Kanada (eBook)
256 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-509-5 (ISBN)
Gerd Braune lebt seit mehr als 20 Jahren in der Hauptstadt Ottawa. In seinem Buch gibt er einen Einblick in Geschichte und Politik Kanadas. Er schildert das Leben im zweitgrößten Land der Erde, aber auch die Bruchlinien der kanadischen Gesellschaft, zwischen Indigenen und Eingewanderten, Anglophonen und Frankophonen. Und wie die Kanadier stets auf die USA blicken und ihre Sympathien, aber auch ihre Hassliebe gegenüber dem großen Nachbarn im Süden pflegen.
'Ein Buch, das den Leser souverän durch die komplexe Geschichte Kanadas führt.'
Katja Ridderbusch, Deutschlandfunk, über 'Indigene Völker in Kanada'
Gerd Braune, Jahrgang 1954, berichtet seit 1997 als freiberuflicher Korrespondent über Kanada. Er wurde in Toronto (Kanada) geboren und wuchs in Deutschland auf, nach dem Studium der Politik- und Rechtswissenschaft arbeitete er für die Nachrichtenagentur AP und die Frankfurter Rundschau.
»Canadian, eh?« – eine Vorbemerkung
»Worüber hast Du denn in den vergangenen Tagen geschrieben?« Wie oft höre ich diese Frage von Bekannten und von Kolleginnen und Kollegen. Manchmal in einer abgewandelten Form: »Was in-teressiert denn Deine Leser in Europa an Kanada?« Das klingt hin und wieder wie »Es gibt doch nichts Interessantes« oder »We are boring«. Wenn ich dann aufzähle, was ich geschrieben habe, ist das Staunen manchmal groß. Vor allem, wenn ich von Ottawa aus durch Recherchen irgendwelche abstrusen Geschichten in der fernen Provinz ausgrabe. Oder Politik in einer Weise erkläre, wie sie selbst den Kanadiern aus ihrer Innenperspektive nicht vertraut ist. Die Zweifel, dass Kanada Spannendes für die Außen-welt zu bieten hat, erinnert mich auch an ein Gespräch, das ich 1997 mit dem Chefredakteur einer meiner Zeitungen führte. Vor meinem Wechsel nach Kanada besuchte ich die Zeitungen, für die ich aus Kanada als freier Korrespondent berichten sollte. Ich traf jenen Chefredakteur und nannte ihm ein paar Ideen für Berichte und Reportagen – Multikulturalismus, die indigenen Völker, Rohstoffe, »bunte« Themen und ein bisschen Politik, denn es war erst ein paar Jahre her, dass Kanada fast auseinander gebrochen wäre, als Québec über seine Unabhängigkeit abstimmte. Zwei Jahre später begegnete ich diesem Chefredakteur wieder. Seine Zeitung hatte fast jede Woche mindestens einen Text von mir veröffentlicht. »Als Sie mir vor zwei Jahren Ihre Themen aufzählten, fragte ich mich: Und was will er berichten, wenn er die fünf Geschichten geschrieben hat?«, sagte er anerkennend.
