Kosmos Mensch (eBook)
464 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-347-78888-6 (ISBN)
Dr. Dieter Spazier, geb. 1934 in Worms am Rh. Ab 1957 in der medizinisch-anthropologischen Schule Viktor von Weizsäckers in Heidelberg. Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Psychotherapeut. Forensischer Psychiater. 1966-1969 Leiter der Psychiatrischen Univ.-Poliklinik Heidelberg. 1971-1985 an der Universität Heidelberg Leiter eines eigenkonzeptualisierten universitätsunabhängigen psychotherapeutischen Beratungszentrums. Gleichzeitig psychiatrische Leitung eines halbstaatlichen Behandlungszentrums (Nowhere-House) Ludwigshafen. 1987-2019 niedergelassener Facharzt in Hamburg. Buchveröffentlichungen: · Grenzübergänge. Psychotherapie als kollektive Praxis (mit J. Bopp). 1975 · Nowhere. Expeditionen in die Unwegsamkeit der Drogenszene (mit F. Theysohn). 1981 · Der Tod des Psychiaters. Die gefährliche Zähmung des Irrationalen - Gedankennachspiel zu einem Kriminalfall. 1982 · Hanglage Süllberg. Roman. 1990 · PsychiaterSein. Karl Peter Kisker - Eine Auswahl seiner Schriften (hrsg. mit W. Machleidt und T. Passie). 2007
Dr. Dieter Spazier, geb. 1934 in Worms am Rh. Ab 1957 in der medizinisch-anthropologischen Schule Viktor von Weizsäckers in Heidelberg. Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Psychotherapeut. Forensischer Psychiater. 1966–1969 Leiter der Psychiatrischen Univ.-Poliklinik Heidelberg. 1971–1985 an der Universität Heidelberg Leiter eines eigenkonzeptualisierten universitätsunabhängigen psychotherapeutischen Beratungszentrums. Gleichzeitig psychiatrische Leitung eines halbstaatlichen Behandlungszentrums (Nowhere-House) Ludwigshafen. 1987–2019 niedergelassener Facharzt in Hamburg. Buchveröffentlichungen: · Grenzübergänge. Psychotherapie als kollektive Praxis (mit J. Bopp). 1975 · Nowhere. Expeditionen in die Unwegsamkeit der Drogenszene (mit F. Theysohn). 1981 · Der Tod des Psychiaters. Die gefährliche Zähmung des Irrationalen – Gedankennachspiel zu einem Kriminalfall. 1982 · Hanglage Süllberg. Roman. 1990 · PsychiaterSein. Karl Peter Kisker – Eine Auswahl seiner Schriften (hrsg. mit W. Machleidt und T. Passie). 2007
Kapitel 1
Theorie und Praxis
Üblicherweise wird Gesundheit mit gesundem Körper und Krankheit mit Dysfunktion oder Läsion des Körpers gleichgesetzt. Geist ist ein davon abgehobenes Drittes. Soweit sich die Medizin damit befasst, besteht Klarheit in Bezug auf den Körper als in Anatomie und Physiologie darstellbare organische Natur. Davon unterschieden ist die Seele, zu der Charakter, Persönlichkeit, Wesen assoziiert werden. In der wissenschaftlichen Psychologie und Psychopathologie finden wir die Prinzipien der Naturwissenschaften und damit auch das Kausalprinzip. Man war stets bestrebt, die Psychiatrie unter den Wissenschaften hoffähig zu machen. Als programmatisch galt Griesingers Satz: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten.“ Das hat bis heute Bestand. Es schien nur eine Frage der Zeit und des wissenschaftlichen Fortschritts, diese naturalen Ursachen zu ermitteln. Die bekannten großen Formen der Psychotherapie (der Begriff wird, was hier grundsätzlich zu sagen ist, sehr unspezifisch und uneinheitlich angewandt) verstehen sich als dem Kausalprinzip verpflichtet. So beanspruchen die Verhaltenstherapie, die Hypnose, aber vor allem die Psychoanalyse, wissenschaftlich fundiert zu sein.
Das nicht Fassbare des Seelischen und das insgesamt als Verhalten und Erleben Erscheinende drücken sich in den vielfältigen Formen des Bewusstseins aus, so in Vorstellung, Überzeugung, Einstellung, Absicht, Urteil, Erfahrung, Verstehen, Gedächtnis, Affektivität, Identität, Selbst, Persönlichkeit des Menschen. Man stellt sich das gern als einen physiko-chemischen Prozess vor. Zwischen einem angenommenen Ursprung (Causa) und der sinnlich wahrnehmbaren Phänomenologie (Verlaufsgeschichte, Syndrom, Erscheinungsbild, Status, Situation) erstreckt sich die je individuelle Geschichte des Menschen nach den Gesetzen der Logik, zuzüglich neuer jeweils für sich zu untersuchender Einflüsse. Sie werden als Modulatoren eines aus dem Anderen hervorgehend gedacht. Das immer Nächstfolgende wird als aus seinen Ursachen heraus Absehbares dargestellt. Bei genauerem Hinsehen vermisst man aber den naturwissenschaftlichen Beweis.
