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Zeitenbrüche (eBook)

Sozialrevolutionäre Aufstände in habsburgischen Landen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45515-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeitenbrüche -  Wolfgang Maderthaner
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Soziale Revolten und revolutionäre Erhebungen gehen stets mit Zeitenbrüchen in Ökonomie und Gesellschaft einher und lassen Visionen eines anderen Besseren greifbar scheinen, einer Welt der Gerechtigkeit und Gleichheit im Zeichen eines »radikalen Willens zum Paradies auf Erden« (Ernst Bloch). Wolfgang Maderthaner beleuchtet in diesem Buch fünf heute in Vergessenheit geratene, doch spektakuläre sozialrevolutionäre Aufstände in den habsburgischen Ländern seit dem späten Mittelalter. Das Panorama reicht dabei von der Welt der böhmischen Taboriten des frühen 15. Jahrhunderts über die ungarischen »cruciferi« von 1514, die innerösterreichischen Bauern und Bergknappen von 1525, die Kuruzzen-Guerilla des Fürsten Rákóczi zu Beginn des 18. Jahrhunderts bis zu den polnischen Leibeigenen in Galizien (heute: Ukraine) am Vorabend der Revolution von 1848.

Wolfgang Maderthaner HR, PD Dr. phil., ist Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs i.R. und Präsident des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung.

Wolfgang Maderthaner HR, PD Dr. phil., ist Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs i.R. und Präsident des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung.

Prolog


»Der Bauer trägt das ganze Land / auf dem gebeugten Rücken / muß sich stets tiefer bücken / für Fürst und Pfaffenstand / Je mehr die Herren sich schmücken / je härter drückt die Hand / Da hilft kein zorniger Gott / der Teufel wohnt im Schloß / Da ist des Bauern Not so groß / des Bauern große Not.« So sangen die Schmetterlinge 1976 im ersten Aufzug ihres politischen Oratoriums Proletenpassion, uraufgeführt im stillgelegten Schlachthof St. Marx in Wien-Simmering, im Rahmen der Wiener Festwochen. Eine Art öffentlicher Generalprobe vor ebenso fasziniertem wie enthusiasmiertem Publikum hatte im völlig überfüllten Festsaal meines kleinen niederösterreichischen Heimatstädtchens stattgefunden. Von da an sollte mich die Thematik der (vereinfachend so bezeichneten) Bauernkriege sowie jener sozialen und ökonomischen Umwälzungen, deren Ursache und Folge sie sind, nie mehr ganz loslassen.

Stets ist der Zerfall bestimmter historisch-ökonomischer Formationen, stets ist der Übergang von einem – wie es die französischen Regulationstheoretiker um Michel Aglietta bezeichnen – Produktions- und Regulationsregime zum nächstfolgenden von massiven gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen begleitet, durchsetzt von brachialen Akten kollektiver wie individueller Atrozität, von einer schier endlos scheinenden Abfolge von Krisen und humanitären Katastrophen sonder Zahl. Immer, wenn das Neue, Kommende, konkret bereits Erdachte, Vorstellbare, Geahnte, noch nicht zu vollem Durchbruch gereift, und das Alte, überlebt, anachronistisch, dem Zerfall preisgegeben, noch wirkmächtig bleibt und mit aller Macht seine Dominanz zu behaupten gewillt ist, erschüttern Eruptionen exzessiver Grausamkeit das hergebrachte soziale Gefüge bis in sein Innerstes. Im gegenständlichen Fall steht ein martialisch anmutender, strukturell gewaltbesetzter Transformationsprozess zur Debatte, der am präzisesten wohl mit dem Begriff der ursprünglichen Akkumulation gefasst wird. Von Marx in Anlehnung an ein von Adam Smith erarbeitetes Konzept der previous accumulation entwickelt, von Karl Polanyi in dessen Hauptwerk am englischen Beispiel ebenso brillant wie zwingend dargelegt, bezeichnet der Terminus den Ablauf und Fortgang der Anhäufung von Kapital, nicht als Resultat einer qualitativ neuen Produktionsweise, sondern als deren Ausgangspunkt. Und so gut wie in allen Fällen ist dieser Vorgang mit der Überführung von Gemeinschaftsgütern in privates Eigentum bzw. der Enteignung von vordem gemeinschaftlich bearbeitetem Grund und Boden verbunden – ein Vorgang, der auf »Raub, Diebstahl, Machtmissbrauch« (David Harvey) beruht, mithin auf der Anwendung von politischen, rechtlichen und physischen Zwangsmitteln. Der ökonomische Fortschritt vollzieht sich in Form einer tendenziellen Verelendung und beinahe gänzlichen Entrechtung der bäuerlichen Bevölkerung, es kommt zu massiven Einschränkungen von traditionellen Nutzungsrechten an Wäldern, Weide- und Ackerland, zu förmlichen Massenexpropriationen mit entsprechend weitreichenden sozialen Folgewirkungen.