So ist das mit Kanada – viel geliebt als Urlaubsland, ein Einwanderungsland, hoch geachtet, und doch so völlig unbekannt. Viel Landschaft, Seen, Wälder, Natur, Weite, einige große Städte. Und dann? Ich wusste, dass in Kanada Geschichten zuhauf zu finden sind. Sorgen, dass es mir an Themen mangeln werde, plagten mich nicht, auch wenn mir bewusst war, dass Geschichten aus Kanada meist keine »Muss-Geschichten« sind, die unbedingt ins Blatt kommen sollten. Ich kannte ja das Land, das in europäischen Medien oft ein großer weißer Fleck da oben im Norden ist. Ich wusste, dass ich nicht nach Norden reise, wenn ich von Deutschland nach Montréal, Toronto oder Ottawa fliege, denn diese drei Städte liegen südlicher als Deutschland, Toronto und die Niagara-Region sogar auf dem Breitengrad von Florenz. Ich wusste, dass man nicht einfach mal schnell von Ottawa nach Vancouver reist, so als würde man von Frankfurt nach Köln oder München fahren. Ich kannte das Land – so dachte ich jedenfalls. 1978 hatte ich Kanada mit der Eisenbahn durchquert. Es war meine erste große Kanada-Reise. Ich wollte das Land erfahren, in dem ich 1954 geboren wurde, in dem ich aber, abgesehen von meinen ersten Monaten, nie lebte. Aber dessen Staatsbürgerschaft ich hatte, weil ich halt in Toronto the Good geboren wurde. Diese Reise quer durch das Land faszinierte mich. Vier Jahre später folgte die zweite große Reise quer durch Kanada, diesmal mit einem Campingbus. Dann ein weiterer Urlaub an der Westküste, und schließlich 1997 der Umzug nach Kanada mit der ganzen Familie, zu der zwei Kinder im Teenageralter gehörten. Es war ein verrücktes Unternehmen, aber warum nicht. Es war ja nur für drei, maximal fünf Jahre geplant. Davon war ich überzeugt. Das war vor 24 Jahren.
Die Geschichten gingen mir nicht aus. Ich musste mir eingestehen, dass ich das Land eben doch nicht kannte, sondern es erst erleben musste – die riesigen Dimensionen, das Arbeiten in sechs Zeitzonen, die fremde Politik, die Geschichte und die Besonderheiten seiner Bevölkerung. Auch Ärger und Enttäuschungen musste ich verarbeiten. »Das Leben hier ist so wie das Land«, sagte mir nach ein paar Wochen einer, der seit vielen Jahrzehnten hier lebte. »Du siehst das schöne Land, die grünen Wälder und die Seen, alles nett und freundlich, aber direkt darunter liegt der Kanadische Schild, diese harte Gesteinsformation.« Durchweg positive Bilder, die ausgedehnte Reisen schaffen, entsprechen dann doch nicht der Realität des Alltags. Es war schwerer, Freunde zu finden, als wir es uns vorgestellt hatten. Es war doch so einfach gewesen, auf den Reisen Kontakte zu knüpfen. Wir vermissten Freundschaften, wie wir sie aus Deutschland kannten. Wir wollten mit Menschen zusammensitzen und quatschen, ganz spontan, nicht nur bei einem mehr oder weniger formal dinner, das längerfristig geplant und abgesprochen werden muss, mit einer Flasche Wein, und wenn die leer war, gab’s Tee oder Kaffee und dann war es Zeit zu gehen. Ein grauer Novemberabend oder der endlos lange Winter in Ottawa sind doch etwas anderes als ein Sommerabend auf einem Campingplatz in einem Nationalpark. Nach ein paar Wochen hätte ich zugegriffen, wäre mir ein Rückflugticket nach Deutschland angeboten worden. Meine Frau erfuhr, dass ihre beruflichen Qualifikationen hier nicht das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben standen. Ich musste, nach 25 Jahren Fahrpraxis in Europa, den Führerschein noch einmal machen, weil der deutsche Führerschein in Ontario damals nicht anerkannt wurde, und ich fiel prompt durch die Fahrprüfung. Ich sei nicht erfahren genug, in Kanada Auto zu fahren, meinte Joe, der Prüfer. Mit Mühe hielt ich ein Schimpfwort zurück, das mit »f« beginnt und für das Pierre Trudeau einst die Umschreibung fuddle duddle kreiert hatte.
Aber das alles ist nun fast ein Vierteljahrhundert her! Es lebt sich gut hier, auch wenn ich Kanada nicht für »das beste Land der Welt« halte, als das es manchmal bezeichnet wird, denn das gibt es nicht. Daran ändern auch fragwürdige und selektive Statistiken, in denen Kanada ganz oben steht, oder Selbsteinschätzungen auf Glücks- oder sonstigen Barometern nichts. Kanada hat seine Geschichte und seine Vor- und Nachteile, über die Politik kann man vortrefflich meckern, vielleicht nicht ganz so nörglerisch wie in old Germany, und über manche Sitten und Gebräuche muss ich mich bis heute wundern. Zu den interessanten Erfahrungen eines langen Aufenthalts in einem anderen Land gehört, dass sich so manches verklärt, was man früher in seinem Herkunftsland erfahren und über das man sich geärgert hatte. Aber das wird meist wieder geradegerückt, wenn man eingehende Gespräche mit Eu-ropäern über ihre Probleme führt oder zu einem längeren Besuch zurückkehrt.