Psychotherapie versteht sich landläufig als Analyse historischer Vorgänge. Von der Erinnerung des Vergangenen wird sich die Wiederbelebung der für Ursachen gehaltenen Konflikte und von der neuerlichen „Durcharbeitung“ deren Lösung versprochen. Man sitzt auf diese Weise unbemerkt zahlreichen Prämissen und Präjudizien auf. Zugleich vertraut man arglos den impliziten Theorien.
Das vorstehend Gesagte ist im Konjunktiv zu verstehen. Im Bereich des Psychischen jedenfalls wehrt sich der kritische Verstand gegen die Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Kausalnexus. Selbst in den Naturwissenschaften, beispielsweise in der Atomphysik oder in der Astrophysik, muss er heute ausdrücklich relativiert werden. Es kommt ihm offensichtlich nur noch eine eingeschränkte Bedeutung zu. Die Kritik wehrt sich gegen eine Dogmatisierung des Kausaldenkens. Eine philosophische Anthropologie geht fehl, wenn sie partialwissenschaftliche Vorstellungen als vollständig ansieht und naiv übernimmt.
Als Normalfall gilt, soweit es jedenfalls Willkürhandlungen betrifft, dass körperliche Funktionen durch zentrale Impulse aktiviert werden, die menschliches Bewusstsein qua Wille und Intention steuern und kontrollieren. Hier erhebt sich die prinzipielle Frage, ob sich im Gehirn als dem zentralnervösen Organ bereits spezifische, d. h. nichtkörperliche Bestandteile zeigen, die dem menschlichen Subjekt zugehören. Die sogenannte Subjektsteuerung hat bekanntlich keinen zentralen theoretischen Ort in der personalen oder anthropologischen Medizin. Das zugehörige wissenschaftliche Substrat der Forschung waren die Psychosomatik und die Psycho-Physik (in ihrem Zentrum, also vor mehr als sechzig Jahren, die Schule Viktor von WEIZSÄCKERS3).
Subjekt ist freilich mehr als bloße Intention, die sich beispielsweise darauf beschränkt, dem Körper Aufträge zu erteilen, um – mangels des tierischen Instinkts – primär die körperlichen Bedürfnisse (d. h. elementar Atmen, Essen und Trinken) zu befriedigen, sekundär sich auch gegen die Unbilden der Natur zu wehren, d. h. sich Unterkünfte zu schaffen, sich zu bekleiden und so Naturgewalten zu überstehen.
Dem Subjekt ist jedoch mehr aufgegeben als das zu leisten, was beim Tier der Instinkt besorgt. Primär schon sind Fühlen und Denken dabei. Nach der Wahrnehmung (Sensorik, Rezeption) wird das Wahrgenommene in Beziehung gesetzt zu Gewusstem und Gewolltem, was, zunächst noch prozessual gedacht, Perzeption und Apperzeption sind. Wahrnehmung und Empfindung wie auch Wissen verknüpft der Mensch zu vorgestellten Zusammenhängen, die ihm in nächstfolgenden Situationen als empirisch bereichertes Wissen hilfreich sind.
Es ist über den Begriff Gemüt nachzudenken. Er wird vorschnell vielfach mit Psyche gleichgesetzt. Aber er umfasst mehr. Hier spätestens stößt man an eine Grenze. Jemand ist harthäutig oder weichherzig, mitleidsvoll oder ungerührt, ablehnend, einfühlend oder aggressiv, egoistisch oder altruistisch. Zum menschlichen Subjekt gehört schließlich auch entscheidend, was es von innen heraus an Bildern und Vorstellungen entwickelt, was phantasiert wird, um es ggf. (nicht notwendig immer) in eigener Produktion als technische und künstlerische Schöpfung den Naturdingen hinzuzufügen. Das menschliche Gemüt bedarf dazu der Anschauung. Von außen beschreiben und verstehen wollende Vorstellung gelingt nicht. Die Grenze ist erst recht überschritten, wenn von Grundbegabungen des menschlichen Wesens wie Freundschaft, Liebe und schöpferischem Geist die Rede ist.
An der aufgezeigten Grenze müssen Materialisten und Neurobiologen ihre Ohnmacht eingestehen. Hier ist nichts mehr abbildbar und messbar, nichts mehr als Leistung des zentralnervösen Organs zu fassen (also des Gehirns als des körperlichen Substrats des kreativen Geistes; V. VON WEIZSäCKER hat, in Unterscheidung vom sogenannten Leistungs-Substrat vom Leitungs-Substrat gesprochen). Hier erweist sich das Postulat, Geist und Gemüt seien Produkte des menschlichen Gehirns, nicht nur als spekulativ, sondern als falsch.