Wieder und wieder erhebt sich die fronende, hörige, ihrer persönlichen Freiheit enthobene Bauernschaft gegen herrschaftlichen Raub und autoritäre Anmaßung. Ihr zur Seite treten, als militärische, strategische, programmatische Führungskader und Avantgarde, Bergknappen und kleine Gewerken, Teile der städtischen Bürgerschaft, des qualifizierten Handwerks, des niederen Adels; unterbäuerliche Schichten und städtische Plebejer stellen in vielen Fällen das radikale, vorwärtstreibende, wenn auch in seinen Aktionen und Ambitionen häufig ambivalente soziale Element. Ein um das andere Mal wird auf ihr sozialrevolutionäres Aufbegehren mit aller nur erdenklichen Demütigung, Folter, willkürlicher Exekution und massenhafter Hinrichtung reagiert, werden ihre geschändeten, zerrissenen, zu Tode gequälten Leiber zu Abschreckungs- und Demonstrationszwecken an öffentlichen Orten oft wochenlang zur Schau gestellt. Sengend und brennend, Tod und Verderben bringend zieht das Strafgericht der kaiserlichen Söldnerheere über das Land, durch die Dörfer, Städte und Montanreviere. In diesen von wildem, ungezügeltem Furor angetriebenen Strafexpeditionen realisiert sich die ursprüngliche Akkumulation ihrem eigentlichen Sinne nach. Darin erst wird ein neues gesellschaftliches Kapitalverhältnis in seinen ersten Konturen in Gang gesetzt, dadurch erst die soziale Hegemonie und die unermesslichen materiellen Besitztümer von Adel und Kirche langfristig gesichert.

Doch tut sich in dem wie immer widersprüchlich verlaufenden Prozess des Übergangs zu Warenproduktion und Marktwirtschaft sowie der damit ursächlich verbundenen fundamentalen Umwertung aller Werte zugleich auch durchaus Anderes auf: Visionen eines alternativen Besseren, einer Welt der Gerechtigkeit und Gleichheit, jenseits aller vorgegeben und unumstößlich scheinenden Hierarchien von Stand und Geburt. In konkretem Aufruhr und allseitiger Loyalitätsverweigerung manifestiert sich der unbedingte, allumfassende »Wille zum Paradies auf Erden« (Ernst Bloch), wird mit ungeheurem Nachdruck der »ewige« Menschheitstraum eines gottgefälligen irdischen Daseins in Freiheit und Frieden mobilisiert, von aller feudalen Last und Fron, von jeglicher Untertänigkeit der Person, jeglicher Form der verhassten Leibeigenschaft für immer und alle Zeit befreit.

