Erdbeerrot (eBook)
314 Seiten
Books on Demand (Verlag)
9783752636796 (ISBN)
1. Teil Kriegswirren – Der 3. Mai 1944 am Bodensee
Warum plötzlich dieses Zittern in der Luft?
Leise, schnell lauter werdend, dröhnte es vom See her. Ein schwarzes Ungeheuer, mit vier riesigen Augen, kam knapp über Häuser und Bäume – direkt auf ihn zugeflogen, eine schwarze Rauchfahne nachziehend. Der Bub blickte zu seiner Mutter, die sich erschreckt aufrichtete und ihm zurief: «Kommt ganz schnell zu mir!» Der Bub flüchtete unter den Rock seiner Mutter und kam erst wieder hervor, als es wieder still war. Mina, noch fast starr vor Schreck, atmete schwer, war froh, die Kinder unversehrt bei sich zu haben. Der Bomber hatte abgedreht, ist wahrscheinlich in den See niedergegangen, wie schon andere in den letzten Tagen und Nächten. Sie atmete tief durch, hielt noch ein wenig inne. Dann nahm sie die Arbeit wieder auf.
Mina hatte sich für heute viel vorgenommen. Vor vier Jahren, kurz vor ihrer Heirat, lernte sie in der Haushaltungsschule Möschberg, wie man Flachs anbaut und verarbeitet. Und in der vom Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen ausgerufenen Anbauschlacht wurden die Bäuerinnen aufgefordert, als Rohstoff für die Produktion von Leinen Flachs anzubauen. Stoffe und Garn aus Baumwolle oder Wolle waren streng rationiert. Und Minas Kinder wuchsen schnell aus ihren Kleidern heraus und brauchten grössere. Mit den vielfach geflickten Hosen, Hemden, Röcken und Schürzen durften die Erwachsenen fast nicht mehr unter die Leute.
Der Traktörler Staub pflügte für Mina im vergangenen Herbst ein Stück Wiese um. In den letzten Tagen entzogen der Föhn und die Aprilsonne dem Acker die Winternässe und erwärmten das Erdreich. Weiss leuchteten die Schollen in der grünen Umgebung. Mina wollte diese idealen Bedingungen für die Vorbereitung des Saatbeetes nutzen und hoffte, noch vor dem im Radio angekündigten Wetterumschlag säen zu können.
Nach dem Frühstück hatte Mina Trinkflaschen und gedörrte Zwetschgen in einen Korb gelegt, ihn in den Leiterwagen gestellt, zwei Hacken und eine Schaufel dazugelegt. Mit der einen Hand, zog sie den Leiterwagen, mit der anderen führte sie die dreijährige Rosmarie über den holprigen Weg zum Acker. Rosmaries zwei Jahre jüngerer Bruder hatte gerade die ersten selbstständigen Schritte gelernt. Damit Mina schneller vorwärts kommen würde, durfte er auf dem Leiterwagen mitfahren.
Der Föhn hatte jedes Wölkchen weggeputzt. Durch die klare Luft wärmte die Sonne auch an diesem späten Apriltag kräftig. Mina begann ihre Arbeit an der linken, vorderen Ecke des Ackers. Der Winterfrost hatte die groben Schollen aufgebrochen. Mina kam gut voran. «Die Samenkörner des Leinens sind winzig klein. Sie müssen in einem sehr fein zubereiteten Saatbeet keimen können», sagte der Dozent auf dem Möschberg mit Nachdruck. Mina erinnerte sich. Der vierzinkige Kräuel fuhr rhythmisch in das Erdreich. Hinter Mina wuchs die Fläche mit der fein gekrümelten Oberfläche, bereit, die feinen Samen aufzunehmen.
Sie verrichtete ihre Arbeit schweigend und in ihrem Antlitz lag tiefer Ernst. Auch den Kindern blieb nicht verborgen, dass ihre Mutter ein wenig traurig war. Mina legte das Kopftuch und die Ärmelschürze ab. Ausser ihren Kindern war ja niemand in der Nähe.
In der letzten – wie schon in der vorletzten Nacht – wurde Friedrichshafen bombardiert. Das Blitzen und Donnern kam in Wellen während der ganzen Nacht. Die Detonationen liessen das ganze Haus erzittern. Im Schrank klirrte das Geschirr. An einen ruhigen Schlaf war nicht zu denken. Friedrichshafen lag zwar über ein Dutzend Kilometer entfernt, am gegenüberliegenden Ufer des Bodensees, trotzdem fühlte sich Mina nicht sicher. Immer wieder kam es vor, dass sich Flugzeuge auf die Schweizer Seite verirrten. In Schaffhausen hatten sie sogar Bomben abgeworfen, die Menschen töteten. Und heute Morgen hingen wieder Silberfäden in den Bäumen. Flugzeuge hatten sie zur Täuschung des Radars der deutschen Fliegerabwehr abgeworfen und der Wind wehte sie über den See.
Der Bub sass im Acker. Auch er mit ernstem Gesicht und unkindlich schweigsam. Mit seinen Händchen streifte er die weisse, staubtrockene Schicht an den oberen Kanten der Erdschollen ab und liess den Staub langsam durch die Finger rieseln. Manchmal zog er einen Regenwurm aus dem Erdreich und beobachtete ihn, wie er sich im Staub kringelte. «Du darfst die Regenwürmer nicht quälen», ermahnte ihn Mina, «Es sind nützliche Tierchen.»
