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Dieses eine Leben -  Martin Hägglund

Dieses eine Leben (eBook)

Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81455-6 (ISBN)
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Was wir brauchen, um ein sinnvolles Leben zu führen, ist die beinahe heroische Anerkennung und Bejahung dieses einen Lebens: Darin besteht die inspirierende Einsicht des philosophischen Shootingstars Martin Hägglund. In seinem gefeierten Bestseller zeigt er, dass wir keinen religiösen Glauben an die Ewigkeit, sondern einen säkularen Glauben kultivieren sollten, der sich unserem endlichen Zusammenleben widmet. Nur ein solcher Glaube kann die Quelle einer wahren Freiheit sein - und muss folglich das Zentrum einer überzeugenden Ethik und Politik für das 21. Jahrhundert bilden. Unsere Freiheit ist untrennbar mit materiellen und ökonomischen Bedingungen verbunden: Es kommt darauf an, wie wir in diesem Leben miteinander umgehen und was wir mit unserer begrenzten Zeit anfangen. In seinem tiefgründigen, originellen und durchweg zugänglichen Buch beschäftigt sich Hägglund daher nicht nur mit großen Philosophen von Aristoteles bis Hegel und Marx, sondern auch mit Schriftstellern von Dante bis Proust und Knausgård, mit politischen Ökonomen von Mill bis Keynes und Hayek sowie mit religiösen Denkern von Augustinus bis Kierkegaard und Martin Luther King Jr. Ihm geht es dabei sowohl um eine Kritik religiöser Ideale als auch um eine neuartige Vision einer postkapitalistischen Form des Zusammenlebens, in der wir unsere Lebenszeit wirklich besitzen und unsere geistige Freiheit leben können.

Martin Hägglund ist Professor für Humanities an der Yale University. Er ist Autor von vier hochgelobten Büchern, die in fünfzehn Sprachen übersetzt wurden und Gegenstand zahlreicher Konferenzen sowie Zeitschriftenbände waren. Er hält Vorträge auf der ganzen Welt und veröffentlicht seine Texte u. a. in der New York Times sowie im New Statesman. Sein philosophischer Bestseller «This Life» wurde mit dem renommierten René-Wellek-Preis ausgezeichnet und vom New York Magazine als eines der wichtigsten Bücher für die Pandemiezeit ausgewählt.<br>

1

GLAUBE


I


So hatte er sich das nicht vorgestellt. Sie war in sein Leben getreten, hatte seine Welt verändert, seinen Körper und Geist geöffnet. Er aber hatte sich stets eingeredet, dass seine Hingabe zu ihr seine Hingabe zu Gott nicht mindern würde. «Ich habe mich selbst ermahnt», erinnert er sich, «nicht auf weltliches Glück zu zählen.»[1] Doch genau das tut er nun. Er liebte sie, und weil er sie liebte, ist er von ihrem Tod erschüttert. Tage- und nächtelang protokolliert er seine Trauer: «die rasenden Worte, der bittere Groll, das Flattern im Magen, der Alptraum vom Nichts, das Suhlen in Tränen.»[2]

Seine frommen Freunde raten ihm, Trost in Gott und den Worten des hl. Paulus zu suchen: «Trauert nicht wie die anderen, die keine Hoffnung haben.» Er begreift aber: «Was der heilige Paulus sagt, vermag nur solche zu trösten, die Gott mehr lieben als die Toten».[3] Sein Glaube an Gott würde ihn auf das ewige Leben hin orientieren. Doch in seiner Liebe zu ihr und der Trauer über ihren Tod spendet ihm sein Glaube an Gott und die Ewigkeit keinen Trost. Er will nicht, dass sie in ewigem Frieden ruht, sondern wünscht sich ihre Rückkehr und die Fortführung des gemeinsamen Lebens. «Die irdische Geliebte triumphierte schon in diesem Leben über deine Vorstellungen von ihr», schreibt er. «Und das wünscht man sich auch; man wünscht sich die Geliebte mit all ihrem Widerstand, all ihren Fehlern, allem Unerwarteten, das heißt, ihre standfeste und selbständige Wirklichkeit. Und noch nach ihrem Tod sollen wir diese lieben nicht irgendein Bild oder eine Erinnerung.»[4]