Nichtsdestoweniger hat man wegen der „materialen“ Verschiedenheit Körper und Geist/Seele voneinander unterschieden und den Menschen insoweit bipolar existieren lassen. Es ist eine von der Naturwissenschaft inspirierte Faszination, die dazu geführt hat, dasjenige, das außerhalb des körperlichen Substrats liegt, zum Gegenstand der Betrachtung, Beforschung und Theoriebildung zu machen.
Man darf an dieser Stelle feststellen, dass, was sich einer weitestgehend physiko-chemisch oder chemo-physikalisch erklärbaren Gesetzhaftigkeit fügt, das Somatische ist. Dem steht gegenüber, was dem Menschen ebenso zwingend zugehört, aber der gängigen wissenschaftlichen Forschung und Deutung unzugänglich ist: Geist und Gemüt. Sieht man genauer hin, so ist unter dem Anspruch eines identischen Begriffsverständnisses die Psyche ein allgemeiner Stoff nur in den Bereichen, wo sich „psychische Leistungen“ messen und bestimmen lassen. Die Lehre davon heißt Psychologie. Man möge sich die Mühe machen, als Gesamtrepräsentanz psychologischer Erkenntnisse den Inhalt des vielbändigen Handbuchs der Psychologie4 zumindest einmal anzusehen. Es geht hier um Motivation, Wahrnehmung, Antrieb, Intelligenz, Kombinatorik, Sprachverständnis, Gedächtnis etc. Mitnichten findet sich das sogenannte Unbewusste der Psychoanalyse. Im Grunde geht es um mentale Leistungen. Man denke insbesondere an die Verhaltenslehre, also die Ethologie, die es gleichermaßen in der tierischen Forschung gibt. Es handelt sich definitiv ausschließlich um Psycho-Biologie. Hier wird mit einem Seelenbegriff operiert, der mit Seele nichts zu tun hat. Die Psychotherapie indessen hat auch nichts mit der Seele der Theologie zu tun. Hier zeigt sich ein Dilemma. Denn es ist gefragt, was eigentlich bei Psychotherapie und ihren vielfältigen theoretischen Variationen Psyche meint. Sich auf den in der Psychologie verwendeten Terminus Psyche näher einzulassen, vor allem in der sogenannten Psychoanalyse Sigmund Freuds und ihrer Weiterentwicklung, kann hier nur in die Irre führen. Es ist zu deutlich, dass hier von Beginn an versucht wurde, durch klassisch physikalische Vorstellungen und Begriffe (bis hin zur identischen Übernahme der entsprechenden Bezeichnungen) Psychoanalyse zu einer populärwissenschaftlich verständlichen Form eines naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs zu machen. Psychische Erscheinungen bzw. das, was man davon wahrnimmt oder dafür hält, werden auf die Mechanik, auf die Thermik, auf die Elektrik, auf die Optik oder auf die Strömungslehre...
| Erscheint lt. Verlag | 14.12.2022 |
|---|---|
| Verlagsort | Ahrensburg |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Krankheiten / Heilverfahren |
| Geisteswissenschaften | |
| Medizin / Pharmazie ► Allgemeines / Lexika | |
| Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
| Medizin / Pharmazie ► Studium | |
| Schlagworte | analytische Psychotherapie • Anthropologie • Bewusstsein • Bewusstseinsphilosophie • bipersonale Situation • Bipersonalität • Charakter • Daseinsanalyse • Eigenanalyse • Eigenverständnis • Einander verstehen • erlebnisreaktive Störungen • Fallgeschichte • Fremderfahrung • Fremdverständnis • geistiges Leben • Gesellschaft • Handlungstheorie • Hermeneutik • Ich-Erfahrung • Interpersonalität • Intersubjektivität • Kognitionslehre • Kommunikation • Kommunikative Hermeneutik • kommunikative Situation • Körpersprache • Lebensform • L. Wittgenstein • Medizin • Menschenbild • Mitmenschlichkeit • Neurosen • personale Psychotherapie • personales Miteinander • Persönlichkeit • Philosophische Anthropologie • Praktische Philosophie • Psychiatrie • psychiatrisch • Psychoanalyse • Psychodynamik • Psychopathologie • Psychosen • Psychosomatik • Psychosoziogenese • Psychotherapeut • Psychotherapeutisch • Selbsterfahrung • Sinnfindung • Soziale Interaktion • Sprachspiel • Traumerleben • Übertragungsebene • Unbewusstes • Verdrängen • Verhaltenstherapie • Weltverständnis • Zwischenmenschliche Beziehung • Zwischenmenschlichkeit |
| ISBN-10 | 3-347-78888-5 / 3347788885 |
| ISBN-13 | 978-3-347-78888-6 / 9783347788886 |
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