Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes (eBook)
180 Seiten
Jüdischer Verlag
9783633773169 (ISBN)
Margarete Susman, 1872 in Hamburg geboren, 1966 in Zürich gestorben, gilt als eine der bedeutenden Philosophinnen des vergangenen Jahrhunderts. 1992 erschien im Jüdischen Verlag unter dem Titel <em>Das Nah- und Fernsein des Fremden </em>eine Sammlung von Essays und Briefen, herausgegeben von Ingeborg Nordmann, und 1996 ihr Buch <em>Frauen der Romantik</em> als insel taschenbuch 1829.
Einleitung
Es stürmt in mir, meine Seele, ich kann nicht schweigen; es kommt Verderben über Verderben.
JEREMIA 4,19.
In diesem Augenblick einer Weltkatastrophe, die in Leben und Wissen die Menschheit an den Rand des Selbstmords geführt hat, kann eine Ergründung des Schicksals und Problems des jüdischen Volkes nicht mehr als ein sehr bescheidener Versuch sein: ein Versuch, der nur darum gewagt werden kann, weil ein Ansatzpunkt für das Problem in dieser Katastrophe selbst sich bietet, die in der gewaltigsten Aufgipfelung des Judenhasses aller Zeiten den Zusammenbruch alles Menschlichen und Menschheitlichen in der abendländischen Welt darstellt. Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes Wort ein Zuwenig und ein Zuviel; seine Wahrheit ist allein der Schrei aus den wortlosen Tiefen der menschlichen Existenz. Es ist darum das Buch Hiob, aus dem der Versuch einer Deutung dieses Geschehens unternommen wird.
Aber gerade auch diesem Unterfangen gegenüber drängt aus der heutigen Wirklichkeit ein schweres Bedenken sich auf. In einem Augenblick des Schwankens und Zerbrechens aller Wirklichkeiten und Wahrheiten, in dem vor dem Ausmaß des Geschehens jede menschliche Orientierung versagt, in dem die alten Begriffe und Worte weithin zerfallen sind, um neue überall erst gerungen wird, kann auch die Deutung eines Gegenwartsgeschehens aus den großen geschlossenen biblischen Wahrheiten und Begebnissen nur ein sehr bescheidener Versuch sein. Ein Versuch, der nur dann zu einer Klärung werden kann, wenn es gelingt, in der Gegenüberstellung beider weit auseinanderliegender Wahrheitskreise etwas von dem unzerstörbaren Sinn der Urworte zu retten.
Doch noch ein weiteres Bedenken scheint dem Versuch einer Deutung des jüdischen Schicksals in diesem Augenblick daraus zu erwachsen, daß unmittelbar nach der schwersten Katastrophe seiner Geschichte, die sich in der Menschheit bisher unbekannten Formen vollzogen hat, anstelle einer Aufrüttelung des Weltgewissens durch das Ungeheure heute bereits ein neuer Weltantisemitismus getreten ist, der die Züge einer Zwangserscheinung angenommen hat. Denn so erscheint es im Blick über die Jahrtausende unabweisbar, als wäre das Schicksal des jüdischen Volkes nur der finstere Schatten, den die Menschheit auf ihrem geschichtlichen Wege wirft und der, je tiefer die Sonne am Horizont sinkt und je mehr das Bild der Menschheit selbst sich verzerrt, um so schwärzer, verzerrter und gespenstischer wird. Aber dies wäre kein Einwand gegen seine Ergründung. Denn auch wenn dies wirklich das jüdische Schicksal wäre und wenn es damit, unabänderlich an das Schicksal der Menschheit gebunden, selbst unabänderlich wäre, wenn so jeder äußere Lösungsversuch scheitern müßte: für das jüdische Volk gibt es kein Fatum. Jude sein, heißt sich entscheiden. Denn jeder Einzelne des Volkes wird zwar als Jude geboren; aber er wird Jude erst durch die Entscheidung für dies Sein. Daß dies Volk, anders als alle anderen Völker, nicht aus einem Land, sondern in der Wüste aus einem Aufruf entsprungen ist, in dem ihm die Entscheidung zwischen Tod und Leben als die zwischen Gut und Böse vorgelegt ist, ist für alle Zeiten der Ausdruck seines Verhältnisses zum Sein. Immer erreicht der Aufruf das Volk in der Wüste, am äußersten Rande des Lebens, nicht in einem Sein, sondern im Nichtsein; immer ist die Entscheidung zwischen Tod und Leben in seine Hand gelegt. Gerade in dem Gebanntsein in Rand und Schatten, in der Entwirklichung zum Nichtsein liegt so der unmittelbare Anruf an sein Leben. Jude sein, heißt an den äußersten Grenzen des Lebens und Lebenkönnens die Entscheidung für das Leben leisten.
Aber damit erhebt sich noch ein weiteres Bedenken gegen eine Ergründung des jüdischen Schicksals und Problems in diesem Augenblick: diese Entscheidung kann heute nur von einer tief in ihrem Sinn verstörten, im Sturm ihrer Schicksale und des Weltschicksals fast schon aufgelösten, fast unkenntlich gewordenen Gemeinschaft geleistet werden, zu der als zu einer Einheit wir uns kaum mehr bekennen können. Daß wir uns dennoch gerade heute wieder zu ihr aus der Tiefe einer neu aufgerufenen Verantwortung bekennen, das eben ist es, was dazu zwingt, im Augenblick schwerster Bedrohung von außen und innen aus den Erfahrungen dieser Zeit erneut die Frage nach Sinn und Wahrheit des jüdischen Schicksals zu stellen.
