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Wozu? (eBook)

Eine Philosophie der Zwecklosigkeit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28030-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wozu? -  Michael Hampe
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Von der Geburt bis zum Tod: Was weiß die Philosophie über die Stationen unseres Lebens?
Was bedeutet es, auf die Welt zu kommen? Wir treffen Unterscheidungen und Bewertungen, noch bevor wir Begriffe bilden, sprechen und urteilen. Wir verlieben uns und begreifen, dass das Leben endlich ist. All das kann man philosophisch untersuchen: Entsteht da ein Subjekt? Warum braucht es einen 'Sinn'? Wozu das alles? Kann man ein Leben mit all seinen Erfahrungen und Emotionen überhaupt in Worte fassen? Wenn wir uns aber nur über Ausschnitte unseres Lebens austauschen können, geraten Regeln und Zwecke ins Wanken, weil sie nur einen Teil unserer Existenz betreffen. Damit ist der Weg frei für eine Selbsterkundung, die eine größere innere Freiheit verspricht als die Jagd nach Zielen und die Suche nach Sinn.

Michael Hampe, geboren 1961 in Hannover, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Psychologie und Biologie in Heidelberg und Cambridge. Nach Professuren in Dublin, Kassel und Bamberg ist er seit 2003 Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Er lebt in Freiburg und Zürich. Zuletzt erschienen: Tunguska oder Das Ende der Natur (2011), Die Lehren der Philosophie (2014) und Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben (2020).

Der Weg hinein


… in was hineingeraten? Enge und einzeln. Warum? Gab es eine falsche Bewegung? Von wem? Und wie wieder raus? Wohin? Weite, nicht einzeln. Eng und weit — ist Enge und einzeln schlecht und Weite gut? Bilder von Holzverschlägen vor Betonwänden, in denen es unmöglich ist, sich umzudrehen (eingesperrter Affe, der sprechen lernt), von Leibermassen, die weiterdrücken (Rinder, Menschen), oder ein Pferd, das mit der Kandare zurückgenommen wird. Jemand wird dicht auf den Boden gepresst, Kiefer wie eine Zange um den Nacken oder Knie auf dem Hals. Wolf im Wald liegend, schnell hechelnd, wach, Augen in den Himmel. Dann Schönheit leerer hoher Zimmer, eine sich plötzlich öffnende Lichtung im Wald, Meer, sich ruhig wiegend am Morgen oder stürmisch, ein Himmel, über den Wolken jagen, oder nur blau, klar, tanzende Möwen …

Wer redet hier dauernd? »Schlecht«, »gut« — ständig Bewertungen … kommen wie von selbst. Schon immer scheint es dieses Gerede gegeben zu haben, seit ich (wer?) mich erinnern kann. War es nie still? Oder kann ich mich nicht mehr an die Zeit erinnern, als es noch schwieg, aber ich vielleicht schon »auf der Welt war« (was für eine merkwürdige Wendung!)? Oder war ich noch gar nicht da, als es dies Gerede noch nicht gab? So vieles habe ich vergessen! Was gab es vorgestern zum Mittagessen? Keinen Schimmer.

Im Kindergottesdienst Geschichte vom Sündenfall: Sie und er essen vom Baum der Erkenntnis. Seitdem Rede von Gut und Böse. Seitdem dauernd Bewertungen, seitdem Leben als Einzelne. Anfang Geburt, Ende Tod, Enge der Zeit, Lebenszeit Einzelner. Alte Rede. Was war vorher? Eine Einheit, in der kein Bewerten stattfand? (Viel später aus dem Osten: »Wo weder Liebe noch Hass, ist alles offen und klar. Doch die kleinste Unterscheidung trennt Himmel und Erde in zwei. Der Konflikt zwischen Neigung und Abneigung ist nichts als eine Krankheit des Geistes.«) Vielleicht habe ich meine Existenz vor der Rede, vor all diesen Bewertungen einfach vergessen! Soll ich versuchen, mich so weit zurückzuerinnern, dass ich an eine Zeit vor der Rede denken kann? Doch wie sollte das gehen? Ich muss mich ja an der Rede entlanghangeln zurück in die Vergangenheit. Es gibt, so scheint es mir, die Vergangenheit nur in der Rede. Und wie sollte ich mir oder irgendjemand anderem sagen, was ich vergessen habe, falls es eine Zeit gegeben hat, in der ich noch keine Worte vergessen konnte, weil noch keine Rede »in mir« (wo ist das?) war? (»Je mehr Worte und Sorgen dich beherrschen, desto weiter entfernst du dich von der Wirklichkeit.«)

Und Bilder? Könnte ich nicht Bilder aus dieser Zeit erinnern und vergessen haben? Manche behaupten, sich an ihre Zeit im Mutterleib erinnern zu können. (Behaupte ich nicht!) Hatten sie Bilder im Kopf, oder tauchten Geräusche und Gefühle bei ihnen wieder auf? Aber was könnte für mich auf diesen Bildern zu sehen sein, an Geräuschen gehört, Gefühlen gefühlt worden sein ohne Rede? Habe ich den Herzschlag und Blutstrom meiner Mutter gehört, während ich als Fötus in der Fruchtblase schwebte? Doch was kann ich gehört haben, bevor ich die Wörter »Herz« und »Blut« kannte? Und als ich draußen war: Konnte ich da Mama und Papa sehen und fühlen, bevor ich »Mama« und »Papa« sagen konnte? Oder habe ich da nur Rundes mit Augen gesehen? Aber »rund« und »Augen« konnte ich ja auch noch nicht sagen, damals. Habe ich mich von irgendetwas oder irgendjemand unterschieden vor der Rede? Seit wann gibt es mich also eigentlich?

