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Amerikanisches Philosophieren (eBook)

Pragmatisten, Polytheisten, Tragiker
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
192 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61295-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Amerikanisches Philosophieren -  Ludwig Marcuse
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Lösungen statt Erlösung; Einmischung statt Einsamkeit ­ so lauten einige der Formeln, auf die Marcuse amerikanisches Denken bringt. Ein aufschlußreiches, gut verständliches, elegant geschriebenes Buch über Amerikanisches Philosophieren mit erstklassigen Portraits von Charles S. Peirce, William James, Henry Adams und John Dewey.

Ludwig Marcuse, geboren 1894 in Berlin, emigrierte 1933 wie viele deutsche Intellektuelle nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich und 1940 in die USA. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger, später lehrte er als Professor für Philosophie und Deutsche Literatur an der University of Southern California in Los Angeles. Nach der Emeritierung kehrte er 1963 nach Deutschland zurück. Er starb 1971 in München.

Ludwig Marcuse, geboren 1894 in Berlin, emigrierte 1933 wie viele deutsche Intellektuelle nach Sanary-sur-Mer in Südfrankreich und 1940 in die USA. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger, später lehrte er als Professor für Philosophie und Deutsche Literatur an der University of Southern California in Los Angeles. Nach der Emeritierung kehrte er 1963 nach Deutschland zurück. Er starb 1971 in München.



Es scheint so klar zu sein, was ‹amerikanisch› ist – wenn es nur auch wahr wäre. Eine Wendung wie ‹Der Mann ist eine Million wert› wird von allen gelernten und ungelernten Völker-Psychologen heute ohne Besinnen und mit höchster Sicherheit als charakteristisch amerikanisch diagnostiziert werden. Doch ist sie im achtzehnten Jahrhundert von KANT, im neunzehnten von HEINE als charakteristisch britisch bezeichnet worden. KANTS ‹Anthropologie in pragmatischer Hinsicht› enthält den Satz: ‹Der kaufmännische Geist zeigt auch gewisse Modifikationen seines Stolzes in der Verschiedenheit des Tuns und Großtuns. Der Engländer sagt: ‚Der Mann ist eine Million wert‘, der Franzose: ‚Er besitzt eine Million‘.› Zwei Generationen später schrieb HEINE (in der ‹Lutetia›) ähnlich: in England werde ‹das Verdienst eines Mannes nur nach seinem Einkommen abgeschätzt, und how much is he worth heißt buchstäblich: ‚wieviel Geld besitzt er‘›. Das Festland sah also im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert auf England, wie Europa im zwanzigsten auf Amerika sieht.

Das lehrt zweierlei. Einmal, daß dieses berüchtigte ‹Der Mann ist eine Million wert› weder eine englische noch eine amerikanische Eigenschaft verrät, sondern nur das Erstaunen der Anderen über diesen Satz, die Reaktion auf ein Anderssein; erst auf England, dann auf Amerika. Die unglückliche Neigung zur Verfestigung zeitlich begrenzter Reaktionen in Volks-Charaktere schuf zu einem guten Teil die Völker-Psychologie. Sie hat eine lange Tradition, die in den Theorien vom Volks-Geist (HEGEL) und der Kultur-Seele (SPENGLER) einen pseudo-wissenschaftlichen Ausdruck fand. Der Satz ‹Der Mann ist eine Million wert› zeigt dann aber noch mehr als die Verwandlung der Reaktion auf die Fremdheit in einen nationalen Zug des Fremden. England war im neunzehnten Jahrhundert dem europäischen Kontinent, Amerika im zwanzigsten dem ganzen Europa als industrielle Gesellschaft voraus – auch in der Entwicklung vieler Symptome in ihrem Gefolge. Man erkannte aber damals nicht und erkennt auch heute noch nicht, daß, was einst ‹britisch› genannt wurde und später ‹amerikanisch›, keine nationale Qualität anzeigt, sondern den Charakter einer bestimmten Entwicklungs-Stufe in einem übernationalen gemeinsamen Prozeß.

