Ein Gott der keiner war (eBook)
286 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-905811-53-7 (ISBN)
Wolfgang Leonhard
Zur Einführung
Ein Gott, der keiner war hat einen außerordentlich großen Eindruck auf mich gemacht. Ich las, nein, verschlang das Buch kurz nach seinem Erscheinen Ende 1950, unmittelbar nachdem ich nach anderthalb Jahren Jugoslawien in den Westen Deutschlands gekommen war: Die Anthologie gehörte – nach George Orwells 1984 – zu den ersten Büchern, die ich in meinem neuen Leben im Westen las.
Nach meinem Bruch mit dem Stalinismus berührten mich die Schilderungen der sechs Autoren natürlich sehr. Ich suchte damals nach einer eigenen Alternative und durchdachte kritisch viele Dinge, die mir vorher als selbstverständlich richtig erschienen waren. Da für meine Abkehr vom Sowjet-Kommunismus der Bruch Jugoslawiens mit Moskau im Sommer 1948 und die ersten Schritte Titos auf einem neuen Weg zum Sozialismus entscheidend gewesen waren, glaubte ich allerdings zunächst, mich in einer völlig anderen Situation zu befinden als die Autoren. Nach der Lektüre von Ein Gott, der keiner war erkannte ich aber, daß die grundsätzlichen Probleme gleich oder zumindest sehr ähnlich geblieben waren. Auch bei diesen Autoren verdichteten sich die kritischen Gedanken zu oppositionellen Ansichten. Auslöser waren zwar andere historische Ereignisse: die feindselige Kampagne der Kommunisten gegen die Sozialdemokratie während der Weimarer Republik, die den Widerstand gegen den drohenden Nationalsozialismus schwächte, die Niederlage nach Hitlers Machtantritt 1933, die verspätete und teilweise inkonsequente Volksfrontpolitik, die bedenkliche Entwicklung der Sowjetunion, vor allem die Schauprozesse und Massenverhaftungen während der Großen Säuberung von 1936-38 und schließlich das Entsetzen nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939. Ihre Schilderungen zeigten sehr eindringlich, daß es vor meinem eigenen Bruch bereits ähnliche Situationen und Probleme gegeben hatte, sie bestätigten, ergänzten und beeinflußten außerordentlich eindrucksvoll Erlebnisse, die ich nun in einen größeren Zusammenhang einordnen konnte.
Auch ich hatte immer wieder auf eine entscheidende Wendung der sowjetischen Politik gehofft und war enttäuscht worden. Von 1948 bis etwa Mitte der 50er Jahre setzte ich zunächst auf Jugoslawien, das aus dem Teufelskreis des Stalinismus herausbrach. Im März 1953 starb Stalin, doch die Ulbricht-Führung würgte die Entstalinisierung in der DDR brutal ab. Der Volksaufstand im Juni 1953 in der DDR, Chruschtschows Abrechnung mit Stalin auf dem 20. Sowjetischen Parteitag im Februar 1956 und die anschließende ungarische Revolution im Herbst 1956 – immer wieder gab es Hoffnung, immer wie – der Enttäuschung. Zeitversetzt machte ich ähnliche Erfahrungen wie Koestler, Gide oder Silone.
Als Ein Gott, der keiner war 1950 erschien, kannte ich noch keinen der Autoren persönlich, hatte aber einige ihrer Schriften gelesen. Am frühesten lernte ich Ignazio Silone (1900-1978) durch sein Buch Fontamara kennen, das ich 1935 als 14jähriger in Schweden las. Ein Jahr später – ich lebte seit dem Sommer 1935 bereits in der Sowjetunion – las ich anläßlich seines zunächst hochpropagierten Besuches in der Sowjetunion fast täglich über André Gide (1869-1951). Als er unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Paris sein kritisches Buch veröffentlichte, erlebte ich in Moskau die hemmungslose Beschimpfungskampagne, ohne mir natürlich ein Bild davon machen zu können, was Gide eigentlich geschrieben hatte. Mit Arthur Koestlers (1905-1983) Werken kam ich erstmals 1947 – damals als höherer Funktionär der SED – in Berührung. Ich wohnte in dieser Zeit mit Waldemar Schmidt zusammen, der damals Erster Sekretär der Bezirksleitung Berlin der SED war. Ich las Koestlers Sonnenfinsternis (Darkness at noon) in unserer gemeinsamen Wohnung in Pankow (allerdings ohne Schmidt das Buch zu zeigen) und war sofort tief beeindruckt, denn ich spürte, wie genau Koestler die innere Situation der damaligen kommunistischen Bewegung kannte und erkannte. Nun, 1950, in seinem Beitrag in Ein Gott, der keiner war, erfuhr ich, daß wir uns auch hätten persönlich treffen können, da Koestler Ende der 20er Jahre in der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz in Berlin lebte, genau dort, wo ich, damals allerdings erst 10-11 Jahre alt, mit meiner Mutter wohnte. Auch von Louis Fischer (1896-1970) hörte ich bereits während meiner Zeit in der Sowjetunion, aber erst durch seinen Beitrag in Ein Gott, der keiner war kam er mir besonders nahe. Mitte der 60er Jahre lernten wir uns in den USA persönlich kennen.
