Büchern der Freiheit (eBook)
490 Seiten
Musaicum Books (Verlag)
9788027208333 (ISBN)
Einleitung
Das Werk der Kunst hat für den Künstler zu sprechen, der es schuf; die Arbeit des betrachtenden Forschers, welcher hinter ihr zurücktrat, erlaubt ihm zu sagen, was ihn trieb, sich zu äußern.
Der Vorwurf der Arbeit, die ich vollende, erlaubt mir nicht nur, sondern verlangt von mir, sie mit einigen Worten zu begleiten.
Zuvor das Eine: wer mich nicht kennt und in den folgenden Blättern etwa sensationelle Enthüllungen in der Art jener verlogenen Spekulationen auf die Urteilslosigkeit des Publikums erwartet, aus welchen dieses seine ganze Kenntniß der anarchistischen Bewegung schöpft, der gebe sich nicht die Mühe, über diese erste Seite hinaus zu lesen.
Auf keinem Gebiet des sozialen Lebens herrscht heute eine heillosere Verworrenheit, eine naivere Oberflächlichkeit, eine gefahdrohendere Unkenntniß, als auf dem des Anarchismus. Die Aussprache des Wortes schon ist wie das Schwenken eines rothen Tuches – in blinder Wuth stürzen die Meisten auf dasselbe los, ohne sich Zeit zu ruhiger Prüfung und Ueberlegung zu lassen. Sie werden auch dieses Werk zerfetzen, ohne es verstanden zu haben. Mich werden ihre Stöße nicht treffen.
London und die Ereignisse des Spätjahres 1887 haben mir als Hintergrund meines Gemäldes gedient.
Als ich im Anfang des darauf folgenden Jahres noch einmal für einige Wochen auf den Schauplatz zurückkehrte, hauptsächlich um meine East End Studien zu vervollständigen, ahnte ich nicht, daß gerade die von mir zu eingehenderer Schilderung gewählte Gegend durch die Frauenmorde Jack »des Aufschlitzers« bald nachher in aller Munde sein würde.
Das Kapitel über Chicago wurde nicht abgeschlossen, ohne daß ich auch das dicke Bilderbuch für große Kinder, mit dem seitdem der Polizeikapitän Michael Schaack den infamen Mord seiner Regierung zu rechtfertigen suchte: » Anarchy and Anarchists« (Chicago, 1889), einer Durchsicht unterzogen hätte. Es ist Nichts weiter, als ein – nicht unwichtiges – Dokument stupider Brutalität sowohl, wie raffinierter Eitelkeit.
Die Namen von Lebenden sind von mir in bewußter Absicht nirgends genannt; der Näherstehende wird trotzdem fast überall unschwer die Züge erkennen, die mir Vorbilder gewesen sind.
*
Zwischen der Niederschrift des ersten und des letzten Kapitels liegen drei Jahre. Immer neu auftauchende Zweifel zwangen mich immer wieder, oft auf lange hinaus, zur Unterbrechung der Arbeit. Ich begann sie vielleicht zu früh; zu spät beende ich sie nicht.
Nicht jede Seite der Frage konnte ich erschöpfen; meist war es mir nicht vergönnt mehr zu geben, als die Schlußsätze oft langer Gedankenreihen. Die völlige Unvereinbarkeit anarchistischer und kommunistischer Weltanschauung, die Zwecklosigkeit und Schädlichkeit gewaltsamer Taktik, sowie die Unmöglichkeit irgend einer »Lösung der sozialen Frage« durch den Staat hoffe ich bewiesen zu haben.
*
Das neunzehnte Jahrhundert hat die Idee der Anarchie geboren. In seinen vierziger Jahren wurde der Grenzstein zwischen der alten Welt der Knechtschaft und der neuen der Freiheit gesetzt. Denn es war in diesem Jahrzehnt, daß P. J. Proudhon die titanische Arbeit seines Lebens mit: » Qu'est-ce que la propriété?« (1840) begann und Max Stirner sein unsterbliches Werk: »Der Einzige und sein Eigenthum« (1845) schrieb.
