Die Kinder von Teheran (eBook)
440 Seiten
wbg Theiss (Verlag)
978-3-8062-4318-5 (ISBN)
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (*1947) ist Professorin (em.) für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Neben zahlreichen Arbeiten zur englischen Literatur und zur Archäologie der literarischen Kommunikation beschäftigt sie sich besonders mit der Thematik der Erinnerung und des Vergessens. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Ägyptologen Jan Assmann, prägte sie den Begriff des kulturellen Gedächtnisses. 2018 wurden Aleida und Jan Assmann mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann (*1947) ist Professorin (em.) für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Neben zahlreichen Arbeiten zur englischen Literatur und zur Archäologie der literarischen Kommunikation beschäftigt sie sich besonders mit der Thematik der Erinnerung und des Vergessens. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Ägyptologen Jan Assmann, prägte sie den Begriff des kulturellen Gedächtnisses. 2018 wurden Aleida und Jan Assmann mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Einleitung - New York City, 2007 7
1 "Hier fühlen sich alle wie neu geboren" - Iran, August 1942 22
2 Eine liberale Familie - Ostrów Mazowiecka (Polen), 1939 49
3 Über die Grenze - Von Hitler zu Stalin 71
4 Ukasniks in der Sowjetunion - Als Zwangsarbeiter in Archangelsk und Komi 97
5 "Ich bin Jude" - "Ich bin Usbeke" 141
6 Polnische Exilanten und jüdische Hilfsaktionen - London, New York und die UdSSR 209
7 Samarkand - Die Stadt voller Flüchtlinge 256
8 Polen und Juden in Teheran - Zwei Nationen erfinden sich 287
9 Die Kinder Israels - Im Kibbuz En Charod 372
Die Welt mit den Augen der Flüchtlinge sehen Nachwort von Aleida Assmann 429
Anhang 435
Dank 435
Anmerkungen 439
Archive 453
Literatur 453
Filme und Videos 457
Interviews 457
Abbildungsnachweis 458
Register 458
Einleitung
New York City, 2007
Der Tag, an dem ich mich auf die Spuren der Kinder von Teheran begab, war der Tag, an dem ich Salar Abdoh traf. Wobei „treffen“ eigentlich nicht das richtige Wort ist. Unsere Blicke waren sich schon oft begegnet, und das nicht ohne eine gewisse Neugier: im Postraum, bei Fakultätssitzungen, auf den Fluren des North Academic Center – das ist der fensterlose, trostlose Fremdkörper auf dem altehrwürdigen, mit Prachtbauten im neugotischen Stil übersäten Campus des City College of New York, an dem wir beide englische Literatur unterrichteten. Vielleicht hatten wir sogar schon einmal einige Worte gewechselt. Aber am letzten Tag des akademischen Jahres 2007 / 2008 führten wir unser erstes richtiges Gespräch, das erste von Hunderten.
Die paar Jahre vor meiner Begegnung mit Salar waren die schlimmsten Jahre meines Lebens gewesen. Ich hatte ein Kind bekommen – einen Säugling, der schließlich zum Kleinkind geworden war, aber trotzdem niemals schlief; ich hatte eine bislang noch unförmige Doktorarbeit zu schreiben begonnen und viele, viele Seminare zu unterrichten. Ich hatte nur wenig – bezahlte – Unterstützung und keine weiteren Verwandten in New York. An drei Nachmittagen in der Woche schneite ich im North Academic Center herein, um meine Seminare zu halten, und eilte danach gleich zurück nach Hause, zu meinem Sohn. Am Abend schrieb ich, zwischen den Fütterungen, an meiner Dissertation.
So verging ein akademisches Jahr, dann das nächste, und meine Doktorarbeit nahm – irgendwie – doch Form an. Als ich auf dem Weg zu meiner mündlichen Promotionsprüfung an der Columbia University die Treppen der Kent Hall hinaufstieg, traf ich meine Mentorin, die inzwischen leider verstorbene Literaturtheoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die mir aufmunternd zunickte. Ich fühlte mich unglaublich leicht. Schon Ende Mai sollte ich in Talar und Barett bei der Abschlussfeier der Columbia University meine erfolgreiche Promotion begehen, und im September dann meine Stelle am City College vom „Instructor“ zum „Assistant Professor“ hochgestuft werden, was ein höheres Gehalt bei niedrigerer Lehrverpflichtung bedeuten würde. Im April zeigte sich der Frühling von seiner herrlichsten Seite: Der Himmel über New York war klar und blau, ein angenehm frisches Lüftchen wehte. Ich hatte mich entschieden, die letzte Seminarsitzung des Semesters im Freien zu halten, und saß mit meinen Studenten auf dem frisch gemähten Rasen vor der Shepard Hall, wo wir uns leise, aber angeregt, über Melville und Freud unterhielten. Auf dem Rückweg vom Seminar traf ich Salar, der mich und ein paar andere in sein Büro einlud, um auf den Abschluss des Semesters anzustoßen.