Die Psychologie ist dabei, die auf ein Subjekt aufgehefteten ewigen Eigenschaften aufzugeben. Die Völker-Psychologie ist resistenter. Sie ist nicht nur ein Produkt von Irrtümern, vor allem von Affekten; bisweilen ist gar nicht mehr aufzuklären, ob das Verkennen einen Haß oder der Haß ein Verkennen in die Welt gesetzt hat. Die Dogmen der Völker-Psychologie sind auch deshalb so zäh, weil sie das große Reservoir der Kriegs-Propaganda sind, wie sie zu einem guten Teil als Geschöpfe von Kriegs-Psychosen in die Welt kamen.

Die europäischen Deuter Amerikas haben es nun in dreihundert Jahren nicht immer nur mit einem Land zu tun gehabt, das industriell entwickelter war und außerdem behaftet mit allen Übeln, welche diese Entwicklung mit sich brachte. Es war davor, im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, weniger entwikkelt, materiell und kulturell. So gewann dasselbe Wort ‹Barbarei› in der Anwendung auf Amerika eine zwiefache Bedeutung: erst koloniale, dann überzivilisierte Barbarei. Zuerst legte man dem Lande Amerika als barbarisch aus, was nur die Reaktion des entwickelten Mutterlandes auf die (abhängige, dann unabhängige) Kolonie war. Amerika war damals, von London und Paris aus gesehen, hinterwäldlerisch. Und man nannte, ahnungslos, das Hinterwäldlerische: amerikanisch.

Die Idee vom völligen Anderssein der Neuen Welt hielt sich dann mehr als anderthalb Jahrhunderte – auch bei denen, welche diese Vorstellung nicht zum Kriegsdienst einzogen. Der französische Staatsmann TARDIEU, ein Freund CLEMENCEAUS, erfaßte das unfaßbare Amerika in einem Zitat. 1805 hatte ein Berichterstatter über ‹die wilden Stämme am Missouri› die Sentenz geprägt: ‹Es scheint das herrschende Prinzip der Amerikaner zu sein, nichts so zu machen wie wir.› Das fand TARDIEU noch im Jahre 1927 bestätigt.

In der kriegerischen Völker-Psychologie wurde das Anderssein – zur Unkultur. Obwohl die Rückständigkeit im Beginn und das heutige technische Vorneweg-auf-dem-Weg-zur-Hölle einander entgegengesetzt sind, war die Anklage, die gegen das eine wie das andere erhoben wurde, fast die gleiche. Amerika war im Beginn das Chaos vor dem ersten Tag – und später so geplant, daß die Natur (die nicht-menschliche und die menschliche) aus der Welt heraus-geplant war. Zuerst und zuletzt: dieses Amerika ist unmenschlich.

Die Gehässigkeit, die neben dem Mißverständnis an diesen Verzeichnungen mitgewirkt hat, trieb die giftigsten völker-psychologischen Blüten. Den grellsten Ausdruck fand der Psychologe C.G. JUNG. Nach ihm sind die Amerikaner Europäer mit den Manieren von Negern und den Seelen von Indianern – kurz: keine Europäer, sondern undefinierbare Exoten. In unserer Zeit ging es immer weiter mit dem Willen zur Verfremdung. Der Amerika-Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts lebte sich aus in Sätzen wie: ‹Die Vereinigten Staaten sind die Heimat des Zwanges, so wie die Büchse der Pandora die Heimat aller Übel ist.›

Die Motive, die mehr als zwei Jahrhunderte hindurch Europäer getrieben haben, das Bild vom völlig anderen Menschen, Amerikaner genannt, zu zeichnen, sind zahllos. Es lassen sich aber vier stets wiederkehrende Triebfedern aufzeigen: Amerika diente (erstens) als Sündenbock, (zweitens) als Projektion nationalen Selbst-Hasses; und manche Amerika-Karikatur war eine Reaktion auf (drittens) einen grotesken amerikanischen Narzißmus, (viertens) auf einen ahnungslos-verstiegenen europäischen Amerika-Enthusiasmus.

Als Sündenbock ist jeder Mitmensch, jedes Mit-Volk brauchbar – am brauchbarsten aber der Schwächste und der Stärkste: der, welcher sich nicht wehren kann; und der, gegen den man sich nicht wehren kann.