Sie konnte vergraben werden unter dem Staube zeitweiligen Rückschrittes der Kultur. Aber sie ist unvergänglich.
Sie ist bereits wieder erwacht.
Seit zehn Jahren kämpft in Boston, Mass., mein Freund Benj. R. Tucker mit der unbesieglichen Waffe seiner » Liberty« für Anarchie in der neuen Welt. Oft habe ich in den einsamen Stunden meiner Kämpfe meinen Blick auf das funkelnde Licht gerichtet, das von dort aus die Nächte zu erhellen beginnt ...
*
Als ich vor nun drei Jahren die Gedichte meines »Sturm« der Öffentlichkeit übergab, begrüßten mich freundliche Stimmen als den »ersten Sänger der Anarchie«.
Ich bin stolz auf diesen Namen.
Aber ich bin zu der Ueberzeugung gelangt, daß es heute nicht so sehr darauf ankommt, Begeisterung für die Freiheit zu erwecken, als vielmehr von der unbedingten Notwendigkeit ökonomischer Unabhängigkeit, ohne welche sie ewig der wesenlose Traum der Schwärmer bleiben wird, zu überzeugen.
In diesen Tagen der wachsenden Reaktion, die in dem Siege des Staatssozialismus ihren Höhepunkt erreichen wird, ist die Forderung unabweisbar für mich geworden, hier auch der erste Verfechter der anarchistischen Idee zu sein.
Ich hoffe, ich habe meine letzte Lanze für die Freiheit noch nicht gebrochen.
Rom, im Frühjahr 1891
Vorwort zur Volksausgabe
Mit dem Erscheinen einer wohlfeilen Volksausgabe meiner »Anarchisten« verwirklicht sich mir ein immer gehegter Lieblingswunsch, den die Umstände bei der Drucklegung des Werkes selbst nicht zuließen und dessen Erfüllung sich seitdem alle jene Schwierigkeiten entgegengestellt haben, die bei der Ungunst der heutigen Verhältnisse jede freiheitliche Handlung zu einer Unmöglichkeit zu machen sich verschworen zu haben scheinen.
Die Schwierigkeiten sind überwunden und von Neuem tritt, nachdem zwei Jahre vergangen, mein Werk an die Oeffentlichkeit, sich heute vor Allem an Jene wendend, denen es bisher schwer zugänglich gewesen ist: an die deutschen Arbeiter.
*
Zu ihnen ein erstes und voraussichtlich auf lange hinaus letztes, kurzes Wort zu sprechen, darf ich mir nicht versagen. So fest hat sich in den deutschen Arbeitern – mit dem Wachsen der sozialdemokratischen Partei – im Verlauf der letzten Jahrzehnte die Ueberzeugung eingewurzelt, daß die Befreiung der Arbeit, welche gleichbedeutend ist mit der Schwächung und dem Tod der Privilegien des Kapitals, nur möglich ist, wenn dies letztere den Händen des Einzelnen entzogen und auf dem Wege gewaltsamer Enteignung »Eigenthum der Gesellschaft« geworden ist, und so unerschütterlich scheint mir dieser Glaube geworden zu sein, daß ich nicht sehe, was anders sie von diesem Irrthum abzubringen im Stande sein könnte, als die Erfahrung. Wie bitter diese Erfahrung und wie groß die Enttäuschung sein wird, ahnt nur Der, der gleich mir weiß, daß jede Unterbindung wirthschaftlicher Bewegungsfreiheit zugleich eine Verstärkung des traurigen Zustandes gegenseitiger Abhängigkeit bedeutet.
Aber möge sie gemacht werden, wenn es denn nicht anders sein kann! ...
