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Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten (eBook)

Die Möglichkeiten der Literatur

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27824-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten - Peter von Matt
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Nur im Detail erkennt man die Wunder der Literatur: Peter von Matts Einladung, lesend die Welt neu zu entdecken.
Wer erfahren will, wie Literatur einen anderen Blick auf die scheinbar vertraute Welt richtet, der wende sich an Peter von Matt. Noch im unscheinbaren Detail eines Textes entdeckt er eine Idee, neu zu begreifen, was sich oft schwer auf den Punkt bringen lässt: Woher kommt die Lust zur Verschwendung? Wie funktioniert Dummheit? Was hat es mit Familiengeheimnissen auf sich? Große Literatur, von Shakespeare, Goethe und Chamisso etwa, bietet dafür reichlich Anschauungsmaterial, aber auch in der »Zauberflöte« oder im »Struwwelpeter« kann man fündig werden. Noch in der knappen Form des Essays entfaltet Peter von Matt ganze Welten - der Verführung, immer weiterzulesen, ist da kaum zu widerstehen.

Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, war bis 2002 Professor für Germanistik an der Universität Zürich. Er ist Mitglied verschiedener Akademien. 2014 wurde er mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet. Er lebt in Zürich. Bei Hanser erschienen zuletzt: Das Kalb von der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz (2012), Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur (2017) und Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. Die Möglichkeiten der Literatur (ET: 20.02.23).

Im Streit der Fakultäten


Über Zwietracht und Einklang der Natur- und Geisteswissenschaften

Ordnung muss sein. Zu den Leidenschaften des Menschen gehört das Bedürfnis, die Dinge der Welt zu klassifizieren. Die britische Armee zum Beispiel teilt alle Bäume in drei Arten ein: pine trees, palm trees und trees with a bushy top — Tannenbäume, Palmbäume und Bäume mit einem buschigen Wipfel. Das reicht für die gegenseitige Verständigung bei kriegerischen Aktionen. Demgegenüber kannte und benannte Carl von Linné schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts 7700 Pflanzenarten. Das System der englischen Armee erscheint also etwas schlicht. Es ist aber immer noch differenzierter als unsere geläufige Ordnung der Wissenschaften. Diese kennt zwei Sorten: Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Auch sie reichen für die gegenseitige Verständigung bei kriegerischen Aktionen. Wenn es zum Beispiel um Geld geht.

Da die Klassifizierung eine grundlegende Tätigkeit aller Wissenschaften ist, richtet sie sich besonders gern auf deren eigene Vielfalt. In der Ordnung der Disziplinen wird daher die Wissenschaftsgeschichte anschaulich. Diese Ordnung hat immer eine Tendenz zur Hierarchie, und wo sich eine Hierarchie der Wissenschaften herausbildet, steht sie in Verbindung mit der politischen Macht. Dass die Philosophie jahrhundertelang als Ancilla theologiae galt, als Magd der Theologie, hing mit der Macht der Kirche zusammen. Immanuel Kant hat diese Verflechtungen in seiner späten Schrift Der Streit der Fakultäten scharfsinnig analysiert. Damals galt an allen Universitäten die traditionelle Unterscheidung zwischen drei oberen Fakultäten und einer unteren Fakultät. Die drei oberen waren die theologische, die juristische und die medizinische, die untere war die philosophische Fakultät. Diese letztere umschloss allerdings alles, was wir heute zu den Geistes- und Naturwissenschaften zählen. Kant schreibt:

»Die philosophische Fakultät enthält nun zwei Departemente, das eine der historischen Erkenntnis (wozu Geschichte, Erdbeschreibung, gelehrte Sprachkenntnis, Humanistik mit allem gehört, was die Naturkunde von empirischem Erkenntnis darbietet); das andere der reinen Vernunfterkenntnisse (der reinen Mathematik und der reinen Philosophie, Metaphysik der Natur und der Sitten) und beide Teile der Gelehrsamkeit in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander.«

Von einer kategorialen Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften kann da keine Rede sein. Die empirische Naturforschung bildet eine Einheit mit Geschichte und Sprachwissenschaft. Dass die philosophische Fakultät aber der theologischen, der juristischen und der medizinischen untergeordnet ist, hängt damit zusammen, so erläutert Kant, dass diese drei ein Instrument für die Regierung bilden, um die Untertanen im Zustand der Zufriedenheit zu erhalten. Die Rechtsprechung sichert den Menschen ihren Besitz, die Medizin sichert ihre Gesundheit und die Theologie zeigt ihnen den Weg in das ewige Leben. Das entspreche den drei innigsten Interessen der Bevölkerung. Deshalb wacht die Regierung scharf über die oberen Fakultäten, während die untere Fakultät treiben mag, was sie eben will.

Wir alle kennen diese alte Einteilung aus den ersten Versen von Goethes Faust: »Habe nun, ach! Philosophie, / ​Juristerei und Medizin, / ​Und leider auch Theologie! / ​Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.« Wobei Faust provokativ die Hierarchie umkehrt und die untere Fakultät, die philosophische, zuerst nennt und die erste der oberen Fakultäten, die Theologie, zuletzt. Er attackiert also die installierte Hierarchie der Disziplinen. Allerdings nur, um gleich darauf das Ganze zu verwerfen. Diese Wissenschaften taugen allesamt nichts. Man müsste sich kopfvoran ins Herz der Welt stürzen können, um in einem einzigen ungeheuren Erkenntnisakt das Ganze zu begreifen. Das wirkt etwas pubertär, aber das Faust-Projekt war ein Symptom des wissenschaftlichen Umbruchs. Was in den Jahren, als Goethe daran arbeitet, im Bereich der Chemie und der Physik passiert, in der Erforschung der Elektrizität, aber auch in der Erkenntnistheorie und der Geschichtsphilosophie, ist ungeheuer. Und doch denkt niemand daran, den wissenschaftlichen Kosmos aufzuspalten, den Apfel der Erkenntnis in zwei Hälften zu teilen, die eine für Adam, die andere für Eva. Die Romantiker kultivieren vielmehr das Ineinander von Physik und Poesie, von Elektrizität und Metaphysik. Daraus konnte auf die Dauer allerdings so wenig werden wie aus Fausts Kopfsprung. Neuordnungen wurden dringlich.

Eine der brillantesten legte gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts der Franzose Auguste Comte vor. Sein Wurf bestand darin, dass er eine neue Klassifizierung der Wissenschaften mit einem geschichtstheoretischen Modell verknüpfte. Die Menschheit durchläuft drei Phasen: das Zeitalter der Religion, das Zeitalter der Metaphysik und das Zeitalter der positiven Wissenschaft. Dieses ist jetzt angebrochen. Religion und Philosophie sind also überwunden, und Comte kann die verbleibenden Wissenschaften sortieren. Er ordnet sie vertikal, wobei jede Disziplin auf der vorherigen aufbaut. Die Basis ist die Mathematik, auf ihr ruht die Astronomie, auf dieser die Physik, darauf die Chemie, auf ihr die Biologie, und die Krone, die alles überdacht, ist die Soziologie, die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Auguste Comte hat den Begriff Soziologie überhaupt erst lanciert. Methodische Bedingung ist auf allen Ebenen die Arbeit mit dem unbestreitbar Faktischen, dem Gegebenen, lateinisch positum. Daher der Begriff Positivismus, der zugleich eine Parole war.

Aber auch hier gibt es keine Polarisierung der Wissenschaften. Der Apfel der Erkenntnis bleibt unzerteilt. Erst gegen Ende des Jahrhunderts geschieht der große Schnitt. Wilhelm Dilthey installiert mit dem neuen Begriff der Geisteswissenschaften das fundamentale Gegenüber zweier wissenschaftlicher Kulturen. Und so, The Two Cultures, werden sie seit C. P. Snows berühmtem Buch von 1959 denn auch weltweit genannt.

Der Akt ist so gewaltsam wie das von Kant beschriebene System der Fakultäten oder Auguste Comtes Trick mit den drei Epochen. Klassifizierungen werden nie vorgefunden, Klassifizierungen werden gemacht. Wer sie als naturgegeben betrachtet, begeht einen Fehler. So aber, als willkürlich gesetzte, werden sie auf neue Weise interessant.

Ich greife ein Ereignis heraus, das nur selten im vorliegenden Zusammenhang betrachtet wird. Ein Jahr vor seinem Tod hat Heinrich von Kleist den folgenden kleinen Text veröffentlicht. Er nennt ihn Fragment: »Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.«

Das ist ein exemplarischer Akt der Klassifizierung. Und er betrifft gleich alle Menschen. Die Kommentatoren sind vorwiegend der Meinung, Kleist wolle hier die Wissenschaftler von den Künstlern unterscheiden. Nun bilden aber Wissenschaftler und Künstler zusammengenommen nur einen kleinen Teil der ganzen Menschheit. Die Aussage ist jedoch eine übergreifend anthropologische. Als solche betrifft sie auch die wissenschaftlich Tätigen, bei denen es folglich ebenfalls beide Klassen geben muss, jene, die sich auf eine Metapher, und jene, die sich auf eine Formel verstehen. Damit umreißt Kleist fast hundert Jahre vor Dilthey die Trennung in zwei wissenschaftliche Kulturen.

Die Formel und die Metapher, je als ein Grundakt der Erkenntnis — kann man das überhaupt gelten lassen? Ist denn die Metapher nicht der Inbegriff des Verwaschenen, eine diffuse Aussage, die überdies im Verdacht steht, alles zu beschönigen? Metaphern, heißt es, sind etwas für lyrische Seelen, die lieber fühlen als denken. Das ist ein Irrtum. Die Metapher ist eine hochkomplexe intellektuelle Operation mit einem Effekt von geschliffener Präzision. Als Kennedy seine Rede in Berlin hielt — ich hörte sie damals live am Radio — und unerwartet ausrief: »Ich bin ein Berliner«, schien die Stadt im Bruchteil einer Sekunde zu explodieren....

Erscheint lt. Verlag 20.2.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Chamisso • Essays • Goethe • Haydn • Literatur • Literaturgeschichte • Mozart • Shakespeare • Struwwelpeter • Textsammlung • Wissenschaft
ISBN-10 3-446-27824-9 / 3446278249
ISBN-13 978-3-446-27824-0 / 9783446278240
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