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Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien (eBook)

Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen - Von den »Protokollen der Weisen von Zion« bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
368 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-26384-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien -  Richard J. Evans
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Ein Geschichtsbuch wie gemacht für unser post-faktisches Zeitalter
Nichts in der Geschichte passiert zufällig, alles ist Ergebnis geheimnisvoller Machenschaften - diese Vorstellung ist so alt wie die Geschichte selbst. Gerade jetzt, in Zeiten von Populismus und Fake News, finden Verschwörungstheorien immer mehr Anhänger und treten nirgendwo offensichtlicher zutage als in den revisionistischen Geschichtserzählungen über das Dritte Reich. Von den »Protokollen der Weisen von Zion«, über die »Dolchstoßlegende«, den Reichstagsbrand und Rudolf Heß' »Friedensangebot« an die Briten bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker zerlegt der renommierte Historiker Richard Evans die fünf einflussreichsten Legenden des Dritten Reichs höchst unterhaltsam und mit forensischer Genauigkeit und erkennt darin überraschende Muster.

Richard J. Evans, geboren 1947, war Professor of Modern History von 1998 bis 2008 und Regius Professor of History von 2008 bis 2014 an der Cambridge University. Seine Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Nationalsozialismus waren bahnbrechend. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Wolfson Literary Award for History und die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg. 2012 wurde Evans von Queen Elizabeth II. zum Ritter ernannt. Zuletzt sind von ihm erschienen »Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914« (DVA 2018), »Das Dritte Reich uns seine Verschwörungstheorien« (DVA 2021) und »Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910« (Pantheon 2022).

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Das Pamphlet, das allgemein als Die Protokolle der Weisen von Zion bekannt ist, trägt eigentlich den Titel »Aus den Verhandlungs-Berichten der ›Weisen von Zion‹ während des 1. Zionisten-Kongresses, der 1897 in Basel abgehalten wurde«. Den Kongress gab es wirklich, die Protokolle behaupten jedoch, hinter dessen Kulissen habe gleichzeitig eine Reihe von Geheimsitzungen stattgefunden. Damals war der Zionismus eine winzige, noch in den Kinderschuhen steckende Bewegung, die selbst in jüdischen Kreisen nahezu unbekannt war. Noch in den 1920er Jahren wusste die breite Öffentlichkeit kaum etwas von ihrer Existenz. Ihr Ziel war es, Juden zu ermuntern, sich in Palästina niederzulassen, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Den meisten Lesern konnte jedoch leicht eingeredet werden, der Erste Zionistenkongress sei eine Art Generalversammlung der jüdischen Weltgemeinde gewesen, auch wenn so etwas nicht existierte.15

Die angeblichen »Protokolle« geben in einer langen Reihe kurzer Absätze den Inhalt von vierundzwanzig Sitzungen wieder: Überall, heißt es am Anfang, hat das Böse die Oberhand über das Gute gewonnen; Gewalt und Geld regieren die Welt. »Wir«, das heißt die Juden, kontrollieren das Geld und damit die Welt. Macht bedeute Recht, und die Herrschaft über die blinde Masse könne nur ohne moralische Vorbehalte ausgeübt werden. »Unsere« Methoden sind Terror und Täuschung, und um die Macht zu ergreifen, müsse man die Adelsvorrechte aufheben und durch die Herrschaft »unserer« Bankiers und Intellektuellen ersetzen. Aufgrund »unserer« Kontrolle über die Presse sind »wir« in der Lage, die Überzeugungen, auf denen die soziale Stabilität beruht, zu untergraben; tatsächlich habe man bereits erfolgreich die schädlichen Lehren von Marx, Darwin und Nietzsche propagiert. Ganz ähnlich spalten »unsere« Zeitungen und Pamphlete die Gesellschaft, indem sie Zwietracht säen und durch die Rekrutierung der Massen für Bewegungen wie die anarchistische, kommunistische und sozialistische das Vertrauen in die Regierung untergraben. Gleichzeitig würde man die Aufmerksamkeit der Nichtjuden durch einen zerstörerischen ökonomischen Kampf aller gegen alle in der freien Marktwirtschaft von deren wirklichen Herren ablenken, nämlich von »uns selbst«. »Wir« nutzen unseren Einfluss, um die Industrie zu zerstören, indem »wir« eigene Monopole aufbauen, zum Schuldenmachen und zu unklugen Investitionen animieren und die Inflation vorantreiben. Außerdem werde man einen Rüstungswettlauf in Gang setzen und den Ausbruch verheerender Kriege fördern. Am Ende seien die Nichtjuden verarmt und reif für die Übernahme.16

