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Reverie in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie -  Melanie Kalb

Reverie in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (eBook)

Beziehungsaufbau fördern, unbewusste Konflikte erforschen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
133 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042336-7 (ISBN)
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Reverien haben bislang nur einen geringen Stellenwert in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen. In den Reverien des Therapeuten zeigt sich die unbewusste Kommunikation zwischen Patient und Therapeut und der gemeinsam geschaffene Erfahrungsraum. Reverien ermöglichen es, den Patienten emotional vor jedem Verstehen kennenzulernen und mit ihm aus diesen Reverien heraus zu sprechen, um unbewusstes Material erfahrbar und für den therapeutischen Prozess nutzbar zu machen. Anhand von Fallbeispielen wird Reverie in diesem Buch nicht nur als passiver Verstehenszugang, sondern auch als aktive Behandlungstechnik verstanden, die dem Ziel dient, durch ein Verstehen der jungen Patienten die therapeutische Beziehung zu fördern und gemeinsam unbewusste Konflikte zu erforschen.

Melanie Kalb ist Diplom-Sozialpädagogin und Psychologin (M. Sc.). Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (TP und AP) ist sie in eigener Praxis sowie in einer kommunalen Jugend-, Familien- und Erziehungsberatungsstelle tätig.

Melanie Kalb ist Diplom-Sozialpädagogin und Psychologin (M. Sc.). Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (TP und AP) ist sie in eigener Praxis sowie in einer kommunalen Jugend-, Familien- und Erziehungsberatungsstelle tätig.

3 Reverie – Stand der Wissenschaft


Nachfolgend möchte ich einen Überblick über theoretische Konzeptionen zum Thema Reverie geben. Ausgehend von den wegweisenden Überlegungen Bions werden auch die Konzeptionen und Definitionen neuerer Autoren dargestellt, wobei ich mich hier hauptsächlich auf Da Rocha Barros, Ferro und Ogden beziehe, da diese sehr unterschiedliche Auffassungen zu Reverien haben.

3.1 Das Reveriekonzept von Bion


Ausgehend von den theoretischen Grundlagen von Klein (1946) zum Mechanismus der projektiven Identifikation entwickelte Bion (2013a) das Konzept der Reverie. Wenn eine Mutter ihr neugeborenes Baby im Arm hat und es ansieht, ist der Blick der Mutter meist vollständig auf ihr Baby gerichtet und sie scheint sehr in ihr Kind versunken zu sein. Die Mutter sieht ihr Baby an und versucht zu erahnen, wie es ihm geht und ob es etwas benötigt. Diesen träumerischen Zustand der Mutter bezeichnet Bion (2013a) als »Reverie«. Ein Begriff, der von Breuer (1893) geprägt wurde, in dem er Reverie als einen hysterischen, hypnoiden Zustand beschreibt. Um den Zustand während der Reverie zu verdeutlichen, verwendet er den Begriff »Wachtraum«.

Bion (2013a) definiert Reverie als einen Geisteszustand der Mutter, der die Befindlichkeiten des Kindes wahrnimmt, unverdauliche, bedrohliche Anteile (»Beta-Elemente«) des Kindes verarbeitet und sie ihm in einer akzeptablen, weniger bedrohlichen Form (»Alpha-Elemente«) zurückgibt, unabhängig davon, ob sie sich für das Kind gut oder schlecht anfühlen. Dadurch macht sie diese über geeignete Worte, Emotionen, Gesten oder Handlungen für ihr Kind psychisch verfügbar, sodass das Kind die Erfahrung macht, dass bedrohliche Affekte positiv reguliert werden können. Dadurch werden die selbstregulativen Fähigkeiten des Kindes angeregt. Das Kind erfährt gehalten zu werden in der gemeinsamen Reverie, was eine angenehme und beruhigende Atmosphäre schafft. Reverie ist Bions Meinung nach ein Faktor der Alpha-Funktion der Mutter. Die Alpha-Funktion wurde von ihm als die Art und Weise definiert, wie emotionale Erfahrungen für Traumgedanken, unbewusstes Wachdenken, Träume und Erinnerungen transformiert werden. Bion (2013a) beschreibt, dass die Alpha-Funktion zuerst durch die Träumerei der Mutter zur Verfügung gestellt wird und das Kind sie dann im Laufe der Entwicklung selbst nutzen kann.

Seiner Ansicht nach unterscheiden sich im Schlaf auftretende emotionale Erfahrungen nicht von denen des Wacherlebens. Freud beschrieb, dass Träumen den Schlaf bewahrt (Freud, 2010). Nach Bion (2013a) bedeutet ein Versagen der Alpha-Funktion, dass der Patient nicht träumen und daher nicht schlafen und nicht aufwachen kann.

Transformation, seiner Meinung nach die zentrale Funktion von Reverie, bedeutet für Bion, dass die Idee einer Aussage (der wahre Kern) zuerst als innere Anmutung verspürt wird, die sich dann zu Gedanken entwickelt, die dem Patienten dann als sprachliche, zeichenhafte oder literarische Äußerungen übermittelt werden können. Das Forschen nach der ursprünglichen, subjektiven Wahrheit (»origin«) ist damit ein zentrales Element der Psychoanalyse (Bion, 2009).

In seinem Buch »Lernen aus Erfahrung« fokussiert Bion (2013a) sich auf die Mutter-Kind-Beziehung. Im Speziellen auf die Fähigkeit der Mutter zur Reverie als Schlüsselelement in der Modulation des Gefühlsstroms, dem das Kind im Inneren und Äußeren seines Körpers ausgesetzt ist. Die Grundlage von Reverie ist die Alpha-Funktion, die die Sinneseindrücke in Alpha- Elemente umwandelt und somit Material generiert, über das mittels Traumgedanken nachgedacht werden kann. Dabei entsteht eine erste Kontaktschranke, die den Säugling vor dem Überflutet-Werden von unbewussten Fantasien über die äußere Welt und gleichzeitig die inneren Gefühle vor der Überwältigung durch realistische Sichtweisen schützt, damit die »harte« Realität nicht ungefiltert auf die Kinder prallt. Sinnesreize und -eindrücke werden durch Traumgedanken zu emotionalen Erfahrungen umgewandelt. Da das träumerische Denken eine Haltefunktion beinhaltet, wird eine erste Frustrationstoleranz ermöglicht, sodass die Abwesenheit von »etwas« besser ausgehalten werden kann. Durch die Fähigkeit der Mutter zur Reverie kann der Säugling nach Bion (2013a) mit dem abwesenden Objekt (Mutter) innerlich in Verbindung bleiben.

Wenn die Alpha-Funktion gestört ist, führt dies zu einer Art psychischer »Verdauungsstörung«, wodurch nicht Alpha-‍, sondern Beta- Elemente produziert werden, die im Erleben als »unverdaute Fakten« empfunden werden (Bion, 2013a). Eine Möglichkeit des Säuglings, darauf zu reagieren, ist die Evakuation der Beta-Elemente durch projektive Identifikationen. Die Reverie der Mutter stellt dem Säugling ihre Alpha-Funktion zur Verfügung, was es ermöglicht, Beta-Elemente nicht evakuieren zu müssen, sondern sie in Alpha-Elemente umzuwandeln, die dann genutzt werden können. Dieser Prozess ist in der Regel erst mit etwas zeitlicher Verzögerung und nicht direkt feststellbar. Nach und nach lernt der Säugling dann seine eigene Alpha-Funktion zu nutzen.

Für Bion (2013a) ist es notwendig, dass Affektzustände und Erfahrungen zunächst schlafend oder im Wachzustand geträumt werden. Erst dadurch werden aus dem Rohmaterial mental repräsentierbare psychische Gebilde, über die man nachdenken oder sprechen kann. Ich erinnere mich auch gut daran, dass ich an den ersten Tagen, die ich meinen Führerschein hatte, immer Angst hatte, das Auto in die Garage zu fahren. Erst als ich nachts träumte, dies zu tun, konnte ich es dann am nächsten Tag umsetzen.

Die früheste Form des Traums ist für Bion (2013a) das Füllen einer ängstigenden Leere durch eine innere Imagination der Brust, um die temporäre Abwesenheit der Befriedigung besser ertragen zu können. Der Säugling verknüpft seine Unlustgefühle mit einem beruhigenden inneren Bild der Brust, um nicht mehr der namenlosen Angst ausgeliefert zu sein.

Ob die Mutter in der Lage zur Reverie ist, also ungute Gefühle des Säuglings in ihre Psyche aufzunehmen, sie sich anzuschauen und darüber nachzudenken, hängt nach Bion (2013a) von ihrer Fähigkeit ab, Frustrationen so lange auszuhalten, bis sie in der Lage ist, einen Sinn herzustellen und diesen eine Bedeutung zu verleihen. Dies nennt er Containing.

Nach Lagos (2007) nimmt das Container-Contained-Modell an, dass Patient und Therapeut die sehr frühe Beziehung zwischen Mutter und Baby quasi wiederholen bzw. nachahmen. Der Patient projiziert dabei seine unbewussten Themen und unguten Gefühle in den Therapeuten, der diese wiederum mithilfe von Reverie contained und verarbeitet. Das analytische Setting an sich wird als Container für das gesehen, was in ihm passiert. Die Erfahrung des Containments wird ihrer Ansicht nach an sich als heilend gesehen.

Ausgehend von den Überlegungen Bions (2013a) wurde das Reveriekonzept weiterentwickelt und auf die Beziehung zwischen Therapeut und Patient übertragen, weswegen ich diese neuen Entwicklungen im nachfolgenden Kapitel vorstellen möchte.

3.2 Neuere Konzepte: Da Rocha Barros, Ferro, Ogden


Je nach Autor gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, was unter Reverie verstanden wird. Jüngere Autoren verwenden den Begriff Reverie breiter als ursprünglich von Bion (2013a) angedacht. Wenn heute von Reverie gesprochen wird, wird sich dabei auf traumähnliche Zustände des Therapeuten bezogen, die zu Transformationen im Patienten führen sollen, sodass der Patient Gedanken träumen kann, die er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht selbst träumen kann. Das Reveriekonzept hat sich verändert hin zu der Auffassung, dass es sich bei Reverien um einen speziellen Zustand des Therapeuten handelt, der beispielsweise in einer laufenden Behandlungsstunde auftritt. Während es nach Bions (2013a) Auffassung erst viel später im Prozess feststellbar ist, ob Reverien stattgefunden und somit Veränderungen angestoßen haben, arbeiten neuere Konzepte mit bzw. in Reverien im Hier und Jetzt (Ogden, 2001).

Reverie wird unter anderem beschrieben als ein im Therapeuten plötzlich auftretendes, traumähnliches, starke emotionale und affektive Elemente enthaltenes Bild, genannt Piktogramm (Ferro, 2012) bzw. affektives Piktogramm (Da Rocha Barros & Da Rocha Barros, 2011). Für Da Rocha Barros (2000) enthalten die Elemente dieser Bilder starke expressive-evokative Elemente. Das bedeutet, dass die Elemente beispielsweise impulsiv, unreflektiert oder spontan sind. Sie betrachten die affektiven Piktogramme des Therapeuten, ähnlich der Analyse von Traumsymbolen, als ersten Schritt in einem transformativen Prozess.

Da Rocha Barros und Da Rocha Barros (2011) sowie Ferro (2012) schlagen vor, dass...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2023
Zusatzinfo 1 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Psychoanalyse / Tiefenpsychologie
Schlagworte Analytische Therapie • Behandlungstechnik • Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie • Psychodynamische Psychotherapie • Tiefenpsychologie
ISBN-10 3-17-042336-3 / 3170423363
ISBN-13 978-3-17-042336-7 / 9783170423367
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