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Die Welt, 'ein großes Hospital' (eBook)

Goethe und die Erziehung des Menschen zum 'humanen Krankenwärter'
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Wallstein Verlag
9783835347618 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Welt, 'ein großes Hospital' -  Manfred Osten
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Manfred Osten liest Goethe mit Blick auf die Corona-Pandemie neu und entdeckt eine Fülle von überraschenden und nachdenklich machenden Einsichten. Bereits 1787 beschreibt Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein das Zukunftsmodell einer globalen Gesellschaft, in der 'die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter werden wird.' Das 'große Hospital' kann gedeutet werden als große Weltmetapher des 21. Jahrhunderts im Zeichen einer globalen Immunschwäche. Diese globale Immunschwäche hat die Gestalt einer Pandemie einer extremistischen Grenzen- und Maßlosigkeit, der es zu entkommen gilt. Goethe mahnt dazu, die Natur als ein Universum unendlicher Wechselwirkungen zu verstehen. Manfred Osten gelingt es, Goethes Überlegungen zum Zustand der Welt - damals und heute - miteinander zu kombinieren und in neue Zusammenhänge zu bringen, um so eine neue Sicht auf Goethe und die Welt zu ermöglichen.

Manfred Osten, geb. 1938, Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Musikwissenschaft und Literatur, Promotion 1969, Auswärtiger Dienst (1969 -1992), Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (1993 -1994), Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung in Bonn (seit 1995). Mit Alexander Kluge dreißig Fernseh-Gespräche zu Themen der Philosophie, Musik, Literatur, Geschichte, zu Japan.

Manfred Osten, geb. 1938, Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Musikwissenschaft und Literatur, Promotion 1969, Auswärtiger Dienst (1969 -1992), Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (1993 -1994), Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung in Bonn (seit 1995). Mit Alexander Kluge dreißig Fernseh-Gespräche zu Themen der Philosophie, Musik, Literatur, Geschichte, zu Japan.

Teil I
Die Erziehung zum »humanen Krankenwärter«


1. Kapitel
Das »einfachere Tier
im zusammengesetzten Menschen«


Goethe hat es nicht belassen bei der Prophetie vom »großen Hospital der Welt«, wo »einer des anderen humaner Kranckenwärter werden wird«. Er wusste zwar noch nichts von den Pandemie-Erkenntnissen der Gegenwart, aber es hätte ihn sicherlich nicht überrascht, dass die Natur, ähnlich wie die Literatur auf dem Weg zur »Weltliteratur«, von »der sich immer vermehrenden Schnelligkeit des Verkehrs« (Aus dem Faszikel zu Carlyles ›Leben Schillers‹, FA  22, 866) profitieren würde: in Richtung einer Welt-Natur. Und dass auch virale Wanderungen sich diesem globalen Trend anschließen, hätte ihn vermutlich am wenigsten überrascht. Denn wenn alles, wie er 1825 notierte, inzwischen »von Weltteil zu Weltteil« springt, warum nicht auch jene Mikroorganismen, die er längst in seine Betrachtungen als archaische Gäste des Menschen einbezogen hatte.

Goethe hatte frühkindlich Erfahrung mit Pockenviren gemacht, die ihn vermutlich im sechsten Lebensjahr befallen hatten, und über die er in Dichtung und Wahrheit berichtet (I, 1). Eine Kindheitserinnerung, deren Aktualität mit Blick auf Impf-strategien der Gegenwart zur Bekämpfung des pandemischen Corona-Virus auf der Hand liegt. Wird hier doch Goethes rational geleitete Offenheit gegenüber Impfungen erkennbar. Wobei allerdings inzwischen vermutet wird, dass für Impfungen im Falle von Virus-Pandemien ein fataler Prozess aktiviert wird: je mehr Menschen geimpft sind, desto schneller werden sich auch Mutationen des Virus verbreiten, die gegen die Impfstoffe gefeit sind. Goethe schreibt (FA  14, 43):