Salars Dienstzimmer war sehr anheimelnd, es gab kleine Teppiche auf dem Boden und andere, sogenannte Kelims, an den Wänden, dazu Lampen für indirektes Licht, und so wurde die Eintönigkeit des Institutsgebäudes in Luft aufgelöst. Es gab auch eine Art Sitzecke, wo einige von uns herumlungerten, Rotwein nippten und dabei den neuesten Uni-Klatsch austauschten. Ich weiß noch, dass mir Salars ein wenig altmodische Manieren auffielen, eine Herzlichkeit und Etikette, wie ich sie von meinem Vater und Großvater kannte, die den Angehörigen unserer eigenen Generation jedoch abhandengekommen schien. Mir fiel auch auf, dass er von allen unseren Kollegen das größte Interesse an Israel zeigte (wo ich aufgewachsen war), dabei jedoch am wenigsten moralisierte. Als das Gespräch schließlich auf die Küstenlandschaften des Nahen Ostens kam – die wir, wie sich herausstellte, beide liebten, und Salars Familie hatte vor der Islamischen Revolution ein Haus am Kaspischen Meer besessen –, da erwähnte ich, dass wohl mein Vater das Kaspische Meer überquert hatte, als er im Zweiten Weltkrieg in den Iran gekommen war. Sicher wusste ich, dass mein Vater damals auch eine Weile in Teheran gewesen war, dass er und seine Schwester dort zu einer Gruppe junger Flüchtlinge gehört hatten, die Tehran Children genannt wurden – die „Kinder von Teheran“ –, aber viel mehr wusste ich nicht.
Salar stand auf, ging zum Schreibtisch und tippte ein paar Worte in seinen Computer. Dann rief er mich zu sich herüber, um mir etwas zu zeigen. Auf dem Bildschirm sah ich eine Ausgabe von The Iranian, einem Onlinemagazin über das politische und kulturelle Geschehen im Iran. Es war die Nummer vom 23. Februar 2006, und auf der Titelseite las ich die Überschrift „Fehler, die tief blicken lassen – der Iran, die Juden und der Holocaust: Eine Antwort an Mr. Black“ und darunter einen Meinungskommentar des Politikwissenschaftlers Abbas Milani. Dann begann ich weiterzulesen, und ich las das Folgende:
„Anfang Januar dieses Jahres hat ein prominenter US-Journalist eine Polemik gegen den Iran veröffentlicht, deren Abwegigkeit verblüfft: Am Holocaust soll das Land beteiligt gewesen sein! … [Black] behauptet, wenn wir uns der ‚Vergangenheit [des Irans] zur Hitlerzeit‘ zuwendeten, würden wir feststellen, dass ‚der Iran und die Iraner eng mit dem Holocaust und dem Hitlerregime verbunden waren‘. Dabei belegen die historischen Fakten das genaue Gegenteil von dem, was Mr. Black uns weismachen will. Sobald die ersten Anzeichen der mörderischen ‚Endlösung‘ sichtbar wurden, teilte die damalige iranische Regierung den Nazi-‚Rassenexperten‘ in Deutschland mit, dass die iranischen Juden seit mehr als 2500 Jahren im Iran gelebt hätten und vollständig assimilierte iranische Bürger seien, weshalb ihnen auch alle Bürgerrechte zustünden. Die Nazis ließen sich überzeugen, akzeptierten diese Argumentation, und die Leben sämtlicher iranischer Juden, die sich im Herrschaftsbereich des NS-Regimes aufhielten, wurden gerettet. … Außerdem wurden …, als die deutsche Vernichtungsmaschinerie zur massenhaften Ermordung unschuldiger polnischer Juden anlief, 1388 Juden, darunter 871 Kinder, nach Teheran gebracht, wo sie bis zu ihrer Ausreise nach Israel in relativer Sicherheit leben konnten. … In der History of Contemporary Iranian Jews [‚Geschichte der iranischen Juden in der Gegenwart‘] findet sich ein Bericht über diese sogenannten ‚Kinder von Teheran.‘“1