Das allgemeine Wahlrecht werde die Massen an die Macht bringen, heißt es in den vermeintlichen »Protokollen« weiter, aber »wir«, die Juden, kontrollieren die Massen: »Die Nichtjuden sind eine Hammelherde, wir Juden aber sind die Wölfe.« »Wir« werden durch die Verbreitung unmoralischer Schriften die moralische Ordnung untergraben, zu gegebener Zeit dann überall auf der Welt Revolutionen auslösen und gnadenlos alle hinrichten, die »uns« im Weg sind. Nach der Machtergreifung werden »wir« die Presse und die Verlage derart zensieren, dass keine Kritik mehr möglich sein wird. Die Realitätswahrnehmung der Menschen werde durch Massensport, Unterhaltung und die Einrichtung von Bordellen getrübt sein. Neben dem Judentum werden »wir« keine andere Religion erlauben. Alle nichtjüdischen Freimaurer werde man hinrichten, überall auf der Welt würden jüdische Logen entstehen. Alte Richter werde man durch jüngere ersetzen, die bereit seien, sich der Herrschaft der Stärkeren zu beugen. Die Lehre von Recht, Politologie und sämtlichen Geisteswissenschaften werde man von den Universitäten verbannen. »Wir werden aus dem Gedächtnis der Menschheit alle Tatsachen der Geschichte streichen, die uns unbequem sind, und nur diejenigen übrig lassen, bei denen die Fehler der nichtjüdischen Regierungen besonders hervortreten.« Die Bildung werde man auf praktische Fähigkeiten beschränken, Lehrer zwingen, Propaganda für »uns« zu betreiben. Rechtsanwälte könnten nicht mehr unabhängig sein, sondern müssten im Interesse des Staates handeln. An die Stelle des Papstes werde man einen neuen jüdischen König setzen. Schritt für Schritt werde man die Grundsteuern erhöhen und Spekulation unmöglich machen. Arbeitslosigkeit und Alkoholismus werde man zum Verschwinden bringen, während die moderne Massenproduktion eingeschränkt und kleine Handwerksbetriebe gestärkt würden.17

Geschwätzig, chaotisch und unstrukturiert, wie es ist, kann das Pamphlet kaum als Musterbeispiel für antisemitische Hetzrhetorik herhalten. Es ist abstrakt formuliert, wiederholt sich ständig und steckt voller Widersprüche; der deutlichste ist vielleicht derjenige zwischen dem ständigen Verweis auf die Freimaurer in den Abschnittsüberschriften und ihrer häufig fehlenden Erwähnung im Text. Mal ist von einer allgemeinen Weltrevolution die Rede, ein andermal davon, dass die Revolution nur in einem einzigen Land stattfinden werde. Zu den exzentrischen Aussagen des Pamphlets gehört die Ankündigung, die Juden würden die Tunnel der U-Bahnen, die damals in vielen Großstädten der Welt gebaut wurden, mit Sprengstoff füllen und in die Luft jagen, sollten sie sich jemals bedroht fühlen.18 Doch die Dystopie, welche die Juden nach ihrer vermeintlich angestrebten Oberherrschaft angeblich schaffen wollten, trägt in vieler Hinsicht merkwürdig positive Züge: Wer hätte beispielsweise etwas gegen Vollbeschäftigung oder eine Welt ohne Alkoholismus einzuwenden?19

Bemerkenswerterweise fehlen viele der Kernelemente der antisemitischen Ideologie in dem Pamphlet. So fallen traditionelle Aussagen des religiösen Antisemitismus durch ihre Abwesenheit auf; beispielsweise sagen die angeblichen jüdischen Verschwörer nicht, die Juden hätten Jesus getötet, sie würden Hostien schänden, Brunnen vergiften und christliche Knaben ermorden.20 Auch moderne, rassistisch-antisemitische Klischees sind in den Protokollen nicht zu finden; nirgends sprechen die »Weisen von Zion«, beispielsweise über ihre Rasseneigenschaften, wie sie sich der antisemitische Autor des Pamphlets vorgestellt haben mag, nirgends höhnen sie über Merkmale anderer Rassen oder äußern den Wunsch, die Gesellschaft durch Rassenmischung zu untergraben – eine von Hitlers wirkmächtigsten Obsessionen. Wie Stephen Bronner bemerkt, fehlen dem Text »die biologischen und wissenschaftlichen Grundlagen, die von modernen Heuchlern wie Adolf Hitler so bewundert wurden«.21 Der Kontext der Fabrikation der Protokolle an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist vielmehr geprägt durch eine Besessenheit von dem, was an den Universitäten gelehrt wurde, von der Verantwortungslosigkeit der Presse und von der Manipulation der Finanzwelt.22 Darüber hinaus weisen auch die Äußerungen über ein Wettrüsten, die Förderung der heimischen Produktion, den Aufstieg des allgemeinen Wahlrechts und der politischen Demokratie sowie die Gefahr des Anarchismus auf eine Entstehungszeit in den letzten anderthalb Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hin. Hinzu kommt noch, dass der Bolschewismus mit keinem Wort erwähnt wird, dessen vermeintliche Rolle in der imaginären jüdischen Weltverschwörung ein Kernelement der antisemitischen Phantasien der Jahre nach den europäischen Revolutionen von 1917/18 werden sollte. Das Pamphlet verkörperte mit seiner merkwürdigen Mischung aus häufig bizarren Vorstellungen und seinen zahlreichen Auslassungen weder den traditionellen noch den modernen Antisemitismus, es war vielmehr ein Dokument sui generis.

Den Protokollen lassen sich, wenn auch teils mühselig, einige allgemeine Grundsätze entnehmen: (1) die Vorstellung, dass es eine Gruppe jüdischer »Weiser« gebe, die sich in globalem Maßstab dazu verschworen habe, die Gesellschaft systematisch zu untergraben und einer jüdischen Diktatur zu unterwerfen; (2) dass dies durch die Verbreitung zersetzender Ideologien geschehen solle, nämlich durch Liberalismus, Republikanismus, Sozialismus und Anarchismus; (3) dass diese organisierten Juden die Presse und die Wirtschaft kontrollieren und ihre Macht nutzen, um die Gesellschaft verarmen zu lassen und ihre Kernwerte auszuhöhlen; (4) dass unter der Oberfläche des Alltagslebens, der politischen Institutionen und ökonomischen Strukturen, wie wir sie wahrnehmen, eine verborgene, bösartige Macht lauert; (5) dass, was wir für fortschrittlich und demokratisch halten – ob nun die Ausweitung des Wahlrechts oder die Verbreitung liberaler Institutionen –, in Wirklichkeit einer weiteren Taktik der jüdischen Weltverschwörung zur Erlangung der Herrschaft über die nichtjüdische Welt entspringt; (6) dass Kriege nicht durch den Zusammenprall von Zielen und Überzeugungen verschiedener Staaten entfacht werden, sondern wiederum durch die Machenschaften der »Weisen von Zion«; (7) schließlich wird implizit unterstellt, dass auch scheinbar tief sitzende Antagonismen, wie etwa zwischen Sozialisten und Kapitalisten, von einer jüdischen Verschwörung geschürt werden, welche die nichtjüdische Gesellschaft zu untergraben versucht, indem sie diese spaltet und so in Konflikt mit sich selbst bringt.23 Diese Grundsätze sind jedoch weder exklusiv in den Protokollen ausgedrückt, noch haben sie ihren Ursprung in ihnen. Es gab sie im frühen 20. Jahrhundert bereits, und die Protokolle boten lediglich eine...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2021
Übersetzer Klaus-Dieter Schmidt
Sprache deutsch
Original-Titel THE HITLER CONSPIRACIES
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Adolf Hitler • Antisemitismus • Dolchstoßlegende • eBooks • Geschichte • jüdische Weltverschwörung • Nationalsozialismus • postfaktisches Zeitalter • Post truth • Reichstagsbrand • Rudolf Heß • Soziale Medien • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-26384-0 / 3641263840
ISBN-13 978-3-641-26384-3 / 9783641263843
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