Welche angeborenen Gewohnheiten, dieses von jenem zu unterscheiden, existierten, bevor die Rede losging? Das Baby, das noch nicht spricht, kann im heißen Bad verbrüht werden. Dann schreit es. Es unterscheidet offenbar zwischen heiß und kalt, Schmerz und Lust, obwohl es noch nicht »heiß« und »kalt«, »Schmerz« und »Lust« sagen kann. Jedenfalls scheint es »uns Redenden« so, die wir es schreien hören, lächeln sehen. Aber unterscheidet und bewertet es (wer?) wirklich schon? Ist da schon jemand, der unterscheidet, oder wird einfach geschrien und gelächelt, je nachdem, was vorher geschehen ist? Alles scheint am Unterscheiden zu hängen. Trifft jemand Unterscheidungen, oder gibt es Einzelwesen, die bloß denken, sie träfen Unterscheidungen, weil unterschieden wird, »es unterscheidet«, so wie es blitzt oder der Atem geht, ohne dass jemand blitzt oder absichtlich atmet? Sind auch der Herzschlag und das Atmen ein Unterscheiden: Zusammenziehen und Entspannen? Auch »wirklich« und »nicht wirklich«, »tatsächlich« und »nur scheinbar existieren« sind Unterscheidungen in der Rede. Die Rede scheint notwendig immer ein Unterscheiden und Bewerten zu sein, weil sie ein Bestimmen ist (und jede Bestimmung auch eine Verneinung ist: Der Apfel ist hart und also nicht weich). Mein Denken ist diese Rede, also ist mein Denken Unterscheiden. Der Atem geht, das Unterscheiden geht. So scheint es mir in der Rede immer zuzugehen. Ich finde den Herzschlag und das Atmen in meinem Leib vor, ich finde die Rede vor, in mir und außerhalb von mir. Woher kommt diese unterscheidende Tätigkeit, ob sie nun in der Rede stattfindet oder vielleicht auch ohne sie? Woher kommt die Fähigkeit zum Fällen eines Urteils, in dem ein Subjekt von einem Prädikat getrennt wird?

Man kann zwei Formen des Urteils voneinander unterscheiden: das juristische und das philosophische. Die Richterin fällt das Urteil, dass der Angeklagte schuldig ist, und verurteilt ihn zu einer Gefängnisstrafe. Der Philosoph analysiert die Urteilstafel, die von möglichen Behauptungssätzen handelt. Auch von »behaupten« sprechen wir in zweierlei Hinsicht, reflexiv und nicht reflexiv: Ein Mensch kann sich in einem Kampf behaupten und jemand kann etwas behaupten, etwa, dass es morgen regnen wird. Das moralische und das richterliche Urteil, vor allem die Verurteilung, schließen Bewertungen ein, das schlicht behauptende Urteil nicht. Stellt die Richterin fest, dass der Angeklagte gestohlen hat, so stellt sie fest, dass er etwas getan hat, was er nicht tun sollte, was er nicht darf, was gegen das Gesetz verstößt. Wenn sich jemand in einem für ihn bedrohlichen Kampf behauptet, so ist das für ihn selbst gut, sofern Menschen nicht unterliegen wollen, während die Behauptung, dass der Apfel grün ist, zunächst nichts Gutes oder Schlechtes bedeutet. Doch dass für die explizit bewertende und nicht bewertende Rede im Deutschen dasselbe Wort verwendet wird: »Urteil«, könnte anzeigen, dass das Bewerten sehr tief in der Rede verwurzelt ist, ja dass die Rede immer auch Bewerten ist (wie schon Aristoteles nahelegte).

Gäbe es eine Zeit vor der Rede, wäre sie die Zeit vor dem Unterscheiden, vor Gut und Böse (das Paradies?) und dem bewertenden Denken (die Zeit des Anschauens?). Doch das ist Unsinn, denn »vor« und »nach« sind ja auch Produkte des Unterscheidens in der Rede. Ohne Rede und Denken, ohne dieses Unterscheiden gibt es für uns auch kein »vor« und kein »nach«. Denn auch die Erinnerung ist eine Art von Denken und Reden: So und nicht anders war das früher, vor dem, was jetzt ist. Das und das ist geschehen und jenes nicht. Ich bin zu heiß gebadet worden — damals. Wenn uns Bilder wieder in Erinnerung kommen ohne Rede, dann nicht als etwas von damals, scheint es mir. Denn wir erinnern jetzt. Jedes Mal, wenn ein Erinnerungsbild entsteht, geschieht dies in einer anderen Gegenwart. Es ist immer ein neues Bild. Oder gibt es ein Dokument der Erinnerung, das fix bleibt? Es gibt Papierfotos aus der Vergangenheit, die ich in die Hand nehmen kann. Ändert das etwas? Vielleicht. So ein Foto kann mich korrigieren. Ich dachte vielleicht, als ich mich erinnerte, dass es so und so war. Jetzt sehe ich auf dem Foto, dass es anders war. Gibt es in unserem Bewusstsein »Dokumente« oder vielleicht sogar so etwas wie »Filme«? »Dann lief der Film wieder in mir ab«, wird gesagt, »der Film, wie du mich damals geschlagen hast«. Ist das ein Denken? Vielleicht denken auch manche Tiere in solchen Bildfolgen und unterscheiden so zwischen dem Früheren und dem Späteren. Ich weiß es nicht. Ohne das Unterscheiden gibt es keine Zeit. Die Ursache und die Wirkung machen die Zeit,...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Aristoteles • Biografie • Freiheit • Philosophie • Regeln • Samuel Beckett • Simone Weil • Sinn • Spinoza • Sprache • Subjekt • Wittgenstein • Zweck
ISBN-10 3-446-28030-8 / 3446280308
ISBN-13 978-3-446-28030-4 / 9783446280304
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