Freilich: die großen Demagogen unserer Tage, die sonst so klein sind, wird dann der Tod der ungeheuren Verantwortlichkeit, welche sie auf sich geladen, enthoben haben und vergebens werden ihre opferfreudigen Kämpfer suchen, sie zur Rechenschaft zu ziehen für Das, was sie versprechen und immer wieder – versprochen.
Den Kindern dieser Kämpfer wird, vor die traurigste Nothwendigkeit gestellt, nichts Anderes übrig bleiben, als ihr Heil endlich in der Freiheit, und nur in der Freiheit allein, zu suchen.
*
Drei große Feinde hat der Arbeiter als Feinde zu erkennen und zu überwinden: die Politiker, die Philanthropen und – sich selbst. Erst wenn er eingesehen haben wird, daß die Knechte, um die Herren zu verdrängen, nicht erst selbst zu Herren von Knechten geworden sein müssen und daß die Erreichung dieses Zieles – des Zieles aller und jeder Politik – ihn um keinen Schritt seiner wirthschaftlichen Befreiung näher bringt, da diese allein eine Folge harmonischer Entwicklung im sozialen Organismus sein kann; erst wenn er sich von jenen neuen und letzten Predigern einer alten, in ihren Todeszuckungen sich noch einmal aufbäumenden Religion, den Weltverbesserern und Utopisten mit den heißen Köpfen und den lauwarmen Worten, den Ethikern und Moralisten jeder Art, losgemacht hat, die da alle nicht begreifen können und wollen, daß es nicht die Menschen, sondern die Verhältnisse zu ändern gilt, aus welchen heraus die Menschen ›gut‹ und ›böse‹ werden; erst wenn er durch und durch begriffen haben wird, daß Nichts auf der Welt ihm zu helfen im Stande ist, als er selbst, und diese Erkenntniß ihn zu neuen, durch kein »Klassenbewußtsein« mehr getrübten, gründlicheren Erwägungen der Bedingungen, unter denen er lebt und leidet, und damit zu ganz verändertem und aussichtsreicherem Handeln treibt, erst dann, sage ich, kann er hoffen, die Ketten seiner Abhängigkeit zu brechen und von sich zu werfen.
*
Die Besprechungen, welche meinem Werke und seinen Uebersetzungen so reichlich zu Theil geworden sind, haben ihm Nichts nehmen und mir Nichts geben können. Die Absicht, auf einige derselben zu antworten, gab ich auf; ich überzeugte mich, daß der Liebe Müh' doch umsonst sein würde. Von den Kommunisten wurden keine anderen, als die alten Argumente vorgebracht – daß ich sie aufs Neue widerlegen würde, durften sie selbst nicht erwarten; den professionellen Kritikern der Litteratur waren die hier behandelten Fragen völlig verschlossen – ein Verständniß daher nicht zu erwarten; die große Tagespresse, die »Dirne der öffentlichen Meinung«, schwieg natürlich – sie wußte warum; und die meisten von den Organen der sozialdemokratischen Presse, welche sich das Werk unter ausdrücklicher Zusicherung einer Besprechung von Zürich senden ließen, kamen in ihrer feigen Servilität und jammervollen Abhängigkeit noch rechtzeitig von einem Entschlusse zurück, dessen Ausführung an Allerhöchster Stelle ein nicht unbegründetes Mißfallen erregt haben würde.
Den Wenigen, die ernsthaft gelesen, über was sie schrieben, dankte ich im Stillen.
So schwieg...
| Erscheint lt. Verlag | 17.8.2017 |
|---|---|
| Verlagsort | Prague |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
| Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik | |
| Schlagworte | Anarchismus • Anarchisten • Deutschland • Freiheit • Gabriele Reuter • Geschichtlicher Zeitraum • Gesellschaftssystem • Henry David Thoreau • Individualismus • Liebe • Max Stirner • Michael Cunningham • Oscar Wilde • Philosophie • Politische Philosophie • Radikaler Liberalismus • Rudolf Steiner |
| ISBN-13 | 9788027208333 / 9788027208333 |
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