So schreibt C. S. Lewis nach dem Tod seiner Frau Joy Davidman in Über die Trauer. Lewis gehört zu den einflussreichsten christlichen Schriftstellern seiner Zeit, doch in Über die Trauer schlägt er einen anderen Ton an. Er predigt oder belehrt nicht, sondern schildert, was die Erfahrung des Trauerns mit ihm macht. Er ergründet den Schmerz und die Verzweiflung über den Verlust der Geliebten. In dieser Schilderung zeigt sich nicht nur eine Glaubenskrise in dem Sinn, dass der Tod von Lewis’ Frau ihn an der Existenz Gottes zweifeln lässt. Etwas Tieferes tritt zutage: die Einsicht, dass sein Glaube an Gott ihm keinen Trost spenden kann angesichts des Verlusts eines geliebten Menschen. Beklagt eine Mutter den Tod ihres Kindes, so Lewis, könne sie noch darauf hoffen, «Gott zu verherrlichen und sich seiner ewig zu freuen». Dies sei vielleicht «ein Trost für den auf Gott gerichteten, ewigen Geist in ihr. Nicht aber für ihre Mutterschaft. Das eigentliche Mutterglück muss abgeschrieben werden. Niemals und nirgends wird sie je ihren Sohn auf den Knien halten, ihn baden, ihm Geschichten erzählen, seine Zukunft planen oder ihren Enkel erleben.»[5]

Im Gegensatz zu seinem religiösen Glauben an die Ewigkeit beschreibt Lewis hier eine leidenschaftliche Bindung an das endliche Leben. Die Mutter, die um ihr Kind, und der Geliebte, der um die Partnerin trauert, investieren in eine Beziehung, die Zeit braucht, um zu sein, was sie ist. Liebe kann nicht innerhalb eines Augenblicks stattfinden. Sie drückt vielmehr die Bereitschaft aus, sich für einen langen Zeitraum an eine andere Person zu binden. Die Zeitlichkeit der Liebe ist nicht bloß eine unvermeidliche Bedingung, sondern den positiven Eigenschaften der Gemeinsamkeit mit der geliebten Person immanent. In der Liebe zu einer anderen Person schätzt man die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft, auf die Wiederholung bestimmter Handlungen und auf das Zusammenleben. Wer die geliebte Person verliert, trauert um das Ende dieses zeitlich begrenzten Lebens. Lewis macht deutlich, dass die Hoffnung auf Ewigkeit keinen Trost spendet. Selbst, wenn sie erfüllt würde, brächte sie nicht das gemeinsame Leben zurück.

Angenommen, das irdische Leben, das sie und ich ein paar Jahre geteilt haben, sei in Wirklichkeit nur Grundlage, Vorspiel oder irdische Erscheinungsweise zweier unvorstellbarerer, kosmischer, ewiger Etwas. Man könnte sich diese Etwas als Sphären oder Kugeln vorstellen. Wo die Ebene der Natur sie schneidet – das heißt im irdischen Leben –, erscheinen sie als zwei Kreise (Kreise sind Sphärenschnitte). Zwei Kreise, die sich berühren. Aber diese beiden Kreise und vor allem der Punkt, in dem sie sich berührt haben, sind ja eben das, worum ich trauere, wonach ich Heimweh habe, wonach ich hungere. Man sagt mir: ‹Sie fährt fort zu sein.› Aber ich schreie mit Herz und Leib: ‹Komm wieder, komm zurück. Sei ein Kreis, der meinen Kreis auf der Ebene der Natur berührt.› Doch ich weiß, das ist unmöglich. Ich weiß, was ich begehre, ist genau das, was ich nie bekommen kann. Das frühere Leben, die Scherze, die Schlummerbecher, die Streitgespräche, das Lieben, die winzigen, herzzerreißenden Gemeinplätze. Wie man es auch ansieht: ‹H. ist tot› heißt eben: ‹All das ist vorbei.› Es gehört der Vergangenheit an. Und was vergangen ist, ist vergangen, und nichts anderes bedeutet Zeit, und Zeit ist nur ein anderer Name für den Tod, und selbst der Himmel ist ein Zustand, wo ‹alles Frühere vorüber ist›. […] Natürlich ausgenommen, ihr könnt all den Unfug über die Wiedervereinigung von Familien ‹am jenseitigen Ufer› glauben, ausgemalt in irdisch bunten Farben. Aber all das stammt nicht aus der Schrift, sondern aus schlechten Kirchenliedern und frommen Öldrucken. In der Bibel steht kein Wort davon.[6]

