Wir aus Jedwabne (eBook)
600 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-76564-5 (ISBN)
Am 10. Juli 1941 fiel die jüdische Bevölkerung der polnischen Kleinstadt Jedwabne einem Pogrom zum Opfer. Hunderte Männer, Frauen und Kinder wurden in einer Scheune verbrannt. Nur wenige überlebten. Es war ein Verbrechen von unermesslicher Grausamkeit. Aber nur wenige Menschen wurden dafür zur Verantwortung gezogen. Was an diesem Tag tatsächlich geschah - und durch wessen Hand -, sollte mehr als sechzig Jahre lang im Dunkeln bleiben.
Erst das Buch Nachbarn (2000) des Historikers Jan T. Gross legte dar, dass es Polen waren, die in Jedwabne, geschützt von den deutschen Besatzern, ihre wehrlosen jüdischen Nachbarn umgebracht hatten - ein Schock für die polnische Gesellschaft und Auslöser einer erbitterten Debatte um das Tabu eigener Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung des Landes.
Die Journalistin Anna Bikont macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Sie reist immer wieder nach Jedwabne. Sie spricht mit Überlebenden und mit Tätern, mit Dorfbewohnern, Historikern und Politikern. Sie durchforstet Prozessakten und Zeitungsarchive. So unerbittlich wie behutsam rekonstruiert sie nicht nur die Gewalttat und die Umstände, die sie ermöglicht haben - sie zeichnet zugleich das Porträt einer Stadt, die sich der Erinnerung bis heute verweigert.
<p>Anna Bikont, geboren 1954 in Warschau, ist Journalistin und arbeitet für die<em> Gazeta Wyborcza</em>, eine der wichtigsten Tageszeitungen in Polen, deren Mitbegründerin sie 1989 war. Für ihre Auseinandersetzung mit den Verbrechen in Jedwabne und Radzi?ow wurde sie vielfach ausgezeichnet. 2011 erhielt sie den Europäischen Buchpreis anlässlich der französischen Ausgabe von<em> Wir aus Jedwabne</em>. 2017 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Göteborg und hatte die Siegfried-Unseld-Gastprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin inne.</p>
Aufzeichnungen
28. August 2000
»Es ist eine Lüge, dass es Polen waren, die in Jedwabne die Juden umgebracht haben«, erklärt Tadeusz Ś. aus Warschau, Arzt im Ruhestand, Augenzeuge der Ereignisse vom 10. Juli 1941.
Er sitzt im Büro meines Vorgesetzten Adam Michnik, Chefredakteur der Gazeta Wyborcza. Eine befreundete Person hatte ihn empfohlen. Als Adam mir berichtete, laut Tadeusz Ś. könne das Verbrechen in Jedwabne nicht den Polen angelastet werden, hörte ich an seiner Stimme, wie erregt und zugleich erleichtert er war. Ich wusste, dass er die Fakten, die Jan Tomasz Gross in seinem Buch Nachbarn ans Licht gebracht hatte, nicht akzeptieren konnte. Wir hatten oft darüber gesprochen. Noch bevor das Buch im Mai erschienen war, hatte ich mich auf einer Redaktionssitzung dafür ausgesprochen, eine Reportage über die Stadt zu bringen. Jedwabne würde sich dem Verbrechen stellen müssen, das damals begangen worden war.
