegenüber »Behinderten« in den letzten Jahrzehnten aufgebrochen wurde und eine gesellschaftliche Inklusion institutionell zumindest zögerlich und schrittweise stattfindet.

In historischer und geistesgeschichtlicher Perspektive hat jüngst Dagmar Herzog die Ideologie der Behindertenfeindlichkeit seit dem 19.Jahrhundert, ihre vielfältige vermeintliche Rechtfertigung in medizinischen, psychologischen, ökonomischen und theologischen Diskursen und schließlich ihre Kulmination im »euthanasischen« Genozid der Nationalsozialisten in einer Monographie umfassend aufgearbeitet.[9]  Das vorliegende Buch beleuchtet komplementär dazu die normative und philosophische Seite der Diskriminierung von Menschen mit geistigen »Behinderungen« und das Fortbestehen einer gesellschaftlichen Ordnung, in der ihr Status als Ungleiche ungebrochen bleibt.

Eine philosophische und gesellschaftstheoretische Kritik am Ableismus und die Beschäftigung mit dem prekären und randständigen Status von Menschen mit geistigen »Behinderungen« wirft die Frage nach der Legitimität solch eines Sprechens über eine soziale Gruppe auf. Bin ich selbst als nicht»behinderte« Akademikerin überhaupt legitimiert dazu? In ihrem Essay Das Problem, für andere zu sprechen[10]  stellt Linda Martín Alcoff wichtige Überlegungen zu 15dem Problem an, wie wir überhaupt für und über jene, die sich in einer marginalisierten Position befinden, sprechen können. Beanspruchen wir damit nicht eine Interpretationsautorität, die wir nicht haben, weil uns die phänomenologische Inneneinsicht der anderen Position zwangsläufig immer ein Stück weit entgehen muss? Und schreiben wir ihre Verstummung und Unsichtbarmachung nicht sogar fort, wenn wir uns ihre Perspektive und Unterdrückungserfahrung aneignen – und sei dies auch in solidarischer und emanzipatorischer Absicht? Alcoff überprüft dazu verschiedene Argumente und warnt sowohl vor einem falschen und individualisierenden Essentialismus des Nur-für-sich-selber-sprechen-Könnens[11]  als auch vor den Gefahren, die mit einer übergriffigen Aneignung der Positionen anderer verbunden...

Erscheint lt. Verlag 17.12.2025
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Autonomie • Bewusstsein • Diskriminierung • Geistige Behinderung • Gleichheitsversprechen • Intersektionalität • kognitive Einschränkung • Rassismus • Sozialtheorie • Stigmatisierung • STW 2466 • STW2466 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2466
ISBN-13 9783518782675 / 9783518782675
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