Neuroenhancement (eBook)
204 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76186-1 (ISBN)
Der Mensch begreift sich seit jeher als von anderen Lebensformen verschieden, woraus sich spezifische normative Grundwerte wie etwa die Menschenwürde und der Personenstatus ableiten. Ist diese normative Sonderstellung noch gegeben, wenn Techniken der Selbstmodellierung, die unter dem Schlagwort »Neuroenhancement« zusammengefasst werden, zur Anwendung kommen? Lösen sich mit Autonomie und Authentizität eventuell auch die Grenzen zwischen Mensch und Tier auf? Befinden wir uns auf dem Weg zu einer neuen Menschengattung und besteht gar eine moralische Pflicht zu einer solchen Weiterentwicklung? Die hier versammelten Texte von Dieter Birnbacher, John Harris, Reinhard Merkel, Michael Pauen, Ingmar Persson und Julian Savulescu sowie Dieter Sturma geben höchst unterschiedliche Antworten auf diese Fragen.
<p>Klaus Viertbauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Philosophie in Innsbruck.</p> <p>Reinhart Kögerler ist emeritierter Professor für Theoretische Physik in Bielefeld und Präsident der Christian Doppler Forschungsgesellschaft in Wien.</p>
Klaus Viertbauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Philosophie in Innsbruck. Reinhart Kögerler ist emeritierter Professor für Theoretische Physik in Bielefeld und Präsident der Christian Doppler Forschungsgesellschaft in Wien.
9Klaus Viertbauer und Reinhart Kögerler
Neuroenhancement als philosophisches Problem
Unter Enhancement versteht man im gegenständlichen Umkreis den teils pharmakologisch, teils technisch realisierten Versuch der Leistungssteigerung eines menschlichen Organismus. Beim Neuroenhancement geht es dann speziell um das Zentralnervensystem, es zielt also auf die Erhöhung bestimmter mentaler Fähigkeiten des Menschen (etwa Aufmerksamkeit, Gestimmtheit oder Kreativität). Da das Enhancement grundsätzlich nicht auf die Wiederherstellung, sondern auf die Verbesserung eines Zustandes zielt, ist es von der Therapie abzugrenzen.[1] Mit dem Neuroenhancement wird ein vielschichtiges und interdisziplinäres Phänomen in den Blick genommen, dessen empirische Seiten von Disziplinen wie Medizin, Pharmazie, Neurologie oder Psychologie ausgelotet werden: Diese entwerfen deskriptive Szenarien der Verbesserung der menschlichen Kognition durch die Wirkung bestimmter Substanzen und Techniken.[2] Dies ist nicht das Thema des vorliegenden Bandes. Hier geht es – wie der Untertitel ankündigt – um den philosophischen Diskurs und somit um normative Fragen, die die ethische Relevanz und mögliche gesellschaftliche Folgen in den Blick nehmen. Den Hintergrund bilden Fragen der modernen Anthropotechnik nach den Grenzen der menschlichen Gattung.
101. Das Dilemma der Gattungsethik
Seit jeher begreift sich der Mensch als ein Wesen, das sich von anderen unterscheidet, indem es sich von diesen als eigene Gattung abgrenzt und entgegensetzt. Unsere Kultur beruht auf einer ontologischen Differenz: Auf der einen Seite steht der Mensch, auf der anderen Seite Tiere und Pflanzen. Diese gelten gemeinhin als Lebewesen, denen grundsätzlich ein geringerer Wert beigemessen wird. Besagte Unterscheidung ist kulturell tief verwurzelt, wie sich bereits an den für Christentum und Judentum gleichermaßen verbindlichen Schöpfungsberichten ablesen lässt. Im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert) wendet Gott sich unmittelbar an den Menschen:
Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen. […] Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.[3]
Ähnliche Gedanken finden sich im Hellenismus und später im Koran. Selbst der aus der Aufklärung hervorgegangene moderne Rechtsstaat erkennt lediglich Menschen als Rechtspersonen an; die Interessen von nichtmenschlichen Lebewesen, etwa die der anderen höher entwickelten Wirbeltiere, regelt ein rudimentäres Tierschutzgesetz. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Eine derartige ontologische Vorrangstellung der menschlichen Spezies lässt sich mittels Erkenntnissen der Genetik hingegen nicht stützen – so beträgt der Unterschied zwischen den Genpools von Menschen und Schimpansen weniger als 2 %! Das seit dem 18. Jahrhundert mit empirischen Fakten stetig angereicherte Evolutionsparadigma geht bekanntlich von einem gemeinsamen Ursprung aller Arten und von fließenden Übergängen zwischen diesen aus. Woher bezieht dann aber die Abgrenzung von Mensch und Tier ihre Berechtigung? Wie lässt sich auf dieser Grundlage überhaupt noch von einer menschlichen Gattung sprechen? Und ist mit dem Menschen bereits die Spitze der Evolution erreicht?