Eine ganze Weile starrte ich auf den Bildschirm, dann zu Salar hinüber – und dann musste ich mich erst einmal setzen, um mir den Artikel in aller Ruhe genauer durchzulesen. Die „Kinder von Teheran“, zu denen auch mein Vater Hannan (Hannania), seine Schwester Riwka (Regina) und ihre Cousine Noemi (Emma) gehörten, waren jüdische Flüchtlingskinder aus Polen, die 1943 über den Iran nach Palästina kamen. Aber bis zu jenem Moment in Salars Büro hatte ich das Wort „Teheran“ in der Bezeichnung nie als einen tatsächlichen Ort aufgefasst. Dass mein Vater ein „Kind von Teheran“ war, hatte für mich immer ganz selbstverständlich zu den Merkmalen seiner Person gehört, so wie er ja auch glattes, ein wenig grobes, schwarzes Haar gehabt hatte, das er stets zurückgekämmt trug über seinen kleinen, blauen, leicht schräg gestellten Augen. Oder dass er am 10. Oktober 1993 gestorben war, ein Jahr nach seinem Abschied bei der israelischen Luftwaffe, wo er 48 Jahre lang Dienst getan hatte.
Zwar hatte ich als Komparatistin – als Spezialistin für vergleichende Literaturwissenschaft – gelernt, gleichsam über Staats- und Ländergrenzen hinweg zu lesen und zu interpretieren; aber bis zu jenem Moment wäre ich im Traum nicht darauf gekommen, mir die Geschichte der „Kinder von Teheran“ in irgendeiner anderen Verbindung oder Deutung vorzustellen als jener, mit der ich in Israel aufgewachsen war: als eine erfolgreiche Mission zur Rettung jüdischer Kinder, durchgeführt von der Zionistischen Weltorganisation. Die Geschichte meines Vaters war eine typisch israelische Geschichte, ein Bestandteil der kollektiven Mythologie unseres Landes, und deshalb konnte sie in der Geschichtsschreibung eines anderen Landes gar nicht vorkommen – und schon gar nicht in der historischen Erinnerung eines Staats, der in neuerer Zeit zu einem politischen Gegner Israels geworden war. In meinen Augen war mein Vater noch nicht einmal ein Holocaustüberlebender. Holocaustüberlebende, das waren Leute, die im Israel meiner Kindheit und Jugend eine Aura gedämpfter Scham und Angst verströmten. Die „Kinder von Teheran“ hingegen, das waren echte Israelis: Kibbuzniks, Armeegeneräle, Leute in den Medien, erfolgreiche Unternehmer. Nicht die Verstoßenen Europas, sondern die ersehnten, verheißenen Söhne und Töchter Israels, sprichwörtliche „Glückskinder“, die der aufstrebende Judenstaat hatte unter seine Fittiche nehmen können. Wenn mich in meiner Kindheit jemand fragte, ob mein Vater ein Überlebender sei, hatte ich immer dieselbe Antwort parat: „Nein – er war ein ‚Kind von Teheran‘!“
Die Gründerväter meiner Forschungsdisziplin, der Komparatistik oder vergleichenden Literaturwissenschaft, sind Flüchtlinge gewesen: René Wellek, Erich Auerbach und...
| Erscheint lt. Verlag | 28.4.2021 |
|---|---|
| Nachwort | Aleida Assmann |
| Übersetzer | Tobias Gabel |
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
| Schlagworte | 2. Weltkrieg Flüchtlinge • Aleida Assmann • Buch Holocaust • Diaspora • Flucht • Flüchtlinge • Flüchtlingsstrom • Flucht und Vertreibung • Geschichte Israels • Holocaust • Iran • Iran Geschichte • Juden • Judenfeindlichkeit • Juden im Iran • juden in polen • Judentum • Judenverfolgung • Jüdischer Flüchtling • Kasachstan • Kinder im 2 Weltkrieg • Naher Osten • Nationalsozialismus • Naziverbrechen • Palästina • Palästina Geschichte • Persien • Polen • Sowjetunion • Teheran • teheran children • tehran children • Usbekistan • Verfolgung |
| ISBN-10 | 3-8062-4318-2 / 3806243182 |
| ISBN-13 | 978-3-8062-4318-5 / 9783806243185 |
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