Unterwegs zwischen Grenzen (eBook)
164 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
9783754997123 (ISBN)
Ralf Grabuschnig ist Historiker, Autor und Podcaster. Er studierte Geschichtswissenschaft in Wien, Zagreb und Budapest und betreibt seit 2018 den Podcast Déjà-vu Geschichte. Bei all dem hat er ein großes Ziel: Er möchte zeigen, wie spannend und unterhaltsam Geschichte sein kann - und wie viel sie uns über unsere heutige Welt verrät. Auf www.ralfgrabuschnig.com kann man mehr über ihn und seine Arbeit erfahren.
Ralf Grabuschnig ist Historiker, Autor und Podcaster. Er studierte Geschichtswissenschaft in Wien, Zagreb und Budapest und betreibt seit 2018 den Podcast Déjà-vu Geschichte. Bei all dem hat er ein großes Ziel: Er möchte zeigen, wie spannend und unterhaltsam Geschichte sein kann – und wie viel sie uns über unsere heutige Welt verrät. Auf www.ralfgrabuschnig.com kann man mehr über ihn und seine Arbeit erfahren.
Einleitung
Unterwegs zwischen Grenzen. Europas Minderheiten im Schwitzkasten der Nationen
In meiner Familie gibt es ein Geheimnis. Ach, was sage ich. Nicht nur in meiner Familie. Dieses Geheimnis teilen im Dorf meiner Großeltern so gut wie alle Familien, genauso wie in den Dörfern das Tal hinauf und hinunter. So betrachtet ist das Wort Geheimnis fast zu groß gegriffen. Wie auch immer: Als ich im Kärnten der Neunzigerjahre aufgewachsen bin, hätte diese Sache genauso gut ein Geheimnis sein können. Ich habe nichts davon gehört. Ich habe nichts davon gesehen. Ich habe nichts davon gewusst.
Das Thema kommt nur sporadisch in alten Familiengeschichten zum Vorschein. Wenn meine Tante etwa davon erzählt, dass meine Großeltern hin und wieder in eine den Kindern unverständliche Sprache verfallen sind, sobald diese etwas nicht verstehen sollten. Ich habe mir bei diesen Geschichten nie etwas gedacht. Ich selbst habe diese Sprache in meiner Zeit als Kind vor allem nie gehört. Oder zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
Diese Sprache – dieses Geheimnis – ist das Slowenische. Im Dorf meiner Großeltern haben es noch vor wenigen Generationen so gut wie alle gesprochen. Heute nennen sie das Dorf Ratnitz. Früher ist es mal Ratenče genannt worden: von meiner eigenen Familie, von den Nachbarn, in den Dörfern das Tal hinauf und hinunter. Denn diese gesamte Gegend im Süden des österreichischen Bundeslandes Kärnten ist seit Jahrhunderten slowenischsprachig gewesen und auch wenn ein schleichender Prozess der Germanisierung die Sprachgrenze bereits weit in den Süden verschoben hat: Ganz erreicht hat sie die Gegend um Ratenče doch erst vor wenigen Generationen.
Bei näherer Betrachtung überrascht es trotz allem kaum, dass so selten über diese Geschichte gesprochen wird. Immerhin versteckt sich in meiner Familiengeschichte ein viel größerer Prozess, der sich in ganz Kärnten – Koroška – in fast identischer Form abgespielt hat. Es ist eine Geschichte der Gewalt, der Unterdrückung, Diskriminierung, ja zum Teil sogar der aktiven Vertreibung. Vor allem ist es aber eine Geschichte der schleichenden, hartnäckigen und unnachgiebigen Assimilation. Eine Geschichte des Lebens in einem gesellschaftlichen Klima, in dem es für Tausende von Menschen irgendwann eben „einfacher“ war, Deutsch zu sprechen anstatt ihre Muttersprache Slowenisch. In der Öffentlichkeit, im Beruf und letztendlich sogar in der Familie.