Ich hatte mir eben den Fortunatus [mittelalterliches Volksbuch] mit seinem Säckel und Wunschhütlein gekauft, als mich ein Mißbehagen und ein Fieber überfiel, wodurch die Pocken sich ankündigten. Die Einimpfung derselben ward bei uns noch immer für sehr problematisch angesehen, und ob sie gleich populare Schriftsteller schon faßlich und eindringlich empfohlen; so zauderten doch die deutschen Ärzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Spekulierende Engländer kamen daher aufs feste Land und impften, gegen ein ansehnliches Honorar, die Kinder solcher Personen, die sie wohlhabend und frei von Vorurteil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt; die Krankheit wütete durch die Familien, tötete und entstellte viele Kinder, und wenige Eltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrscheinliche Hülfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig bestätigt war. Das Übel betraf nun auch unser Haus, und überfiel mich mit ganz besonderer Heftigkeit. Der ganze Körper war mit Blattern übersäet, das Gesicht zugedeckt, und ich lag mehrere Tage blind und in großen Leiden. Man suchte die möglichste Linderung, und versprach mir goldene Berge, wenn ich mich ruhig verhalten und das Übel nicht durch Reiben und Kratzen vermehren wollte. Ich gewann es über mich; indessen hielt man uns, nach herrschendem Vorurteil, so warm als möglich, und schärfte dadurch nur das Übel. Endlich, nach traurig verflossener Zeit, fiel es mir wie eine Maske vom Gesicht, ohne daß die Blattern eine sichtbare Spur auf der Haut zurückgelassen; aber die Bildung war merklich verändert. Ich selbst war zufrieden, nur wieder das Tageslicht zu sehen, und nach und nach die fleckige Haut zu verlieren.

Erst 1959 wird die WHO darauf aufmerksam machen, dass diese Viren als Infektionskrankheiten auch »zoonotisch«, das heißt zwischen Wirbeltieren und dem Menschen, übertragen werden können. Man vermutet heute, dass Zehntausende von möglicherweise zoonotischen Parasiten existieren. Sie alle können von Wirbeltieren auf Menschen übertragen werden. Dabei wird die Zahl der bislang unentdeckten Viren auf etwa 1,6 Millionen geschätzt.

Hinzu kommt, dass beim zoonotischen Grenzübergang Viren transportiert werden, deren archaische Vorfahren bei näherem Hinsehen seit Urzeiten (vor 40 bis 70 Millionen Jahren) schon mit den Vorfahren des Homo sapiens vertraut waren. Ja, sie können sogar beanspruchen, dass etwa acht Prozent der menschlichen DNA aus ihren »Überresten« besteht. Es war ihnen offenbar gelungen, eine archaische Immunschwäche des Menschen zu nutzen, um in ihm heimisch zu werden: indem sie ihr eigenes Erbgut in dessen Genom »einschleusten«. Bestimmte Viren – man nennt sie Retroviren – können sich seitdem sogar nur im menschlichen Wirt vermehren.

Und es war Goethe, der es gewagt hat, die Blickrichtung auf den Menschen zu ändern, um diesen Kunstgriff der Natur im Menschen zu erkennen. Bereits während seiner frühen anatomischen Studien hat Goethe unorthodox empfohlen, den Menschen von »unten« her zu erkennen (Schriften zur Morphologie, FA  24, 265 f.):

der Einblick, wie die allgemeinen Gesetze bei verschieden beschränkten Naturen wirksam sind, die Einsicht zuletzt, wie der Mensch dergestalt gebaut sei, daß er so viele Eigenschaften und Naturen in sich vereinige und dadurch auch schon physisch als eine kleine Welt, als ein Repräsentant der übrigen Tiergattungen existiere, alles dieses kann nur dann am deutlichsten und schönsten eingesehen werden, wenn wir, nicht wie bisher leider nur zu oft geschehen, unsere Betrachtungen von oben herab anstellen und den Menschen im Tiere suchen, sondern wenn wir von unten herauf anfangen und das einfachere Tier im zusammengesetzten Menschen endlich wieder entdecken.