Amerika, das mächtige, glänzende, beneidete, ist als Sündenbock erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges so recht zu verwenden; und wurde um so verwendbarer, je größer die Macht-Differenz zwischen ihm und der übrigen Welt geworden ist. Der Sündenbock-Charakter zeigt sich vor allem in der Fratze, die das Wort ‹Amerikanismus› geworden ist; alle großen europäischen Übel werden auf die Infektion mit dem furchtbaren Bazillus Americanus zurückgeführt.

Verborgener ist ein zweiter seelischer Mechanismus, der das Amerika-Bild geschaffen hat: ein europäischer Selbst-Haß, der sich nach außen gegen das Nicht-Selbst Amerika richtet. Selbst-Haß ist nicht immer ein pathologisches Phänomen; wer in sich selbst Hassenswertes haßt, ist gerade besonders gesund. Man kann aber auch, im Haß gegen sich oder das eigene Volk, Entscheidendes verfehlen. Vielleicht haben die Deutschen den nationalen Selbst-Haß weiter getrieben als irgendeine Nation: zum Beispiel in HÖLDERLIN und NIETZSCHE. Wenn HÖLDERLIN am Ende des ‹Hyperion› den Deutschen vorwirft, sie seien keine Menschen, nur Fragmente – Tischler oder Professoren oder Soldaten –, so traf er damit nicht die Deutschen, sondern den Menschen im Beginn des Zeitalters der Spezialisierung … ein übernationales Schicksal.

Dieser patriotische Selbst-Haß wird ein falsches Bild vom eigenen Volk schaffen; aber es gibt nur wenige HÖLDERLINS und NIETZSCHES, die es aushalten, gegen die Heimat zu leben. Häufiger wird dem gehaßten Selbst ein gehaßter Fremder untergeschoben; der nationale Selbst-Haß pervertiert zum Haß gegen irgendein ‹verworfenes› Volk. ‹Amerika› ist so auch ein Angriff, ein sehr verhüllter, gegen die eigenen Sünden; eine feige – Selbstbezichtigung. Der Anti-Amerikanismus ist auch eine geheime europäische Anklage gegen sich – eine Ich-Spaltung, die vorgibt, der Richter und der Verurteilte seien zwei … und der Verurteilte wird ‹Amerika› genannt. Sie sind eins.

Es ist das schlechte Gewissen Europas, das sich im sogenannten amerikanischen Materialismus üppig auslebt. Nicht, als wäre es nicht wahr, daß die Amerikaner hinter dem Dollar herjagen. Nur soll diese Unterstreichung verdecken, daß die Europäer ebenso hinter dem Pfund, dem Franc und der Mark her sind.

Nicht weniger stark als die Suche nach dem Sündenbock und die Verwandlung des europäischen Selbst-Hasses in Amerika-Haß haben zwei Amerika-Idole das Anti-Amerika-Bild hervorgerufen. Die amerikanische Selbst-Stilisierung als das Erwählte Volk Gottes und eine europäische Ahnungslosigkeit, ja: ein europäischer Masochismus haben Amerika als Erlöser propagiert. Die Propaganda rief dann jene Reaktionen hervor, die nichts dagegenzusetzen wußten als Verteufelungen.

Die Europa-Müdigkeit kleidete sich immer wieder in Amerika-Begeisterung. Und wie die Hasser nicht sahen, daß die Kolonie selbstverständlich viele Errungenschaften noch nicht hat, die das Mutterland besitzt, so sahen die Amerika-Verliebten nicht, daß die Kolonie selbstverständlich viele angenehme Dinge noch hat, welche die entwickeltere Zivilisation bereits zerstören mußte; zum Beispiel die lockere Regierung eines Landes, das keine gefährlichen Feinde hatte und keine drückenden Steuern...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Amerika • Denken • Geschichte • Philosoph • Philosophiegeschichte • Portraits • Pragmatismus
ISBN-10 3-257-61295-8 / 3257612958
ISBN-13 978-3-257-61295-0 / 9783257612950
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