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Der Mensch und seine Grammatik (eBook)

Eine historische Korpusstudie in anthropologischer Absicht

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
349 Seiten
Narr Francke Attempto Verlag
978-3-8233-0044-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mensch und seine Grammatik - Simon Kasper
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Welchen Stellenwert hat die Kenntnis einer Grammatik für das Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst? Und wofür braucht es Grammatik überhaupt, wenn grammatische Mehrdeutigkeit ohnehin meist unbemerkt bleibt und selten ein Verständnisproblem darstellt? Auf diese Fragen gibt Simon Kasper empirisch und theoretisch fundiert eine umfassende Antwort. Anhand einer historischen Korpusstudie an Paralleltexten dokumentiert er den erfolgreichen menschlichen Umgang mit Mehrdeutigkeit und liefert in der Folge einen anthropologischen Entwurf zum Verstehen, der sowohl der leiblichen Existenz des Menschen (Embodiment) als auch der Grammatizität seiner Sprache Rechnung trägt. Dabei bezieht er nicht nur Grundannahmen der Kognitiven Linguistik und der Philosophischen Anthropologie ein, sondern führt auch quantitative (Frequenz) und qualitative (Bedeutsamkeit) Ansätze der Sprachtheorie zusammen.

Simon Kasper lehrt an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachtheorie und Variationslinguistik.

Simon Kasper lehrt an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachtheorie und Variationslinguistik.

1 Einleitung: Verstehen als Leistung
2 Leistungen und Grenzen der sprachlichen Eigenstruktur
3 Der Beitrag außergrammatischer Hinweise
4 Bedeutsamkeit, Sprache und Gewissheit: eine anthropologische Skizze

1.6 Die „W“-Fragen des vorliegenden Buches


Das vorliegende Buch stellt den Versuch dar, besser zu verstehen, wie Sprachbenutzerinnen auch angesichts von Mehrdeutigkeit sprachliche Äußerungen verstehen, das heißt erfolgreich oder richtig interpretieren können. Dafür war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass dem Verstehen sowohl von nichtsprachlichen als auch von sprachlichen Phänomenen (Be-)Deutungstätigkeiten zugrunde liegen, die sich in sehr basalen Aspekten – den W-Fragen im Dienste von Was kann ich (jetzt) tun? – gleichen und sich in anderen Aspekten – der Mehrschichtigkeit von sprachlichen Äußerungen – unterscheiden. Insofern sucht dieses Buch, wie jede Interpretation, Antworten auf die oben genannten W-Fragen.

Was ist es? Das infragestehende Phänomen kann bereits grob charakterisiert werden. Es sind mehrdeutige Äußerungen auf der einen und die offensichtliche Problemlosigkeit, mit der Sprachbenutzerinnen erfolgreich mit ihnen umgehen, auf der anderen Seite. Dass Sprachbenutzerinnen auch mehrdeutige Sätze verstehen können, ist für sich genommen noch nicht überraschend. Auch Sprachbenutzerinnen, die nicht zugleich professionelle Linguistinnen sind, erklären sich ihre Verstehensfähigkeiten und berufen sich dabei gern – und durchaus zu Recht – auf den Kontext, anhand dessen alle oder fast alle Äußerungen verstehbar seien. Als Kontext gilt bei dieser nichttechnischen Verwendung des Ausdrucks bald mehr, bald weniger von dem, was in der fraglichen Äußerung nicht zur lexikalischen oder grammatischen Bedeutung gehört und nicht auf Basis der Wörter und ihrer Verknüpfung zuverlässig erschlossen werden kann. Zu diesem Kontext im weiteren Sinne zählen erstens das in vorangegangenen und nachfolgenden Äußerungen grammatisch und lexikalisch Ausgedrückte – der Kotext, zweitens die vielfältigen Faktoren, die die Situation kennzeichnen, in der die Äußerung getätigt und/oder rezipiert wird – der Kontext im engeren Sinne –, und drittens das sogenannte Weltwissen, das heißt das enzyklopädische Wissen über basale, aber auch beispielsweise kulturspezifische Zusammenhänge in der Wirklichkeit, unabhängig von der konkreten Äußerung, ihrem Kotext und Kontext. Auf Basis dieser Informationstypen dürfte tatsächlich so gut wie jede Äußerung im Alltag, sei es in einer face-to-face-Situation oder bei der Lektüre eines Textes, zum Beispiel eines Bibeltextes, für eine kompetente Sprachbenutzerin verstehbar sein.

Ich möchte in diesem Buch daher eine sehr viel stärkere Hypothese überprüfen: Für das Verstehen von Äußerungen, die hinsichtlich der Frage mehrdeutig sind, was in ihnen womit in welcher Beziehung steht, sind auf der Seite einer muttersprachlich kompetenten Rezipientin mit normalen kognitiven Fähigkeiten so gut wie keine dieser Informationsquellen erforderlich. Ist sie mit einer grammatisch mehrdeutigen Äußerung konfrontiert, so wird sie fast vollständig ohne Informationen auskommen, die über die infragestehende Äußerung hinausgehen. Hier möchte ich es fürs Erste mit der Präzisierung bewenden lassen, dass die Informationen, auf die die Rezipientin sich stützen kann, aufs Engste mit der Belebtheitshierarchie zusammenhängen.1

Wo ist das Phänomen zu finden? Äußerungen, die mehrdeutig hinsichtlich der Frage sind, was in ihnen womit in welcher Beziehung steht, finden sich überall dort, wo die konventionellen grammatischen Mittel für den Ausdruck solcher Beziehungen in einer Sprache nicht verfügbar oder trotz prinzipieller Verfügbarkeit unzuverlässig sind. So sind in Beispiel (1) einige Kasusmarkierungen (si beziehungsweise de Jünger) prinzipiell verfügbar, aber bei den vorliegenden Ausdrücken unzuverlässig und die Reihenfolge zwischen den Ausdrücken wird nicht konventionell für die Unterscheidung von Subjekt und Objekt verwendet. Verschiedene Sprachen und Sprachstufen einer Sprache unterscheiden sich natürlich darin, ob in ihnen die Reihenfolge für solche Zwecke eingesetzt wird und ob beziehungsweise wie viele mehrdeutige morphologische Formen sie aufweisen. Aus Gründen, die ich noch ausführlicher darlegen werde, möchte ich die Stichhaltigkeit der obigen Annahme anhand von wortlauttreueren und freieren Bibelübersetzungen ins Altenglische, Mittelenglische, Althochdeutsche, Mittelhochdeutsche, Frühneuhochdeutsche, Neuhochdeutsche und in die modernen deutschen Dialekte des Hochalemannischen und Nordniederdeutschen überprüfen.2 Einer der gewichtigsten Gründe, Bibeltexte dafür zu wählen, ist, dass wir – anders als bei anderen Quellen – für die darin vorkommenden Äußerungen sicher angeben können, welche Interpretation die richtige ist, auch wenn sie in einer Übertragung mehrdeutig sind. Für die Überprüfung der Hypothese ist dies unabdingbar, da wir andernfalls über kein Erfolgskriterium für die Interpretation mehrdeutiger Äußerungen verfügen würden, und dass man Erfolg bei ihrer Interpretation haben kann, möchte ich ja gerade zeigen. Ein weiterer Grund ist, dass alle untersuchten Sprach(stuf)en – die richtige Übersetzung vorausgesetzt – dieselben Inhalte ausdrücken, dazu aber jeweils ihre eigenen sprachlichen Mittel zur Verfügung haben und dabei unter dem Druck stehen, verstehbar zu sein. Damit wird vergleichbar, wie mit den vorhandenen sprachlichen Mitteln ausgedrückt wird, was womit in welcher Beziehung steht und wie sie von Äußerung zu Äußerung eingesetzt werden. Dabei ist nicht nur ein synchronischer Quervergleich zwischen den Sprachen und Dialekten möglich, sondern auch ein diachronischer Längsvergleich, der uns mit der gebotenen Vorsicht erlaubt nachzuverfolgen, wie diese grammatischen Mittel sich historisch im Deutschen und Englischen verändern und welche Anforderungen dies an unser Verstehen stellt. Ein Grund, Englisch und Deutsch zu wählen, ist die Tatsache, dass für diese Sprachen in der Forschung bereits viele Annahmen darüber geäußert worden sind, wie die sprachlichen Mittel sich zueinander verhalten und wie sie sich historisch entwickelt und verändert haben sollen. Dass diese Entwicklungen fürs Deutsche und Englische jeweils verschiedene gewesen sind, obwohl sie einen gemeinsamen historischen Ursprung haben, ist dabei ebenfalls von theoretischem und historischem Interesse. Primär von theoretischem Interesse ist, dass auch zwei moderne deutsche Dialekte analysiert werden sollen. Interessant sind sie deshalb, weil sie im Vergleich zum standarddeutschen System mit drei Kasus jeweils nur zwei Kasus aufweisen, dabei aber mutmaßlich ähnliche Satzgliedreihenfolgen zulassen. Die Dialekte versprechen somit größeres Mehrdeutigkeitspotenzial.3

Woher kommt das Phänomen? Was hat es verursacht? Wohin geht es? Vieles – und darüber wird noch sehr viel mehr zu sagen sein – spricht dafür, dass Sprachen sich grammatische Mehrdeutigkeit leisten können, eben weil Sprachbenutzerinnen erfolgreich damit umgehen können. Dennoch unterscheiden sich Sprachen in dem Grad, in dem sie Mehrdeutigkeit tatsächlich aufweisen, gravierend, aber nicht zufällig. Neben Sprachen, die wenige oder gar keine Äußerungen aufweisen, in denen grammatisch nicht geregelt ist, was womit in welcher Beziehung steht – Althethitisch dürfte dem nahekommen –, finden sich, wie ich zeigen werde, auch Sprachen, in denen jede vierte für die Fragestellung relevante Äußerung grammatisch mehrdeutig ist. Dies zeigt, dass Sprachen sich bisweilen des in ihnen vorkommenden lautlichen, gestischen oder graphischen Materials viel mehr als grammatische Mittel bedienen, als es nötig wäre, um als erfolgreiche Kommunikationsmittel zu dienen. Man könnte nun vermuten, dass das Material, das dafür verwendet wird, anzuzeigen, was womit in welcher Beziehung steht – zum Beispiel Kasus- und Kongruenzmorpheme –, sich in einer Sprache unabhängig von der Kommunikationsfunktion und unabhängig von menschlichen Zwecken entwickelt und nur für diese Funktion verwendet wird, weil es eben unbeabsichtigt entstanden ist, deshalb nun einmal da ist und, weil es da ist, wiederum interpretiert werden muss und mit einer nützlichen Funktion besetzt werden kann. Wie bereits gesagt, können wir die Interpretation von bestimmten Phänomenen nicht einfach unterlassen, und lautliches, gestisches oder...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2020
Verlagsort Tübingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte Anthropologie • Bibelübersetzung • Deutung • Grammatik • Korpuslinguistik • Mehrdeutigkeit • Sprachgeschichte • sprachliche Konventionen • Sprachstruktur • Sprachtheorie • Verstehen
ISBN-10 3-8233-0044-X / 382330044X
ISBN-13 978-3-8233-0044-1 / 9783823300441
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