Ein wissenschaftlicher Grenzgang von unten also, vom »einfacheren Tier« hinauf zum »zusammengesetzten« Menschen als dem »noch nicht festgestellten Tier« (Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, SA  2, 623). Mit dem überraschenden Ergebnis moderner Viren-Forschung, dass nicht nur acht Prozent des menschlichen Genoms von Viren abstammen, sondern dass diese zum Teil uralten DNA-Schnipsel ausgerechnet an der Entwicklung unseres Immunsystems beteiligt waren und sind. Ihnen gelingt, was Goethe hochgeschätzt hat: das Paradoxon! Viren helfen dem Menschen bei der Abwehr gegen die Artgenossen dieser Viren. Also gehören durchaus auch Viren zu diesen »einfacheren Tieren im zusammengesetzten Menschen«! Ließen sich aus diesem Paradoxon der »einfacheren Tiere im zusammengesetzten Menschen« möglicherweise Einsichten gewinnen für jene »geheim-offenbaren« Prozesse der Natur bei der Entwicklung der Immunschwächen und -stärken im Menschen im Laufe der Evolution? Könnte man der Wissenschaft vielleicht auf die Sprünge helfen?

Etwa so, wie es Goethe gegenüber dem Philologen und Pädagogen Riemer angedeutet hat: »Die Natur kann zu allem, was sie machen will, nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge.« (Gespräch mit Riemer, 19.3.1807) Es überrascht daher nicht, dass Goethe schon 1782 in einem Brief an Merck den Blick auf die Entwicklung der »niederen Tiere« seit der Urzeit lenkt und prophezeit: »Es wird nun bald die Zeit kommen, wo man Versteinerungen […] verhältnismäßig zu den Epochen der Welt rangieren wird.« (Brief an Merck, 27.10.1782) Eine Prophetie, die dann erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Bestätigung finden sollte: mit der Erstellung einer auf dem Prinzip der Leitfossilien gründenden Zeitskala der Erdgeschichte.

Die Vorstellung der Menschwerdung von ganz »unten« hat Goethe jedenfalls über Jahrzehnte weiter beschäftigt. Um dann gegenüber Zelter zu dem Schluss zu gelangen: »Manche Exemplare einer vor allen geschichtlichen Zeiten versenkten organischen Welt« hätten sich bei ihm eingefunden. »Fossile Tier- und Pflanzenreste versammeln sich um mich, wobei man sich notwendig nur an Raum und Platz des Fundorts halten muß, weil man bei fernerer Vertiefung in die Betrachtung der Zeiten wahnsinnig werden müßte.« (Brief an Zelter, 11.3.1832)

Zu dieser »Betrachtung der Zeiten« gehört denn auch die erwähnte Tatsache, dass virale Überreste der Urzeit als freundliche Assistenten einer angeborenen »Immunreaktion« jenes Immunsystem gestärkt haben, dessen Erhalt und Stärkung für Goethe von höchstem Interesse bleiben sollte. Das gilt vor allem für jene Steigerung des Lebens, die sich im Werther wiederfindet. Und zwar in gegenläufiger Richtung, zur »Krankheit zum Tode«: Mit der Aussicht, dass es der Natur selbst gelingt, durch eine »glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen«. Eine »glückliche Revolution«, die sich offenbar auch ereignet hatte in dem genannten, positiv verlaufenen Transformationsprozess der archaischen Viren zur Stärkung des Immunsystems im Menschen. Und erst mithilfe der modernen Molekularbiologie war es möglich, die Viren, diese besonderen »einfacheren Tiere« im Menschen, zu entdecken.

Goethe selbst hat seinen Zeitgenossen diese Betrachtungsweise von ganz »unten«, vom Anfang her, offenbar nicht zugetraut. Er hat diesen Blickwinkel sogar im zweiten Teil der Faust-Tragödie versiegelt. Dort ist es Thales, der in der »Klassischen Walpurgisnacht« den Blick »von unten« wagt mit der Aufforderung: »Gib nach dem löblichen Verlangen / Von vorn die Schöpfung anzufangen, / Zu raschem Wirken sei bereit! / Da regst du dich nach ewigen Normen, / Durch tausend abertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit.« (Vers 8321 – 8326) Der Mensch also als ein von »unten« her entwickelter Kosmos, eine aus...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2021
Nachwort Peter Sloterdijk
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Corona • Epidemie • Faust • Gesellschaft • Goethe • Klassik • Naturschutz • Pandemie • Weimarer Klassik • Weltliteratur • Werther
ISBN-13 9783835347618 / 9783835347618
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