Zum Hauptinhalt springen
Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Cold War Freud (eBook)

Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1., Deutsche Erstausgabe
380 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77452-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Cold War Freud - Dagmar Herzog
Systemvoraussetzungen
27,99 inkl. MwSt
(CHF 27,35)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Hitzige Kämpfe tobten in der Folge des Zweiten Weltkrieges um das Erbe Sigmund Freuds. Die verspätete Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die sexuelle Revolution und die Dekolonisation stießen fundamentale Transformationsprozesse in der psychoanalytischen Theorie an, die ihrerseits auf die Kultur zurückwirkten. Von den USA über Europa bis nach Lateinamerika schildert Dagmar Herzog die Deutungskämpfe einer Zunft, deren konkurrierende Theorien über Begehren, Angst, Aggression, Lust und Trauma mal konservativen, mal subversiven Zielen dienten - und hält damit ein innovatives Plädoyer für die Psychoanalyse als Erkenntnisinstrument im Dickicht der Verflechtung von Psyche und Gesellschaft.



Dagmar Herzog, geboren 1961, ist Distinguished Professor of History am Graduate Center der City University New York und Autorin zahlreicher Publikationen zur Sexual- und Geschlechtergeschichte der Moderne, zur Holocaustforschung und zur Geschichte der Religion. 2023 wurde sie mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis ausgezeichnet.

7Einleitung


Cold War Freud befasst sich mit den Begegnungen freudianischer Theorien über Begehren, Angst, Aggression, Schuld, Trauma und Lust – also über die Natur des menschlichen Selbst und seiner Motivationen – mit den unheilvollen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und der Folgezeit. Oft wird die Psychoanalyse in ihrer Sicht auf die menschliche Natur für ahistorisch gehalten, doch das Gegenteil ist der Fall. Die Einflüsse epochaler sozialpolitischer und kultureller Transformationen auf die psychoanalytischen Prämissen und Praktiken werden in den Nachkriegsjahrzehnten besonders deutlich. Genau in dieser Zeit erlangte die Psychoanalyse im gesamten Westen die größte Bedeutung sowohl in der Medizin als auch in der Massenkultur. Denn im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das psychoanalytische Denken nahezu alle anderen Denksysteme beeinflusst – von den großen religiösen Traditionen bis zu den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, von der konventionellen Ratgeberliteratur bis zu radikalen politischen Protestbewegungen. Die Psychoanalyse wurde in all ihrer unbändigen Komplexität zu einem integralen Bestandteil der Sozial- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Die Blütezeit der intellektuellen und populären Beschäftigung mit der Psychoanalyse erstreckte sich von den 1940er bis in die 1980er Jahre – von der konservativen Konsolidierung der Nachkriegszeit bis zur (erst verzögerten, aber dann sehr intensiven) Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus und des Holocaust, von der Bewegung gegen den Vietnamkrieg und der damit einhergehenden Umkehrung der Moral- und der Generationenordnung bis zur Konfrontation mit den neuen Diktaturen des Kalten Krieges, von der sexuellen Revolution und dem Aufstieg der Frauen- und Homosexuellenbewegungen bis zu einem verstärkten Interesse am globalen Süden sowie daran, von ehemals kolonialisierten Völkern in einer (nur unvollständig) entkolonialisierten Welt zu lernen. Alte Annahmen über das Wesen des Menschen wurden durch neue ersetzt, und die Kämpfe innerhalb und um die Psychoanalyse stellten eine Sprache bereit, um über diese Veränderungen nachzudenken sowie darüber, was im Lichte dessen getan werden 8könnte und sollte, um eine gerechtere Welt herbeizuführen. Doch die Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Politik waren eine permanente Quelle von Ambivalenz.

Sigmund Freud starb 1939 im Londoner Exil. Der Geist ständiger kritischer Selbstrevision hatte seinen Umgang mit dem eigenen Theoriegebäude geprägt; regelmäßig hatte er sich zudem zwischen Fragen der klinischen Technik, der anthropologischen Spekulation und der politischen Meinung hin- und herbewegt. Für ihn war die Psychoanalyse zugleich eine therapeutische Methode, eine Theorie der menschlichen Natur und ein Werkzeugkasten für Kulturkritik. Über die unlösbaren Spannungen zwischen den therapeutischen und den kulturdiagnostischen Potenzialen der Psychoanalyse sollte in den folgenden Jahren jedoch nicht nur unter Freuds Kritiker:innen, sondern auch unter seinen Anhänger:innen gestritten werden. Und was dabei auf dem Spiel stand, hatte sich dramatisch verändert. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des psychoanalytischen Denkens verschärften sich besonders in der Folge des Zivilisationsbruchs, den der Siegeszug des Nazismus in den 1930er Jahren und der in allen Hinsichten beispiellose Massenmord in den 1940er Jahren herbeiführten. Dies lag nicht nur an der aus dem Aufstieg des Faschismus resultierenden Zerstreuung der psychoanalytischen Gemeinschaft, sondern vor allem an den drastischen Fragen, die durch die historischen Ereignisse selbst aufgeworfen wurden. Die Psychoanalyse, so stellte sich immer wieder heraus, kann sowohl normativ-konservative als auch sozialkritische Implikationen haben. Und obwohl die Praktiker:innen und Sympathisant:innen oft hin- und herschwankten zwischen dem Versuch, Dynamiken in den intimsten Winkeln der menschlichen Fantasien und Körper offenzulegen, und dem Wagnis, sich über Kultur und Politik im weitesten Sinne zu äußern, gab es nie eine selbstverständliche Beziehung zwischen den möglichen politischen Implikationen psychoanalytischer Grundsätze – seien diese im Einklang mit linken, zentristischen oder rechten politischen Positionen – auf der einen Seite und den Feinheiten in der psychotherapeutischen Methode oder den theoretischen Formulierungen auf der anderen. Auch entlang der von allen Seiten abgegebenen Erklärungen des Bruchs mit beziehungsweise der Treue zu Freud ließ sich diese komplexe Sachlage nicht ohne Weiteres sortieren.