Bei der Rekonstruktion stützt sich Gross auf drei Quellen: die Zeugenaussage von Szmul Wasersztejn, der das Pogrom in Jedwabne überlebte und 1947 im Gerichtsprozess in Białystok auftrat; die Prozessakten aus Białystok, wo nach dem Krieg einige Tatbeteiligte wegen Kollaboration mit der Besatzungsmacht verurteilt wurden; und schließlich auf den in New York erschienenen Band Yedwabne. History and Memorial Book (im Folgenden: Jedwabner Gedenkbuch), Erinnerungen von ehemaligen jüdischen Bürgern Jedwabnes. Zu dem Buch haben Emigranten aus verschiedenen Teilen der Welt beigetragen. Gross' Schlussfolgerungen sind radikal, seine Hypothesen noch radikaler. In Jedwabne hätten Polen in einer Scheune alle Juden der Kleinstadt, insgesamt 1600 Personen, verbrannt. »Es war ein Massenmord im doppelten Sinne«, schreibt Gross, »im Hinblick auf die Zahl der Opfer und die Zahl der Täter.«
Meinen Vorschlag, nach Jedwabne zu fahren, lehnte Adam ab. Er wollte auch keinen Vorabdruck aus Gross' Buch. Jetzt möchte er, dass ich mir anhöre, wie es gewesen ist. Er hatte darauf bestanden, dass ich bei dem Gespräch anwesend bin, obwohl Tadeusz Ś. darauf drängte, sich mit ihm alleine zu treffen. Unser Gesprächspartner lässt keine Tonaufnahme zu und möchte nicht, dass sein Name genannt wird. Widerstrebend erklärt er sich damit einverstanden, dass ich Notizen mache.
1941 war er fünfzehn Jahre alt. Am 10. Juli hielt er sich zufällig in Jedwabne auf. Wegen eines Zahnartzbesuchs, sagt er.
»Am Morgen fuhren zwei Motorräder auf den Marktplatz, mit Deutschen in schwarzen Gestapouniformen. Ich sah vom Balkon aus, wie sie den Juden befahlen, sich zu versammeln. Über den Rabbiner machten sie sich lustig, indem sie seinen schwarzen Hut auf einen Stock setzten. Ich ging den Juden hinterher bis zur Scheune.«
Adam Michnik: »Wie viele Deutsche haben Sie bei der Scheune gesehen?«
»Drei. Die Deutschen sind ordnungsliebend, also ließen sie den Eigentümer herbringen, damit er aufschloss, obwohl sie die Tür hätten aufbrechen können.«
»Und das alles haben drei Deutsche gemacht?«
»Bestimmt waren noch mehr dabei, in Zivil. Aber drei waren uniformiert und hatten Pistolen. Ich sah, wie die Juden von selbst in die Scheune gingen, wie hypnotisiert.«
»Und sie haben nicht versucht zu fliehen, als die Scheune brannte?«
»Nein. Es war schrecklich.«
»Haben sich irgendwelche Polen an dem Verbrechen beteiligt?«
»Nein, kein einziger.«
»Kriminelle gibt es in jeder Gesellschaft. Sie brauchen nur eine beliebige Zeitung aufzuschlagen, um dort jede Menge Berichte über Mord und Totschlag zu finden. Während der Besatzungszeit gab es Szmalcowniks, Leute, die Juden für Geld verrieten.«
»Nur in den Großstädten. Sie kennen die Provinz nicht. Dort leben die ursprünglichen Polen, der verarmte Landadel. Sich dafür zu rächen, dass die Juden unter sowjetischer Herrschaft Polen denunzierten, das war ihnen fremd. Vor der Scheune riefen sie den Juden zu, sie sollten fliehen. Da standen nur drei Deutsche mit abgesägten Flinten, das waren nicht einmal Karabiner. Die alten Leute, die dabeistanden, waren voller Vorwürfe. Davon sprachen sie am nächsten Sonntag vor der Kirche.«
»Wem machten sie Vorwürfe – sich selbst?«
»Nein, den Juden. Keiner von ihnen hatte es fertiggebracht, sich auf die Deutschen zu stürzen.«
»Sie haben den Ermordeten Vorwürfe gemacht?«
»Weil sie sich nicht selbst verteidigt haben.«
»Aber wenn man vor meinen Augen jemanden ermordet, dann muss ich doch helfen. Tue ich das nicht – sei es aus Angst, im Schock oder weil die Situation mich überfordert –, dann bin doch ich es, der sich Vorwürfe machen muss.«
»Die Polen hätten ihnen geholfen, wenn sie sich auf die Deutschen gestürzt hätten. Als sie unter der Sowjetherrschaft mit Gewehren durchs Dorf fuhren, da waren sie tapfere Burschen, aber als die Deutschen sie in die Scheune führten, da sah das ganz anders aus. Die Bevölkerung ist beleidigt, dass man sie in so etwas hineinzieht – die Juden hätten sich selbst verteidigen sollen. Man hält sie für Feiglinge, weil sie erwarteten, dass die Polen sie verteidigen würden, und selbst nichts unternahmen. Aber dass dort 1600 Personen gewesen sein sollen, das ist eine freche Lüge.«
»Wie viele waren es denn Ihrer Meinung nach«, schalte ich mich ein.