Es scheint in eben diesem Zusammenhang – und nicht allein der zeitlichen Einordnung wegen – zweckmäßig, an den Anfang der vorliegenden Publikation eine Studie über ein chiliastisches Experiment zu stellen, das in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts das feudale Europa in seinen Grundfesten erzittern ließ. Die Häresie der südböhmischen Kommune Tabor, puritanisch ihrer Essenz nach, forderte die unabdingbare, absolute soziale Gleichheit Aller ein und zog, einem Magneten gleich, Visionäre, Utopisten, Apokalyptiker jedweder Schattierung in ihren Bann. Stimuliert von manifesten Erlösungs- und Endzeitphantasien wurde aller bestehenden Gesellschaft im Namen des gerechten und rächenden Gottes der Krieg erklärt, war die innere Organisation des taboritischen Gemeinwesens an den Vorgaben solch permanenter Kriegführung ausgerichtet – sein Schicksal, sein Ruhm und letztlich sein Verhängnis. Unfassliche anderthalb Jahrzehnte vermochte Tabor sich zu behaupten, ganzen fünf von Papst und Kaiser ausgerufenen und organisierten Kreuzzügen wurde in »glorreichen« Schlachten, die den dauerhaften Ruf der in allgemeiner Wehrpflicht stehenden Frauen und Männer der Kommune begründeten, widerstanden.

Ein knappes Jahrhundert später findet, gleichfalls in Konnex mit einem Kreuzzug, der Aufstand der böhmischen Gotteskrieger, ihr apokalyptisch grundierter, in eine widerspruchsfreie Zukunft gerichteter Gesellschaftsentwurf seinen Widerhall in den Weiten der ungarischen Tiefebene. Der erste Medici-Papst hatte seinen gewichtigsten Gegenspieler, den magyarischen Kardinalprimas, mit der Durchführung einer Kampagne zur Wiedergewinnung Konstantinopels beauftragt. Die massenhaft aus den Reihen der agrarischen Unterschichten rekrutierten, nunmehr entsprechend bewaffneten cruciferi (»jene, die das Kreuz nehmen«) werden das heilige Unternehmen in einen fürchterlichen Rachefeldzug, in eine barbarisch anmutende, blutrünstige Jacquerie umschlagen lassen, der ein bedeutender Teil des landbesitzenden Adels zum Opfer fällt. Zeitlich auf die Sommermonate des Jahres 1514 begrenzt, scheitert die Rebellion am vergeblichen Versuch einer Einnahme Timișoaras/Temeswars. Die vom Wojwoden Siebenbürgens, Jan Szapolyai, angeführte Adelsreaktion fällt drakonisch, ja bestialisch aus, die Leibeigenschaft und völlige Rechtlosigkeit der ungarischen Bauernschaft wird »auf ewig« festgeschrieben.

Ganz offensichtlich unter dem Einfluss des ungarischen Aufstands erheben sich die windischen Bauern Kärntens, Krains und der Südsteiermark lediglich ein Jahr später im Zeichen der Stara pravda, des »alten Rechts«, der überbrachten »Gerechtigkeit« – angeleitet offenbar von allgemein geteilten, weithin internalisierten Werten einer »moralischen Ökonomie« (E.P. Thompson), also einer sehr präzisen Vorstellung davon, was rechtens sein müsse und was nicht. Über solche Beschwörung eines idealisierten Vergangenen weist das revolutionäre Aufbegehren der Tiroler, Ennstaler und Salzburger Montanarbeiterschaft im Rahmen des Großen Deutschen Bauernkriegs von 1525 weit hinaus. Es begibt sich im damals »modernsten« Industrierevier ...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Schlagworte 1514 • 1846 • Adamiten • Aufstände • Bauernkrieg • Bergknappen • Böhmen • Cruciferi • Donaumonarchie • Dózsa-Revolte • Erhebungen • Ferenc Rákóczi • Feudalismus • Frühe Neuzeit • Galizien • György Dózsa • Habsburg • Hayduken-Guerilla • Hussiten • Innerösterreich • Jan Žižka • k.u.k. • Mitteleuropa • Österreich • Österreich-Ungarn • Osteuropa • Prokop Holý • Revolten • Revolution von 1848 • Spätmittelalter • Taboriten • Ukraine • Ungarn
ISBN-10 3-593-45515-3 / 3593455153
ISBN-13 978-3-593-45515-0 / 9783593455150
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