Nur so erklärt sich die eigentlich unerklärbare Tatsache, dass noch vor hundert Jahren ein Drittel der Kärntner Bevölkerung Slowenisch als Muttersprache angegeben hat – nicht nur in unserer Gegend, im äußersten Süden des Landes, sondern noch weit darüber hinaus. Nur so ist zu erklären, dass heute vielleicht noch ein paar Zehntausend davon übrig sind. Wenn es denn überhaupt so viele sind. Um in Ratenče noch Slowenisch zu hören, muss man inzwischen ziemlich genau wissen, wo man hinhören muss. In den Nachbardörfern Loče und Pogorje ist es ähnlich. Ein paar Kilometer weiter westlich im Gailtal ist die Sprache inzwischen fast gänzlich ausgestorben und auch in die andere Richtung im Rosental schaut die Lage nicht gerade – entschuldige bitte – rosig aus.
Als Kind und Jugendlicher wusste ich davon wie gesagt kaum etwas. Und ganz ehrlich: Es wäre mir auch herzlich egal gewesen. Als Jugendlicher im Villach der frühen Zweitausender hatte man nun wirklich andere Probleme. Mädchen zum Beispiel. Oder beim Fortgehen in der berüchtigten Villacher Innenstadt nicht aus Versehen abgestochen zu werden, weil man in den Augen irgendeines Halbstarken gar zu „blöd schaute“. Diese Ausrede lasse ich mir auch mit dem Blick von heute noch durchgehen. Aber ganz so leicht kann ich es mir selbst trotzdem nicht machen. Ich muss an dieser Stelle nämlich einen der größeren Widersprüche in meinem Charakter ansprechen: Ich bin im Alter von zwanzig Jahren nach Wien gezogen, um dort Geschichte zu studieren. Ja. Ausgerechnet Geschichte! Da hätte mich die ungewöhnliche Vergangenheit meiner Heimatregion und meiner eigenen Familie doch ein wenig mehr interessieren können. Aber nein. Bis vor Kurzem hatte ich darauf so gar keine Lust und es sind immerhin lockere fünfzehn Jahre seit Beginn meines Studiums vergangen.
Noch heute ist es so, dass ich Familiengeschichte oder beispielsweise Stammbäume an und für sich zwar faszinierend und manchmal auch erhellend finde. Aber das trifft eigentlich nur zu, wenn andere die Stammbäume machen. Mich selbst hinzusetzen, bei Verwandten nachzubohren, gar in Kirchenbüchern oder Ähnlichem zu schmökern … das hat mich nie gereizt und das ist bis heute so. Geschichte macht mir eben mehr Spaß, wenn sie weit weg von Zuhause stattfindet. So habe ich mich bald in den pompösen Hörsälen der Universität Wien wiedergefunden und Vorlesungen zur Antike im Mittelmeerraum gelauscht. Oder zur Neuzeit im Mesoamerika. Oder zur Moderne in Großbritannien. Nur nichts über meine Heimat und wie ihre Geschichte auch meine Familie und damit mein eigenes Großwerden beeinflusst hat.
Aber wenn du nun glaubst, die Geschichtsvergessenheit dieses jungen Geschichtsstudenten ende hier, liegst du weiter daneben als die Kärntner FPÖ von der Achtung von Minderheitenrechten. Meine slowenische Familienvergangenheit hätte mir zwar kaum egaler sein können. Slawische Sprachen und Gesellschaften an und für sich aber haben mich damals schon fasziniert. Neben meinem Geschichtsstudium bin ich als Frühzwanziger immerhin auf die Idee gekommen, mit Serbokroatisch eine neue Fremdsprache zu lernen!1 Diese Entscheidung sehe ich auch heute noch als eine der besten meines Lebens an. Die Kenntnis dieser Sprache hat mir in den vergangenen zehn Jahren Türen geöffnet, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Ich habe sogar ein Austauschjahr in Zagreb verbracht mit der obskuren Konsequenz, dass ich mich mit Kärntner Slowenen und Sloweninnen heute zwar nicht auf Slowenisch – der Sprache meiner Vorfahren – unterhalten, dafür aber gemeinsam jugoslawische Rocksongs aus den Achtzigerjahren singen kann.