»Tausend, mehr nicht«, antwortet Tadeusz Ś. Ich schaue zu Adam hinüber und sehe, dass er erbleicht.
Zum Abschluss betont Ś. noch einmal: »Bitte nennen Sie nicht meinen Namen. Ich möchte nicht, dass mir jüdische Radikale vor meinem Haus auflauern.«
1. September 2000
Das Institut für Nationales Gedenken (IPN) hat die Aufnahme von Ermittlungen zum Verbrechen in Jedwabne angekündigt.
Ich treffe Adam Michnik auf dem Flur in der Redaktion – das Gespräch mit Tadeusz Ś. lasse ihm keine Ruhe. Er schlägt vor, ich solle auf seiner Grundlage eine Erzählung schreiben, die während des Krieges im Städtchen J. spielt. Aber ich kann keine Erzählungen schreiben.
Ich beschließe, ein Jahr unbezahlten Urlaub zu beantragen und auf eigene Faust nach Jedwabne zu fahren, wenn ich es nicht für die Gazeta Wyborcza tun kann. In der Stadt muss es noch eine Erinnerung an das Verbrechen geben, Zeugen, die noch leben. Ich werde versuchen, die Tatsachen zu rekonstruieren, aber ich will auch nachvollziehen, was im Verlauf von sechzig Jahren mit der Erinnerung an jene Ereignisse geschehen ist.
5. September 2000
Im Jüdischen Historischen Institut (ŻIH) in Warschau. Fünf Seiten eines locker beschriebenen, mit vielen Durchstreichungen versehenen Manuskripts: der Bericht von Szmul Wasersztejn, übersetzt aus dem Jiddischen. »Säuglinge wurden an der Brust ihrer Mütter erschlagen, Erwachsene wurden halbtot geprügelt und zum Singen und Tanzen gezwungen. Blutend und verletzt, wie sie waren, stieß man sie alle in die Scheune. Dann wurde die Scheune mit Benzin übergossen und angezündet. Danach gingen die Banditen in die jüdischen Wohnungen und suchten nach zurückgelassenen Kranken und Kindern. Die Kranken, die sie fanden, schafften sie selbst zur Scheune, und die Kinder banden sie zu mehreren an den Füßen zusammen, luden sie sich auf den Rücken und warfen sie mit Heugabeln auf die Glut …«
6. September 2000
Das Jedwabner Gedenkbuch, herausgegeben von den Rabbinerbrüdern Julius und Jacob Baker, die vor dem Krieg aus Jedwabne nach Amerika emigriert waren, existierte zwanzig Jahre lang in einhundert Exemplaren. Heute steht es im Internet. Ich finde dort Berichte über den 15. Tamus des Jahres 5701, d. h. den 10. Juli 1941, aufgeschrieben von Rivka Fogel (»Die Gojim schnitten den Kopf von Gitele, der Tochter Judka...
| Erscheint lt. Verlag | 21.6.2020 |
|---|---|
| Übersetzer | Sven Sellmer |
| Sprache | deutsch |
| Original-Titel | My z Jedwabnego |
| Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
| Schlagworte | Antisemitismus • Jan Gross • Jedvabne • Jedwabne • Massaker • My z Jedwabnego deutsch • Osteuropa • Pogrom • Polen • Preis des Europäischen Buchs • Reportage |
| ISBN-10 | 3-633-76564-6 / 3633765646 |
| ISBN-13 | 978-3-633-76564-5 / 9783633765645 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich