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Rasse, Geschlecht, Gattung (eBook)

Zur Frage der anthropologischen Differenzen | Bahnbrechende Studien des großen Philosophen zu Rassismus und Anthropologie
eBook Download: EPUB
2025 | 1., Originalausgabe
250 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518780947 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rasse, Geschlecht, Gattung - Étienne Balibar
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Wir sind es gewohnt, Menschen nach Geschlecht, Rasse, Alter oder Intelligenz zu unterscheiden. Doch ebenso wie die Abgrenzungen des Menschen von der Natur, den Tieren, dem Göttlichen oder den Maschinen sind diese Differenzierungen höchst ungewiss. Étienne Balibar kennzeichnet diese Ungewissheit mit dem Begriff der anthropologischen Differenzen und zeigt, dass sich diese nie eindeutig bestimmen lassen, sondern immer wieder institutionell festgeschrieben werden müssen. Sind sie daher von Gewalt, Herrschaft und Kämpfen geprägt? Und wie werden sie im Rassismus, aber auch in emanzipatorischen Politiken wirksam? Können wir uns von ihnen oder durch sie befreien? Indem er das Unbehagen der menschlichen Gattung freilegt, entwirft Balibar eine neue Philosophie und Anthropologie.



<p>Étienne Balibar, geboren 1942, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Paris X Nanterre und Anniversary Chair in Modern European Philosophy, Kingston University London. Er ist Schüler von Louis Althusser, mit dem er das einflussreiche Werk <em>Das Kapital lesen</em> veröffentlichte. Balibar gilt als einer der bedeutendsten französischen Philosophen der Gegenwart. Zuletzt ist im Suhrkamp Verlag von ihm erschienen: <em>Gleichfreiheit. Politische Essays</em> (2012).</p>

25

Elektion/Selektion


»Den Dolch in der Hand, deine Spur mit den Augen verfolgend, so gehe ich hinter dir her. Denn durch mich sucht mein Stamm [race] sich an deinem zu rächen.«[1] 

Ich habe mir überlegt, diese Einladung zu nutzen, um auf bestimmte Fragestellungen zurückzukommen, die gelegentlich bei meinen bisherigen Versuchen aufgekommen sind, das Problem des Rassismus oder andere, mit dem Phänomen und dem Begriff des Rassismus zusammenhängende Fragen zu erörtern – wie etwa Universalität, Gewalt oder Grenzziehungen und Identitäten. Dabei werde ich notgedrungen mit Andeutungen operieren und deswegen allzu abstrakt vorgehen, und da neue Untersuchungen, die erforderlich wären, fehlen, werden meine Ausführungen hypothetisch und wenig belastbar, ja vielleicht sogar willkürlich bleiben. Ich fühle mich ermutigt so zu verfahren, weil ich mich an die vielen Anlässe erinnere, zu denen Sie schon bereit waren, sich ähnliche Erörterungen anzuhören und über sie zu diskutieren – was nicht sonderlich überraschend ist, denn schließlich verdanken sie sich direkt oder indirekt, aber ausnahmslos den Wortmeldungen und Schriften von vielen Freund:innen, die heute hier versammelt sind. Chronologisch gesehen an erster Stelle dieser Freund:innen steht einer meiner liebsten und über alle Maßen bewunderten Lehrmeister. Es dürfte Jacques Derrida heute Abend nicht schwerfallen, die tiefe Prägung zu erkennen, die der eine oder andere Punkt meines Vortrags durch seine Ideen und Formulierungen erfahren hat. Ich weiß nicht, ob er das gutheißt. Doch unabhängig davon, welche Worte er in seinem eigenen Beitrag wählen wird, schätze ich mich extrem glücklich, dass unsere Überlegungen zu einem so wichtigen und schwierigen Thema durch unsere gemeinsame Lehre und gleichzeitige Anwesenheit hier in Irvine zueinanderfinden.

Ich werde vier Fragen ansprechen, die aus meiner Sicht eine Reihe von Schwierigkeiten, ja vielleicht unüberwindliche Aporien abdecken. Ich habe nicht die Absicht, sie zu bewältigen, aber ich möchte ihre Relevanz erörtern, versuchen, sie auszuformulieren und meine Zweifel sowie Hypothesen zum Ausdruck zu bringen, wobei mir ein grundlegender Gedanke vor Augen steht: Ich möchte nicht unbedingt zeigen, wie »die Philosophie« eine Theorie des Rassismus aufstellen oder ihn zu einem ihrer »Gegenstände« und Bereiche machen kann, wie eine »wissenschaftliche Disziplin« es tun würde, als vielmehr vorführen, warum Rassismus, angefangen mit dem Namen, den er trägt, für die Philosophie ein Störfaktor ist und sie in Frage stellt. Ich werde nicht noch eine »Philosophie des Rassismus« umreißen, von denen es übrigens meines Erachtens ohnehin nicht besonders viele gibt, sondern versuchen, die Probleme der Rasse und des Rassismus über die Ausrichtung des philosophischen Diskurses selbst bestimmen zu lassen. Die ersten beiden, wenn man so will, einleitenden Fragen sind eher epistemologischer oder metaphysischer Natur: Sie betreffen den Rassendiskurs als Äußerung des Begehrens nach Wissen über die konstitutiven Unterteilungen der menschlichen Spezies sowie als deren Darstellungsverfahren und infolgedessen den Zusammenhang, der zwischen dem Problem der Rasse und einer möglichen Definition von »philosophischer Anthropologie« besteht. Die letzten beiden Fragen sind eher historischer und politischer Natur: Sie betreffen die Symmetrien und was man vielleicht die Unveränderlichkeit der antithetischen »theologischen« und »biologischen« Bezüge des Rassendiskurses nennen könnte, die offenbar die Verbindung zwischen vormodernen Diskriminierungen und dem modernen Rassismus hergestellt haben, der sich im Zeitalter des europäischen Nationalismus und der auf Europa konzentrierten kolonialen Besitzergreifung von der Welt allgemein verbreitete, sowie den Grad, in dem diese Symmetrie – in Bezug auf die ich mich für die Verwendung der Begriffe Elektion und Selektion entschieden habe – weiterhin für unser Verständnis der Entwicklungstendenzen hilfreich sein kann, die viele für »Neo-Rassismus« oder »Post-Rassismus« in einem Zeitalter der Globalisierung halten, das durch Spannungen im Zusammenhang mit den internationalen Migrationsbewegungen und durch die fixe Idee eines sogenannten »Kampfes der Kulturen« gekennzeichnet ist. Am Schluss werde ich versuchen, diese verschiedenen Herangehensweisen zusammenzuführen, um das schwierige ethische Problem einer Alternative zu den Rassen- und Rassismusdiskursen und -praktiken aufzuwerfen, die ich »das Andere des Rassismus« nennen werde, da27mit deutlich wird, wie unbestimmt ihre endgültigen Zielsetzungen bleiben müssen, obwohl wir mit Sicherheit der Ansicht sind, dass rassenbezogene/rassistische Formationen dringend nach Handlungsinitiativen in den Bereichen Erziehung, soziale Gerechtigkeit und internationale Zivilität verlangen.

I


Beginnen möchte ich mit einer ersten Schwierigkeit, die den Zusammenhang zwischen dem Problem des Rassismus und dem Problem des Wissens betrifft. Als ich bei einer früheren Gelegenheit versucht habe zu erklären, dass das Verhältnis zwischen »Universalismus« als einer auf der menschlichen Gemeinschaft basierenden, normativen Vorstellung von Universalität und »Rassismus« als einer Vorstellung von Differenzen und Hierarchien innerhalb ebendieser Spezies niemals schlicht und einfach in Inkompatibilität bestehen könne, habe ich von einem »hartnäckigen Erkenntniswunsch« gesprochen, der ebenfalls im rassistischen Diskurs zum Ausdruck kommt.[2]  Im Grunde genommen, hatte ich dabei die Tatsache im Sinn, dass der Rassismus ideale »Menschentypen« beschreibt und ausgiebigen (und in einem gewissen Sinne kreativen) Gebrauch von Klassifikationen macht, die es Individuen und Gruppen erlauben, sich Antworten auf die unmittelbarsten existentiellen Fragen zurechtzulegen, wie zum Beispiel auf aufgezwungene Identitäten sowie dauerhafte Gewalt zwischen Nationen und ethnischen oder religiösen Gemeinschaften. Damit wollte ich außerdem darauf hinweisen, dass Macht- und Herrschaftsbeziehungen zwar ständig mit Rassendiskriminierung verbunden sind oder ihr zugrunde liegen, das Verhältnis von sozialen Strukturen und Diskursen aber nicht als instrumentell aufgefasst werden darf; es ist weder rein funktional noch nachrangig, sondern besteht aus aktiven geistigen Formationen, deren reflexive Seite genauso wichtig ist wie die projektive oder stigmatisierende.

Dieser Gedanke, der sich in philosophischer Hinsicht zu weiten Teilen Nietzsches und Foucaults Begriffen eines »Willens zur Wahr28heit« und eines »Willens zum Wissen« verdankt, ist auch in meinen eigenen Augen nicht ganz klar, wie ich gestehen muss, insbesondere insofern er auf psychologischen Analogien zu beruhen scheint (und deshalb möglicherweise heute von »kognitivistischen« Rassen- und Rassenbeziehungstheoretiker:innen begrüßt werden würde). Doch ich bin trotzdem der Ansicht, dass er weiterverfolgt und mit einer radikalen Kritik der Idee einer »wissenschaftlichen« Analyse des Rassismus verbunden werden sollte.

Im »wörtlichen« Sinn – als Diskurs über »Rasse« – oder unter anderen metonymischen Bezeichnungen, die wir uns vergegenwärtigen werden, ist Rassismus zu einem der großen Themen der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaften im Allgemeinen geworden, und wie es scheint, ist diese »Objektivierung« des Rassismus im Grunde genommen ein Versuch, ihn in dem zweifachen Sinne zu beenden, dass seinen Metamorphosen und Transformationen durch die Lösung des Rätsels seiner Triebkräfte ein Ende gesetzt wird und dass in Übereinstimmung mit progressiven (aufgeklärten), intellektuellen und pädagogischen Reformmaßnahmen seine historische Abschaffung in die Wege geleitet wird. Wohlwollend betrachtet, scheint es diesbezüglich innerhalb der Entwicklung, die im letzten Jahrhundert stattgefunden hat, zu einer merkwürdigen Ersetzung gekommen zu sein: Während ein Großteil der Sozialwissenschaften sich insbesondere unter dem Einfluss der Evolutionsbiologie und Ethnografie zunächst mit der Erörterung des Stellenwerts und der Auswirkungen von Rassenunterteilungen und Rassenbeziehungen beschäftigt und dem Begriff der »Rasse« dabei positive Bedeutung und positiven Nutzen ...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2025
Übersetzer Christine Pries
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Schlagworte Abgrenzung • aktuelles Buch • Anthropologie • Befreiung • Bücher Neuerscheinung • Differenzierung • Emanzipation • Exklusion • Gleichfreiheit • Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2017 • Menschengeschlecht • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Rassismus • Raymond-Aron-Preis 2013 • STW 2451 • STW2451 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2451 • Universalität
ISBN-13 9783518780947 / 9783518780947
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