Da drängt sich mir dann doch die Frage auf: Warum war das so? War es einfach nur Trotz? Die innere Abneigung der Heimat gegenüber, die mich davon abhielt, mich tiefgehender mit ihrer Geschichte zu beschäftigen? Das ist zumindest Teil der Erklärung. Als junger Erwachsener hatte ich diese Heimat immerhin gerade erst hinter mir gelassen und hatte nun keine Lust, gleich wieder auf sie zurückblicken. Mich interessierte die große Welt! Die Stadt Wien, die bedeutenden Zentren dieser Erde, vielleicht noch der Balkan. Aber doch nicht dieses kleine Koroška! Oder Ratenče. Oder gar meine eigene Familienvergangenheit.
Das Tragische an all dem sind aber nicht unbedingt meine eigenen Entscheidungen von damals. Immerhin ist doch niemand dazu verpflichtet, sich mit der Geschichte seiner Heimat zu beschäftigen – auch ein junger Geschichtsstudent wie ich nicht. Das Problem ist eigentlich ein viel größeres und führt uns zurück zur Frage der Assimilation. Denn was bedeutet dieses so epochale Wort denn letzten Endes? Es beschreibt doch nichts anderes als die Summe von vielen kleinen Entscheidungen einzelner Menschen, eine Sprache und Kultur zugunsten einer anderen zurückzulassen. In kleinen, meist ganz unbewusst gesetzten Schritten. Die einzelnen Personen tragen dabei freilich keine Schuld für die schwere Last der Geschichte. Man kann der Generation meiner Großeltern in Kärnten nur schwer anlasten, sich für den Weg ins Deutsche entschieden zu haben. Es mag für sie wirklich die einfachste Lösung gewesen sein. Man kann bei aller Selbstkritik – so würzig sie die Einleitung eines jeden Buches auch macht – wohl auch mir nicht ernsthaft anlasten, mich so lange nicht für diese Geschichte interessiert zu haben.
Aber doch bleibt ein bitterer Eindruck von Teilhabe. Auch ich habe da meinen Beitrag zur Germanisierung Kärntens geleistet und diese ewige Deutschtümelei hat dem Land über die Jahrzehnte nun wahrlich nicht gutgetan. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum sich mein Blick auf all das in den letzten Jahren doch verändert hat. Zu einem gewissen Teil hat sich wohl einfach mein Bezug zu Kärnten ganz allgemein verbessert und solche Probleme interessieren mich heute als Resultat mehr. Als junger Erwachsener habe ich vor fünfzehn Jahren nur weg von dort gewollt. Villach ist mir in der Zeit zu eng geworden – sowohl der physische Raum als auch der in den Köpfen der Menschen. Es war ja auch wirklich eine bittere Zeit in der Geschichte Kärntens. Die Ära Jörg Haider war zum Zeitpunkt meines Wegzugs gerade erst zu Ende gegangen und Kärnten nach wie vor eine waschechte Vorreiterregion des modernen Rechtspopulismus für ganz Europa. Keine Tatsache, für die ich damals oder heute sonderlich viel Stolz empfinden könnte.
Nun mag man sicherlich einwenden, dass das Kärnten der 2020er-Jahre nicht so viel besser ist. Möglich. Aber zumindest sehe ich die Dinge heute ein wenig anders. Ich habe die „große weite Welt“ inzwischen gesehen. Zumindest den einen oder anderen Teil von ihr. Vor allem habe ich für mich aber erkannt, dass man den Rest gar nicht unbedingt sehen muss. Mit dieser langsam reifenden Erkenntnis, und ja – vielleicht auch dem Ende einer gewissen Rastlosigkeit – habe ich mich im Laufe der letzten Jahre auch Kärnten wieder angenähert. Mit all seinen schönen Seiten und eben auch all seinen Problemen. Vielleicht habe ich das Land sogar erst jetzt richtig kennengelernt. Nicht als den Ort der Einöde und Einengung, wie ich ihn als Jugendlicher wahrgenommen habe, sondern als Ort der überraschenden Vielfalt und als Ort mit ganz besonderer Geschichte.
Den Punkt darf man hervorheben, denn er hätte mir als...
| Erscheint lt. Verlag | 13.6.2023 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Unterwegs | Unterwegs |
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
| Schlagworte | Europa • Geschichte • Grenzen • Kultur • Minderheiten • Reisen |
| ISBN-13 | 9783754997123 / 9783754997123 |
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