Die Ambivalenz des Volkes (eBook)
423 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76192-2 (ISBN)
<p>Michael Wildt ist Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin.</p>
7Einleitung
Der Begriff des Volkes führt stets die blutigen Kämpfe, die in seinem Namen ausgefochten werden, mit sich: die Abgrenzungen nach oben und unten, nach innen und außen. Staatsvolk will nichts gemein haben mit dem Pöbel, der Menge, den Massen; allein das Wort Volksherrschaft, gar in der Doppelung Volksdemokratie, ruft die Assoziationen Terror, Anarchie und Willkür wach. Das auserwählte Volk Gottes glaubt sich gegenüber den ungläubigen Völkern in einer unzweifelhaften Position der Überlegenheit; das Volk, zur Nation gekürt, verwandelt die Bevölkerung eines Territoriums in eine Abstammungsgemeinschaft oder in Staatsbürger, die sich ebenfalls mit der ganzen Kraft des naturrechtlichen Vernunftanspruchs zur zivilisierenden Herrschaft über andere Völker und Nationen berufen sehen können. In eine »Volksgemeinschaft« verwandelt, werden alle »Gemeinschaftsfremden« aus dem Volk ausgeschlossen, vertrieben, ermordet. Aber es war auch das »Volk«, das 1789 die Bastille stürmte, das im 20. Jahrhundert die Könige und Zaren zum Teufel jagte und die kommunistischen Diktaturen stürzte. »Wir sind das Volk« ist ein mächtiger Satz, gerade in demokratischen Ordnungen, in denen das Volk herrschen soll – aber wer ist »wir«? Wer »Volk« in den Mund nimmt, wird sich fragen lassen müssen, welches Volk gemeint sei.
I.
Für Immanuel Kant schien die Antwort – und die Hierarchie – klar: »Unter dem Wort Volk (populus) versteht man die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen, insofern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der Theil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heißt Nation (gens); der Theil, der sich von diesen Gesetzen ausnimmt (die wilde Menge in diesem Volk), heißt Pöbel (vulgus), dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottiren (agere per turbas) ist; ein Verhalten, welches ihn von 8der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt.«[1] In Kants Welt der Aufklärung ist die »wilde Menge«, der »Pöbel«, messerscharf vom ordentlichen Staatsbürgervolk getrennt. Das ›gemeine Volk‹, der plebs, die Diener, Tagelöhner, Frauen, gehören nicht dazu. Wenn von minores, multitudo, vulgus die Rede war, vom niederen Volk, von der unberechenbaren Menge, dem Pöbel, dann lag Bürgerkrieg und Aufruhr, ›Rottiren‹ in der Luft.
Das Volk, das in der nordamerikanischen Verfassung 1787 mit »We, the people of the United States« emphatisch beschworen wird, umfasste freie, weiße Männer, keine Frauen, keine Indigenen und erst recht keine schwarzen Sklavinnen und Sklaven. Wenn in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die die französische Nationalversammlung zwei Jahre später am 26. August 1789 feierlich verabschiedete, festgehalten wurde, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren würden und die Souveränität im Staat nur beim Volk liegen könne, so waren Frauen weniger gleich, denn sie gehörten nicht zu diesem Volk, was schon damals Olympe de Gouges empörte. Und auch die Sklavinnen und Sklaven der französischen Kolonie Saint-Domingue, die für sich nun das Recht in Anspruch nahmen, freie Menschen zu sein, stießen auf Widerspruch im revolutionären Paris und mussten ihre Anerkennung mit einem gewaltsamen Aufstand erzwingen.[2] Überhaupt herrschte eine eklatante Diskrepanz, wie Susan Buck-Morss vor etlichen Jahren in ihrem bahnbrechenden Aufsatz »Hegel und Haiti« aufgezeigt hat, zwischen den pathetischen Proklamationen zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen und der Gleichgültigkeit gegenüber der realen Sklaverei auf der anderen Seite. »Dieselben Philosophen, die die Freiheit als den natürlichen Zustand des Menschen betrachteten und sie zu einem unveräußerlichen Menschenrecht erklärten, akzeptierten die millionenfache Ausbeutung der Sklavenarbeiter in den Kolonien als Teil der gegebenen Weltordnung.«[3]
9»Alle Gewalt geht vom Volke aus« – dieser Satz begründet in den demokratischen Verfassungen die Volkssouveränität. Aber die Souveränität des Volkes kennt keine Grenzen, außer denen, die es selbst setzt – oder einreißt, wie Georg Büchner in seinem Theaterstück Dantons Tod, das 1834/35 entstand, hellsichtig beschrieben hat: Robespierre greift in eine Szene auf der Straße, in der eine Menge einen vermeintlichen Aristokraten lynchen will, mit den Worten ein: »Im Namen des Gesetzes!« Darauf fragt ein Bürger: »Was ist das Gesetz?« und Robespierre antwortet mit gravitätischem Gestus: »Der Wille des Volkes«, worauf der Bürger erwidert: »Wir sind das Volk, und wir wollen, dass kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!«[4]
Wenn alle Gewalt vom Volke ausgeht, wenn der Volkswille die Verfassung begründet, dann kann sich, wenn das Volk es will, auch die Verfassung ändern. Die stets mögliche Revolution ist, wie der Staatsrechtler Martin Kriele schreibt, die »Sprengkraft, die in der Idee der Volkssouveränität liegt«.[5] Mit der Erfahrung der nationalsozialistischen Volksherrschaft im Rücken haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes daher als gute Demokraten zwar an dem Prinzip der Volkssouveränität festgehalten, aber die Macht des Volkes verfassungsmäßig eingehegt. Die Staatsgewalt sollte »vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« (Artikel 20 Grundgesetz) werden. Die ungeschlachte Gewalt des Volkes wird institutionalisiert und an feste Regeln und rechtsstaatliche Prozeduren gebunden; das Volk selbst möglichst unsichtbar gemacht. »Das Volk«, beteuert Jürgen Habermas, »von dem alle staatlich organisierte Gewalt ausgehen soll, bildet kein Subjekt mit Willen und Bewußtsein. Es tritt nur im Plural auf, als Volk ist es im ganzen weder beschluß- noch handlungsfähig.«[6]
10In der Tat ist das Volk als Ganzes nicht sichtbar, zu greifen oder empirisch zu erfassen; es ist »introuvable« (Pierre Rosanvallon), unauffindbar – und doch springt es mitunter auf die Bühne der Geschichte. Gerade in jenen revolutionären Momenten, in denen eine historische Zäsur gesetzt, ein Anfang gemacht wird, zeigt das Volk sich mit seiner Gewalt. Die städtischen Massen in Paris, die im Juli 1789 die Bastille stürmten und damit der Macht des Ancien Régime ein Ende bereiteten, waren weder gewählte Vertreter des französischen Volkes noch legitimiert, das Volk zu repräsentieren.
Die Massen, die 1989/90 in Prag, Kiew, Moskau, Warschau, Leipzig, Berlin den Sturz des Kommunismus bewirkten, waren ebenso wenig wie in Paris 1789 als Volksvertreter legitimiert, die alte Verfassung zu stürzen und eine neue, demokratische zu errichten. Aber niemand zweifelte an ihrer Legitimation, als Volk zu handeln. Die Demonstranten, die in Leipzig im Oktober 1989 riefen: »Wir sind das Volk!«, taten dies nicht, weil sie gewählte Volksvertreter waren, sondern weil sie der morschen Obrigkeit, die sich selbst als Volksvertretung inszenierte, unmissverständlich deutlich machen wollten, dass sie diesen Anspruch längst verloren habe und das Volk nun für sich selbst spreche. »Das Volk siegt«, titelte Der Spiegel im November 1989. Die verfassunggebende, konstituierende Gewalt des Volkes wurde mit der französischen – und haitianischen[7] – Revolution, so der französische Historiker Pierre Rosanvallon, zum »getreuesten Ausdruck des Demokratieideals«. Sie ist »eine radikal schöpferische, weil ursprüngliche Macht, reiner Ausdruck eines aufsteigenden Willens, eine absolut nackte, durch nichts bedingte Gewalt«.[8]
Doch verleugnet die Abgründe der Demokratie, wer glaubt, dass der Volkswille sich stets auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit richtet. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zeigen, dass Demokratien nicht mehr allein durch Militärputsche wie 1973 in Chile gestürzt werden, sondern antidemokratische...
| Erscheint lt. Verlag | 12.8.2019 |
|---|---|
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 |
| Schlagworte | Gesellschaftsgeschichte • Politische Theorie • STW 2280 • STW2280 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2280 • Volksgemeinschaft |
| ISBN-10 | 3-518-76192-7 / 3518761927 |
| ISBN-13 | 978-3-518-76192-2 / 9783518761922 |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
| Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich