Geistesarbeit (eBook)
658 Seiten
Suhrkamp Verlag
9783518772843 (ISBN)
Der Ausdruck »Geisteswissenschaftler« evoziert das Bild von einsamen Menschen am Schreibtisch, deren ganze Aufmerksamkeit der versunkenen Auseinandersetzung mit komplizierten Texten gilt. Aber stimmt dieses Bild? Nein, sagen Steffen Martus und Carlos Spoerhase, die in ihrem Buch im Rückgriff auf zahlreiche unpublizierte Quellen die Praxis der Geistesarbeit am Beispiel Peter Szondis und Friedrich Sengles untersuchen. Sie zeigen, was Forschen, Lehren und Verwalten im akademischen Alltag tatsächlich bedeuten, vor welchen Herausforderungen die Geistesarbeit jeden Tag steht und was sie leistet. Gegen die abstrakte Rede von der »Krise der Geisteswissenschaften« plädieren sie für eine Neujustierung des Blicks, und zwar darauf, was an einem geisteswissenschaftlichen Arbeitsplatz wirklich geschieht.
Steffen Martus ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
9Einleitung: Weshalb über die Praxis der Geisteswissenschaften nachdenken?
Dramedy des Geistes
Im Sommer 2021 war es so weit: Mit The Chair haben es die Geisteswissenschaften zu Netflix geschafft. Bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler,1 die zuvor in Greys Anatomy (Sandra Oh), Transparent (Jay Duplass) oder 13 Reasons Why (Nana Mensah) als Ärztinnen, Musikproduzenten oder Krankenschwestern aufgetreten waren, geisterten nun durch das English Department der Pembroke University. Die Vorfreude war groß: Endlich würden wir dem Geist bei der Arbeit zuschauen dürfen. Die Handlung der Serie war dann geprägt von dem Tenure-Verfahren einer jüngeren Kollegin, der Organisation des Lehrangebots, dem Umgang mit Studierendenprotesten, dem Kampf um die angemessene Raumausstattung oder der Suche nach passenden Kandidaten für administrative Ämter. Die Arbeit des Geistes erschöpfte sich aus der Perspektive von The Chair weitgehend in der akademischen Selbstverwaltung.
Wo aber blieb die Forschung? Hier scheiterte mal eine Person am Kopierer, dort saß eine am antiquiert anmutenden Microfichelesegerät. Das zeugt durchaus von Realitätssinn. In keiner Szene aber sah man, was die Mitglieder des Departments in der Bibliothek oder ihrem Büro am Schreibtisch tun (nicht auf der Couch oder am Fußboden!). Gerade die Tätigkeiten also, die gemeinhin im Zentrum des geisteswissenschaftlichen Selbstbilds stehen, wirkten offenbar zu langweilig und unspektakulär, um auch nur Gegenstand eines satirischen Augenzwinkerns zu werden. Von außen gesehen passiert ja auch wirklich nicht sehr viel: Der angestrengte Blick richtet sich starr auf ein Papier, auf ein Buch oder einen Bildschirm. Manchmal kratzt sich die am Arbeitstisch sitzende Person am Kopf, legt das Kinn in die Hand, rückt den Stuhl, greift nach einem Buch oder einer Kopie. Wenn es gut läuft, bewegen sich die Finger auf der Tastatur. Wenn es schlecht läuft, steht sie kurz auf, geht aus dem Zimmer, kehrt mit einer Tasse Kaffee zurück. Dann wieder Stille. Es handelt sich um eine unscheinbare und einsame Tätigkeit.
10Die Netflix-Serie blickt strikt in Richtung des hektischen akademischen Betriebs. Diese betriebliche Seite der Wissenschaft hat in Deutschland im Rahmen der grundlegenden Reformen der letzten beiden Jahrzehnte das Bild geprägt: eine Welt des »akademischen Kapitalismus«,2 in der immer häufiger »Strategiepapiere und Zukunftskonzepte, quantitative Indikatoren, Leistungsvergleiche und Evaluationen, Pakte, Selbstverpflichtungen und Zielvereinbarungen, strategisches Management, Qualitätssicherung und Monitoring sowie das Wissenschaftsbranding und Wissenschaftsmarketing« den Ton angeben.3 Neue Qualifikationswege (Juniorprofessur, Nachwuchsgruppen u.a.), Projektorientierung und Verbundforschung (nicht zuletzt stimuliert durch die Exzellenzinitiative), die Ersetzung von schwer messbarem, aber mächtigem Renommee durch die Drittmittelquote oder die nachdrückliche Forderung jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach der Planbarkeit von Karrieren sowie der Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben die Imagination des zurückgezogen forschenden Geistesheroen zunehmend irritiert. In The Chair tritt er allenfalls noch als vertüdelter, nicht mehr wirklich zurechnungsfähiger älterer Mann im unförmigen Tweed-Sakko auf, der seine große Zeit offenbar lange hinter sich hat.
The Chair ist eine Serie, die Genrekonventionen gehorcht. Sie folgt aber auch einer anderen Konvention: der merkwürdigen Trennung von Geist und Arbeit. Einerseits findet sich kulturell die Bereitschaft zur Emphatisierung des einsamen Einzelgeistes, dessen wissenschaftliche Aktivität den Blicken – auch der Dramedy – entzogen wird. Andererseits wird die zur Schau gestellte Arbeit als etwas Ungeistiges dargestellt. Die Serie gibt das in chaotischer Betriebsamkeit versinkende Berufsleben des akademischen Departments der Lächerlichkeit preis und isoliert es von der wissenschaftlichen Arbeit im engeren, eigentlichen Sinne. Der quälende administrative Alltagsquatsch negiert also nicht notwendig die Vorstellung einer ehernen Einsamkeit des Forschens, sondern rückt diese geistige Tätigkeit vielmehr in einen separaten Bereich. Diese Aufspaltung des geisteswissenschaftlichen Arbeitslebens findet sich nicht nur in Netflix-Serien, sondern auch in der geisteswissenschaftlichen Selbstbeobachtung, wenn die eigentliche Tätigkeit, die einsam am Schreibtisch stattfinden muss, von dem ganzen Rest geschieden wird, der mit einem gewissen Widerwillen auch erledigt sein will.
11Es verwundert deshalb nicht, dass trotz aller Satiren auf die Wissenschaft, deren Arbeitsbedingungen sich in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifend verändert haben, das Bild der geisteswissenschaftlichen Praxis merkwürdig stabil bleibt, und sei es als schmerzhafter Kontrast, um einer aussterbenden Spezies nachzutrauern.4 Als Sehnsuchtsorte wahrer Gelehrsamkeit dienen in der Gegenwart dann die betrieblichen Ausnahmesituationen der Institutes for Advanced Study, die im turbulenten Wissenschaftsbetrieb Reservate anbieten – nicht weil sie Laborräume, Personal, Gerätschaften sowie andere kostspielige und organisationsaufwendige Ressourcen zur Verfügung stellen, sondern einen ruhigen, abgeschiedenen Arbeitsplatz [→Kap. 27].5
Das auch in den Geisteswissenschaften selbst gepflegte Leitbild der einsamen Schreibtischarbeit wurde also durch die fundamentalen Veränderungen von Wissenschaft und Universität kaum angegriffen.6 Als Gesamtbild hat es aber nie gestimmt und die enorme Fülle an Aktivitäten verdeckt, die den Alltag in der Kombination von Forschung, Lehre, akademischer Selbstverwaltung und öffentlichkeitswirksamer Kommunikation bestimmten. Schon in der Etablierungsphase des modernen Wissenschaftssystems haderten Gelehrte mit den Spannungen, die sich aus dem Berufsbild etwa des Professors und den entsprechenden institutionellen Verpflichtungen einerseits und der Idee des Forscherlebens andererseits ergaben.7 Wer einen Blick in die Briefwechsel des 19. Jahrhunderts wirft, findet dort äußert umtriebige Personen, die kollegiale Netzwerke und Feindschaften pflegen, Dienst- und Studienreisen planen, um die angemessene Ausstattung von Arbeitsräumen ringen, ins Prüfungswesen eingebunden sind, über die Abstimmung von Forschung und Lehre rätseln, in ihren Vorlesungen und Seminaren mit ganz diversen Bildungsvoraussetzungen und Erwartungen der Studierenden zurechtkommen müssen, wissenschaftspolitische Entscheidungen halbwegs vernünftig zu integrieren versuchen, Mitarbeitende einweisen und qualifizieren, Querelen in Projekten schlichten oder Zeitungsartikel für das größere Publikum lancieren. Dazwischen finden sich die kostbaren Minuten des Lesens, Exzerpierens und Annotierens von Quellen und Forschungsbeiträgen, für das Skizzieren, Projektieren und Schreiben von Büchern, Aufsätzen, Miszellen, Gutachten oder Anträgen. Und dann bleibt möglicherweise noch ein wenig Zeit für Familie, Freundinnen und 12Freunde und hier und da für ein paar Urlaubstage – in denen man mit dem Bleistift in der Hand weiterliest.
Uns geht es im Folgenden um das Gemisch von Praktiken, das den Alltag des geisteswissenschaftlichen Arbeitens bestimmt. Wir möchten dabei den Blick insbesondere darauf lenken, dass es sich bei dieser Praxis stets um eine vielfältige, soziale und kollektive Aktivität handelt. Selbst eine so unscheinbare und einsame Praktik wie das individuelle Anstreichen einer interessanten Stelle in einem Buch erweist sich als ein Vorgang, der unverständlich bleibt, solange man nur auf eine einsame Person blickt und nicht auch auf das ganze Drumherum [→Kap. 1, 2 u. 18]. Die Ökonomie der Geistesarbeit, für die wir uns interessieren, besteht im Wesentlichen in der Kunst der Moderation unterschiedlicher Interessen, Absichten und Anliegen, die sich mit dieser Aktivitätsfülle verbinden.
Krisen des Geistes
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| Erscheint lt. Verlag | 12.9.2022 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften |
| Schlagworte | aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Forschung • Lehre • Neuerscheinungen • neues Buch • STW 2379 • STW2379 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2379 • Universität |
| ISBN-13 | 9783518772843 / 9783518772843 |
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