Grundsätzlich bestimmt sich der Mensch in der Abgrenzung 11vom Tier her als autonomes Subjekt. Aus der Autonomie leitet der Mensch für sich normative Grundwerte wie etwa die Menschenwürde oder den Personenstatus ab. Dieses Menschenbild ist das Ergebnis eines langen Transformationsprozesses religiöser und säkularer Wertvorstellungen.[4] Vor diesem Hintergrund setzt der vorliegende Band an: Er fragt, inwiefern diese Vorrangstellung durch die Selbstmodellierung des Menschen in Form von Neuroenhancement in Frage gestellt wird. Konkret geht es dabei um normative Fragen, die die Auflösung der Grenze von Mensch, Tier – und Maschine! – anvisieren: Löst sich mit der Veränderung der Begriffe von Autonomie und Authentizität die menschliche Gattung als solche auf? Befinden wir uns auf dem Weg zu einer gänzlich neuen Lebensform, ja, besteht vielleicht sogar eine moralische Pflicht zu einer solchen Weiterentwicklung?
2. Drei Problemfelder
Fragen wie diese sind prägend für die Debattenlage der modernen Bioethik. Peter Singer hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, die Begriffe von Mensch und Person zu entflechten:
Wir haben gesehen, dass der Begriff »menschlich« zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen schwankt: Mitglied der Spezies »Homo Sapiens« einerseits und Person andererseits. […] Die Auffassung, die bloße Zugehörigkeit zu unserer Spezies, ungeachtet aller anderen Eigenschaften, sei von entscheidender Bedeutung für die Unrechtmäßigkeit des Tötens, ist ein Erbe religiöser Lehren, die selbst [Kritiker] nur noch zögernd ins Gespräch bringen.[5]
Demgegenüber wird häufig auf Kants Selbstzweckformel verwiesen: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«[6] Der Kern des Streits besteht in 12der Frage, ob sich die Begriffe von Mensch und Person stets decken oder ob sich Fälle ausmachen lassen, in denen ein Mensch keine Person oder eine Person kein Mensch ist. Während deontologische Ethikentwürfe (wie jener von Kant) den universellen Charakter von Normen in den Vordergrund stellen, setzt eine konsequenzialistisch verfahrende Moralbegründung (wie jene von Singer) stets beim konkreten Fall an und prüft, ob die Interessen aller Betroffenen bestmöglich berücksichtigt werden. Ist es nun moralisch legitim, mit Blick auf die Betroffenen eine Grenze bei der menschlichen Gattung zu ziehen? Singer bestreitet dies mit Hinweis auf die Leidensfähigkeit von Tieren:
Ein Stein hat keine Interessen, weil er nicht leiden kann. Nichts, das wir ihm zufügen können, würde in irgendeiner Weise auf sein Wohlergehen Einfluß haben. Eine Maus dagegen hat ein Interesse daran, nicht gequält zu werden, weil sie dabei leiden wird. Wenn ein Tier leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, sich zu weigern, dieses Leiden zu berücksichtigen. Es kommt nicht auf die Natur des Wesens an.[7]
Der Schachzug, einem Status quo »Natürlichkeit« zu attestieren, die es grundsätzlich zu bewahren gilt, verbietet sich im bioethischen Diskurs:
Vergegenwärtigt man sich die ethische Diskussion des zurückliegenden Jahrhunderts, gewinnt man den Eindruck, dass Natürlichkeit als Bewertungsprinzip – zumindest in der akademischen Ethik – ein für allemal diskreditiert ist. Als Beurteilungsprädikat für menschliches Verhalten spielt Natürlichkeit seit längerem keine nennenswerte Rolle mehr. Statt als Leitlinie menschlichen Verhaltens zu dienen, muss im Gegenteil jeder Versuch, Natürlichkeit als moralisches Kriterium zu etablieren, auf Kritik gefasst sein und mit dem Einwand rechnen, dass jeder solche Versuch die illegitime Ableitung eines Sollens aus einem bloßen Sein involviert und insofern einen »naturalistischen Fehlschluss« begeht.[8]
13Natürlichkeit ist kein normativer Wert, der a priori vorliegt, sondern beschreibt Wertvorstellungen, die selbst im Rahmen von Sozialisationsprozessen a posteriori gewachsen sind. Vor diesem Hintergrund ist man gefordert, konkrete Werte zu identifizieren und entlang dieser den moralischen Status auch von Techniken oder Handlungen wie der Selbstmodellierung zu...
| Erscheint lt. Verlag | 11.4.2019 |
|---|---|
| Verlagsort | Berlin |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik |
| Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit | |
| Schlagworte | Enhancement • Moralphilosophie • Selbstoptimierung • STW 2285 • STW2285 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2285 • Transhumanismus |
| ISBN-10 | 3-518-76186-2 / 3518761862 |
| ISBN-13 | 978-3-518-76186-1 / 9783518761861 |
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