Der Bub wollte seiner Mutter möglichst nahe sein. Er rutschte immer wieder nach, wenn Mina sich hackend vorwärtsbewegt hatte. Auf diese Weise kam er an frische Furchen und an neue Regenwürmer. Der Versuchung, mit ihnen zu spielen, konnte er oft nicht widerstehen.
In etwas grösserer Entfernung versuchte seine Schwester der Mutter nachzueifern. Die Hacke war für sie zu gross und zu schwer. Ihre Zungenspitze lugte aus dem Mund. Mit grosser Anstrengung bearbeitete auch sie Stück um Stück, bis die Mutter sagte: «Jetzt ist es fein genug.» Dann gönnte sie sich eine Verschnaufpause und wischte sich mit dem Ärmchen über ihr gerötetes, schweissnasses Gesicht, auf dem der Staub schwarze Schlieren zog.
In diesen Tagen kamen erste Friedenshoffnungen auf. Aber noch war Krieg, in dem unzählige Menschen umkamen. Mina verstand nicht, dass Menschen zu so etwas fähig waren, und dass Gott diesen fürchterlichen Krieg geschehen liess. Sie durfte solche Fragen nicht aufkommen lassen. Sie wusste, eine Antwort würde sie nie bekommen.
Der Krieg nahm Mina ihren Mann weg. Kurz nach der Heirat war die Mobilmachung ausgerufen worden. Mitsamt dem Pferd musste Hans einrücken und war nachher monatelang im Aktivdienst. Die Anforderungen des Hofes und der Familie lasteten dann allein auf ihr. Ein Knecht und eine Magd sowie die Schwiegermutter halfen ihr zwar bei der Arbeit. Mit der Verantwortung musste sie aber allein zurechtkommen. Grosse Sorgen machte sie sich auch, weil der lange Aktivdienst die Männer veränderte. Ihre Schwestern beklagten sich bitter. In den wenigen Urlaubstagen kamen die Männer ausgeruht und wie aus einer anderen Welt nach Hause. Alles in ihren Köpfen drehte sich um die Erlebnisse im Militär. Die Sorgen und Ängste der Nächsten zu Hause, die viele Arbeit, die sie oft an den Rand der Erschöpfung brachte, Krankheiten der Kinder und der Tiere und die kriegsbedingten Einschränkungen interessierten sie wenig. Oft reagierten sie mit derben Witzen auf die Klagen ihrer Frauen, die ihnen das Herz ausschütten wollten. Die Männer aber wollten keine Klagen hören, registrierten sie bitter. Nach Wochen reiner Männergesellschaft, unterdrückten Gefühlen und Ängsten, die sie nicht zugeben durften, sehnten sie sich danach, zu Hause von einer fröhlichen, liebevollen und liebesbereiten Gattin empfangen zu werden. »Mit meinem Hans habe ich es Gott sei Dank ein wenig besser», sagte sich Mina. «Er, der wie ich Schokolade über alles liebt, hat mir sogar seine Rationen Militärschokolade nach Hause gebracht.»
Gegen Mittag war der Acker fertig bearbeitet. Voller Stolz und Freude blickte Mina über das Resultat ihrer Arbeit. «Am Nachmittag können wir säen», sagte sie zu ihren Kindern und dachte: «Ach, was soll ich mir Sorgen machen, es wird doch alles gut werden.» Sie atmete die Frühlingsluft ein, und ein Wohlgefühl durchströmte sie. «Kinder, schaut einmal, wie viele Blüten seit heute Morgen neu aufgegangen sind! Löwenzahn und Wiesenschaumkraut sind es, die in den Wiesen jetzt blühen. Und die weiss blühenden Bäume dort sind Kirschbäume. Schon bald könnt ihr wieder Kirschen essen. Ist es nicht herrlich, was unser Herrgott uns in jedem Frühling neu schenkt?» Rosmarieli meint: »Jo gell, Muetter, es ischt guet, dass mer de Liebgott hend.»
Mina nahm ihre Kinder an die Hand und langsam gingen sie ihrem Haus zu, wo die Magd Trudi mit dem Mittagessen sicher schon bereit war. Mina fühlte die warmen Händchen ihrer Kinder. Da breitete sich Zufriedenheit in ihr aus und ihr Herz füllte sich mit Hoffnung.
Am Nachmittag zog Mina feine Rillen in das Erdreich des Ackers und zeigte ihren Kindern, wie die kleinen Samen hineingestreut werden. Andächtig hörten sie zu, wenn sie ihnen erklärte, wie aus diesen kleinen Körnchen bald grosse Pflanzen wachsen werden, aus denen man Tuch herstellen kann. Was die Kleinen hörten, erschien ihnen als ein Wunder, ein Zauber, den sie glaubten, weil die Mutter ihn erzählte.
Am Abend war das Feld fertig besät. Im Rücken kündigten sich Schmerzen an und Mina war froh, dass sie es geschafft hatte. Mit ihrem Tagwerk war sie zufrieden. Jetzt konnte der Regen kommen.
Wie an jedem anderen Tag tischte Trudi um 17.00 Uhr das Abendessen auf. Nach dem Essen ging Mina in den Stall. Seit die Kühe wieder Grünfutter bekamen, gaben sie viel mehr Milch. Es war eine Freude. Hans hatte sie im letzten Urlaub ermahnt, dafür zu sorgen, dass die Kühe in den ersten Grünfutterwochen auch altes Heu bekamen. Jetzt plötzlich nur ganz junges Gras...
| Erscheint lt. Verlag | 19.1.2022 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft |
| Schlagworte | Autobiografie • Beerenost • Depression • Israel • Zusammenbruch |
| ISBN-13 | 9783752636796 / 9783752636796 |
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