Es handelt sich also in diesem Versuch um ein jüdisches Bekenntnis. Nicht aber im Sinne eines irgendwie gearteten Nationalismus, eines Bekenntnisses zur Nation überhaupt – ein solches widerspräche dem Grundsinn des Judentums –, noch auch im Sinne eines Bekenntnisses zu den alten überkommenen Religionsformen – ein solches hätte in einer Welt, in der mit der Strenge eines klar geformten Lebens auch die Strenge der gedanklichen Zuordnung zu den heiligen Gegenständen verloren ist, keinen Wirklichkeitsraum mehr –, sondern allein im Sinne eines Bekenntnisses zu dem eigensten Problem, das uns im heutigen Schicksal als unsere Lebensfrage gestellt ist, und zu der mit diesem Problem gestellten Aufgabe. Es handelt sich also nicht um den Versuch einer Lösung des Problems – es wäre die Lösung des Menschheitsproblems –, sondern nur um den Versuch seiner klaren Stellung und Herausarbeitung, in dem es gerade in seiner ganzen Schwere und Unlösbarkeit hervortreten wird. Es handelt sich so zunächst um die Frage, zu welcher Wirklichkeit der heutige Jude sich im Judentum bekennt, und damit um die Doppelfrage, was der jüdische Mensch seinem Wesen nach ist, und was er nach allen geschichtlichen Entwicklungen und Wandlungen, durch die er hindurchgegangen ist, heute noch ist und seiner Wahrheit nach sein kann.
Diese Frage kann nur geschichtlich, im Überblick über die Geschichte des jüdischen Volkes vom Ursprung bis zum heutigen Tage gestellt werden. Damit ist aber zugleich gegeben, daß diese Fragestellung niemals nur geschichtlich sein kann. Gerade das ist ja Sinn und Eigenart der jüdischen Geschichte, daß in ihr in den geschichtlichen Begebnissen selbst immer wieder die geschichtsbegründenden Wirklichkeiten und Wahrheiten sich manifestieren, so daß die geschichtliche Fragestellung immer schon die nach einer übergeschichtlichen Sphäre in sich schließt.
Damit ist die Bedeutung gekennzeichnet, die in diesem Versuch der biblischen Wahrheit zukommt. Jenseits des Bekenntnisses zu den festen Religionsformen sich zur Wahrheit des Judentums zu bekennen, kann nur heißen: sich zu dem Prinzip zu bekennen, das in ihnen allen niedergelegt ist, das in der Geschichte Israels und des jüdischen Volkes als ihr innerstes Gestaltungsprinzip hervortritt. Es ist der immer erneute Aufruf des Einen aus dem Vielen, der Anruf des Ewigen an die Zeit, der die Zeit, in der er vernommen wird, zur Sphäre der Wahrheit prägt. Wie der geschlossene, gestalterfüllte Raum die griechische Wahrheitssphäre, so ist die Israels die offene, gestaltlos fließende Zeit. Dort der in sich zurückkehrende Kreis des Kosmos, hier die ins Unendliche fortstrebende Linie der Schöpfung; dort die Welt des Sehens, des Schauens, hier die des Hörens, des Vernehmens; dort Bild und Gleichnis, hier Entscheidung und Tat. Leichter prägt sich ein, was das Auge sieht, als was das Ohr vernimmt; denn das Auge sieht Wirkliches im erfüllten Raum; das Ohr vernimmt erst den Aufruf zum Wirklichen in der leeren Zeit. Im Raum ist Gegenwart und Erinnerung, in der Zeit Gefahr und Hoffnung. Denn die Zeit als leeres Verfließen wird durch den Anruf von oben gestaut, aus ihrer blind vorwärtsdrängenden Richtung aufgestört, im Wirbel eines lebendigen Zentrums aufgehalten, gegen sich selbst herumgewendet und zur Umkehrung gezwungen: zu der Umkehr aus dem Vielen zum Einen, in der sie sich sammelt zum Sinn. Die Zeit, als vorwärtsdrängender, alles mit sich reißender Strom schwerste Gefährdung alles Sinnes, wird so selbst zum Gefäß des Sinnes: des zentral gesammelten Sinnes: des Heils. Gegen das raumhafte Ziel der Vollendung steht das in der Zeit zu gewinnende Ziel der Erlösung.
Es ist dieser in der Zeit selbst erweckte Widerstand gegen die Zeit als leeres Verfließen, der in der vorwärtsgerichteten Geschichte immer wieder zum Scheitern verurteilt ist und, indem er sich immer neu in ihr erhebt, Geschichte im eigentlichen Sinne erst erschafft. Weil so die Zeit beides in sich trägt: die Gefahr der Auflösung und die Möglichkeit der Erlösung, darum steht das Volk der größten Verheißung auch in der größten...
| Erscheint lt. Verlag | 13.4.2022 |
|---|---|
| Nachwort | Elisa Klapheck |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Judentum |
| Schlagworte | Buch • Hiob • Ijob • Juden • neues Buch • Schicksal |
| ISBN-13 | 9783633773169 / 9783633773169 |
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