9Im Jahre 1949 fand in Zürich der erste Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Das Weltgeschehen hatte die IPV für mehr als ein Jahrzehnt daran gehindert, sich zu treffen. In Zürich wandte sich der in Wales geborene und in London lebende Neurologe und Psychoanalytiker Ernest Jones – Präsident der IPV, einer der angesehensten Exponenten der Psychoanalyse in Großbritannien, langjähriger Herausgeber des International Journal of Psycho-Analysis und bald darauf Freuds offizieller Biograf – mit der Bitte an das Publikum, sich von allem fernzuhalten, was als politisch subversiv ausgelegt werden könnte. Tatsächlich forderte er seine Kolleg:innen sogar auf, sich aus jeglichen Diskussionen über extrapsychische Faktoren herauszuhalten.

Vielleicht war es auch eher ein Befehl als eine Bitte. Jones wies seine Zuhörer:innen an, sich strikt auf »die primitiven Kräfte des Geistes« zu fokussieren und dem »Einfluss soziologischer Faktoren« aus dem Weg zu gehen.1 Ihm zufolge sollte aus der jüngsten Vergangenheit – der Eroberung eines Großteils des europäischen Kontinents durch die Nationalsozialisten und der damit einhergehenden rasanten Vergrößerung der psychoanalytischen Diaspora sowie der Tatsache, dass in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs die während des Krieges stillgelegten psychoanalytischen Vereinigungen zum damaligen Zeitpunkt nicht wieder aufgebaut werden durften – die Lehre gezogen werden, dass Politik jeglicher Art am besten auf Distanz zu halten sei. Jones' offizielle Begründung für das Gebot der streng apolitischen Haltung beruhte, kurz gesagt, auf politischen Ereignissen (und war zudem insofern merkwürdig, als sie die Tatsache verdrängte, dass in den 1930er und 1940er Jahren von Fachkolleg:innen eine ganze Reihe von Schriften über Themen wie Krieg, Aggression und Vorurteile verfasst worden war, und zwar auch von britischen einschließlich Jones selbst).2 Oder, wie er sein Argument formulierte: »Wir müssen der Versuchung widerstehen, uns hinreißen zu lassen, emotionale Abkürzungen in unserem Denken zuzulassen, dem Weg der Politiker zu folgen, denen es schließlich nicht besonders gut gelungen ist, zum Glück der Welt beizutragen.« Doch seine Anweisung war multifunktional. Denn die Vermeidung von Diskussionen über Politik und allgemein extrapsychische Dynamiken hatte den zusätzlichen Effekt, dass sie von der geheimen Absprache zwischen Jones und Sigmund und Anna Freud 10ablenkte, die dazu führte, dass der marxistische Psychoanalytiker Wilhelm Reich (aufgrund seiner politischen Toxizität, so die Begründung) von jenen Hilfsaktionen ausgeschlossen wurde, die sehr vielen Analytiker:innen, die während des Krieges auf der Flucht waren, das Leben retteten.3 Darüber hinaus brachte die antipolitische Anweisung den zusätzlichen Vorteil mit sich, dass sie eine formelle Zurückweisung der eher soziologisch orientierten »neofreudianischen« Tendenzen darstellte, die während der Kriegsjahre vor allem in den Vereinigten Staaten an Bedeutung gewonnen hatten (und die Jones gern kaltgestellt gesehen hätte). Jones war unerbittlich. Während »die Versuchung verständlicherweise groß ist, zu den Faktoren, die uns ein besonderes Anliegen sind, auch noch sozialpolitische Faktoren hinzuzufügen und unsere Erkenntnisse in soziologischer Hinsicht neu zu lesen«, sei dies, so mahnte er – in einer Beschreibung, die eigentlich eine Anordnung war – »eine Versuchung, der, wie man mit Stolz feststellen kann, mit sehr wenigen Ausnahmen entschieden widerstanden wurde«.4 Viele Psychoanalytiker:innen – in den USA, in West- und Mitteleuropa und in Lateinamerika – sollten auf Jones' Rat hören, ob aus persönlicher Vorliebe, auf institutionellem Druck hin oder aus einer Kombination von beidem. ...

Erscheint lt. Verlag 19.11.2023
Übersetzer Aaron Lahl
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte aktuelles Buch • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Dekolonisation • Nationalsozialismus • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Sexuelle Revolution • Sigmund-Freud-Kulturpreis 2023 • STW 2393 • STW2393 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2393
ISBN-10 3-518-77452-2 / 3518774522
ISBN-13 978-3-518-77452-6 / 9783518774526
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Von der frühen Neuzeit bis ins Computerzeitalter

von Nina Franz

eBook Download (2025)
Walter de Gruyter GmbH & Co.KG (Verlag)
CHF 58,55