Kanada ist ein Land, das immer im Schatten der gewaltigen USA zu stehen scheint. Es kommt nicht polternd daher wie der große Nachbar im Süden. Es ist bescheiden und legt viel Wert auf Gemeinsinn. Das zeigt sich auch in der bemerkenswerten Wahl des Greatest Canadian. Als der kanadische Rundfunk CBC im Jahr 2004 in einer Sendereihe und Zuschauerbefragung den Greatest Canadian ermittelte, lag am Ende nicht einer der bekannten Premierminister, ein Militär oder Sportler vorne, sondern ein Mann, den außerhalb Kanadas wohl nur wenige kennen: Thomas »Tommy« Douglas, als Premier der Prärieprovinz Saskatchewan ab 1944 der erste sozialdemokratische Regierungschef nicht nur in Kanada, sondern in Nordamerika. Er ist der Vater von Medicare, des staatlichen Gesundheitswesens, das zunächst in Saskatchewan und dann schrittweise bis 1966 landesweit eingeführt wurde. An zweiter Stelle kam Terry Fox, ein junger Kanadier, der 1980 nach einer durch Krebs bedingten Beinamputation mit Beinprothese einen Marathon of Hope quer durch Kanada begann, um damit Geld für die Krebsforschung zu sammeln. Zwei Personen, die für das »soziale« Kanada stehen. Dazu passt auch, dass volunteer work, also ehrenamtliche Arbeit, in jede Vita und jeden Lebenslauf gehört. Ohne sie sind Bewerbungen auf Arbeitsplätze nahezu aussichtslos.
Kanada ist riesig, wenn man die geografische Größe betrachtet, aber ansonsten eigentlich in jeder Beziehung eine Mittelmacht. Die Nachbarschaft zum US-Riesen und die engen persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen bedingen, dass die Kanadierinnen und Kanadier sich und ihr Land immer wieder mit den USA vergleichen. Dieser Vergleich fällt oft zu ihren Gunsten aus, vor allem, wenn es um Gesellschaft und Soziales geht und nicht um reine wirtschaftliche oder militärische Macht. Das trägt maßgeblich dazu bei, dass man sich als Kanadier im allgemeinen wohlfühlt und manchmal sogar ein Gefühl der moralischen Überlegenheit entwickelt. Aber diesen Vergleich Kanada/USA stellen ja auch die Europäer an. Ich erinnere mich an den Ottawa-Besuch einer deutschen Ministerin, die ich persönlich seit vielen Jahren kannte. »Du lebst ja hier im besseren Teil Nordamerikas«, sagte sie mir. Das war in den Jahren, in denen die Distanz zwischen den liberalen europäischen Staaten und den von Präsident George W. Bush regierten USA besonders groß schien. Dass das im Vergleich zu den Verwerfungen, die sich später in der Trump-Ära auftun...
| Erscheint lt. Verlag | 20.9.2021 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Länderporträts | Länderporträts |
| Zusatzinfo | 1 Karte/Tabelle |
| Sprache | deutsch |
| Maße | 130 x 130 mm |
| Themenwelt | Reiseführer ► Nord- / Mittelamerika ► Kanada |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Schlagworte | Beer und Liquor Stores • Hockey • Indigene • Justin Trudeau • Mentalität • Multikulturalismus • Pierre Trudeau • Politik • Terry Foy • vimy Ridge • Wirtschaft |
| ISBN-10 | 3-86284-509-5 / 3862845095 |
| ISBN-13 | 978-3-86284-509-5 / 9783862845095 |
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