Lewis formuliert deutlich, wie sich die Bindung an die Geliebte in der Bereitschaft ausdrückt, mit ihr weiterzuleben. Er kann sich mit dem Tod seiner Frau nicht abfinden, weil er das gemeinsame Leben fortsetzen will, und zwar in jenem zeitlichen Rhythmus und jener physischen Konkretion, die ihre Beziehung einzigartig machte. Entsprechend will er auch nicht, dass sie beide selbstgenügsame, zeitlose Wesen sind (die er als «zwei unvorstellbare, kosmische, ewige Etwas» beschreibt). Vielmehr möchte er, dass sie einander brauchen, verwundbar sind und durch die Berührung des jeweils anderen verändert werden können. Aus dem gleichen Grund kann ihm auch das Versprechen auf einen ewigen Seinszustand nicht das Ersehnte bieten. Im Vollzug der Ewigkeit – hier beschrieben als Zustand, in dem alles «Frühere» der Ewigkeit gewichen ist – gäbe es keine Zeit, innerhalb derer ihre Beziehung fortbestehen könnte. Die Ewigkeit würde die gemeinsame Zeit beenden. In diesem Zustand könnte die Beziehung nicht überleben.

Die Bindung an die Geliebte, die Über die Trauer motiviert, steht deshalb im Widerspruch zu Lewis’ Bindung an Gott. Als Kenner christlicher Theologie ist ihm klar, dass er sterbliche Wesen nicht als Selbstzwecke lieben darf, sondern nur als Mittel zum Erreichen der Liebe Gottes. So schreibt er in Über die Trauer: «Naht man sich Ihm nicht als Ziel, sondern als Weg, nicht als Zweck, sondern als Mittel, so naht man sich Ihm eigentlich überhaupt nicht.»[7] Deshalb betont er, dass die Bibel keine Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod enthält, in dem Wiederbegegnungen mit einst geliebten Menschen möglich sind. Denn solche Vorstellungen sind nicht auf Gott als Ziel orientiert, sondern betrachten ihn höchstens als Mittel zum Zwecke der Wiedervereinigung mit den verstorbenen geliebten Menschen. Die Vorstellung einer Nachwelt, in der Lewis’ Frau ihn erwartet, richtet sich auf das Weiterleben mit der Geliebten und nicht auf die Existenz in Gottes Ewigkeit.

Lewis’ Text verdeutlicht somit meine zentrale Unterscheidung zwischen dem Weiterleben (der Fortsetzung eines zeitlich begrenzten Lebens) und dem ewigen Sein (dem Aufgehobensein in einer zeitlosen Existenz). Lewis macht uns schmerzlich klar, dass beides miteinander unvereinbar ist. Indem Lewis um seine Frau trauert, liebt er sie als Selbstzweck. Er will nichts jenseits von ihr, sondern dass sie zurückkehrt und die beiden ihr Leben als Liebende fortsetzen können: «die Scherze, die Schlummerbecher, die Streitgespräche, das Lieben, die winzigen, herzzerreißenden Gemeinplätze.» Er sehnt sich nach einem gemeinsamen Leben, das es nur als zeitliches geben kann. Mit dem Wunsch nach der Rückkehr der Geliebten wird ewiges Leben nicht nur unerreichbar, sondern auch unerwünscht. Lewis will nicht in ewigem Leben aufgehen, sondern in der...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Übersetzer Stephanie Singh
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Wirtschaft
ISBN-10 3-406-81455-7 / 3406814557
ISBN-13 978-3-406-81455-6 / 9783406814556
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