Von zwei der Autoren, Richard Wright (1908-1960) und Stephen Spender (1909-1995), hatte ich vor dem Lesen der Anthologie nie etwas gehört, fand aber beide Beiträge außerordentlich aufschlußreich. Ein Jahrzehnt später lernte ich Stephen Spender auf ungewöhnliche Weise näher kennen: Wir folgten beide im Herbst 1960 der Einladung zum Kongreß der Ex-Kommunisten in Kerala, im Südwesten Indiens. Dort waren wir mehr als eine Woche zusammen, trafen uns mit Schriftstellern und Gesinnungsgenossen in dem einzigen Staat, in dem die Kommunisten auf parlamentarisch-demokratischem Wege durch Wahlen im Jahr 1957 die Regierung übernommen hatten. In den ersten Wochen war die KP-Regierung noch populär, aber schon bald weckten das Bestreben, Staatsapparate und Justiz durch die eigene Parteiherrschaft zu ersetzen und in den Schulen sowjetische Lehrbücher einzuführen, sowie die zunehmende Bestechung und Korruption den Unwillen der Bevölkerung. Seit Herbst 1957 schlossen sich die von der KP enttäuschten Mitglieder und Funktionäre zum »Ex-Communist-Forum" zusammen. Im Juni 1959 wurde schließlich das KP-Regime durch eine mächtige Volksbewegung – die in vielem an die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 in der DDR erinnerte – gestürzt. Die treibende politische Kraft waren die ehemaligen Kommunisten im »Ex-Communist-Forum", das nicht nur bei den Neuwahlen im Februar 1960, sondern im gesamten politischen Leben des Landes eine entscheidende Rolle spielte.
Es war dieses »Ex-Communist-Forum", das uns beide, Stephen Spender und mich, zum großen Kongreß in Ernakulam am 25. November 1960 eingeladen hatte. Das recht ungewöhnliche Thema lautete: »Die Rolle der Ex-Kommunisten im politischen Leben einer demokratischen Gesellschaft". Der Kongreß fand in einem riesigen, strohgedeckten Pfahlbau ohne Wände statt – sie wurden unter den klimatischen Bedingungen in Kerala nicht benötigt. 500 mit traditionellen weißen Umhängen bekleidete Keralesen waren im Saal versammelt, die Reden und Diskussionen wurden durch Lautsprecher in der Stadt übertragen. Stephen Spender und ich wurden mit stürmischem Beifall begrüßt und erhielten Ehrenplätze in der ersten Reihe. Die Malayalam sprechenden Inder diskutierten in der sengenden Hitze über dieselben Probleme, die auch fast alle Ex-Kommunisten Europas beschäftigten: die Degeneration des Sowjet-Kommunismus und die Verwandlung des schöpferischen Marxismus in eine Sammlung toter Dogmen. Immer wieder wurde Kritik geübt: am Führerkult und Autoritätsaberglauben, an der Unterordnung der kommunistischen Partei unter die Sowjetführung, an der Niederschlagung der ungarischen Revolution, der Begrenzung des künstlerischen Lebens, an den unerträglichen Lobeshymnen auf die Sowjetunion. Kritisiert wurden – teilweise mit ironischen Bemerkungen – die ständigen Schwankungen der Parteilinie, der man immer wieder folgen mußte.
All diese Punkte waren Stephen Spender und mir wohl bekannt, aber noch nie hatten wir erlebt, daß sie in so großem Rahmen erörtert wurden. So wie wir an den Diskussionen in Südindien interessiert waren, so waren die Kongreßteilnehmer an den Reformströmungen in anderen Ländern interessiert. Als Stephen Spender und ich über die kritischen, sich gegen die offizielle sowjetische Parteilinie stellenden Kommunisten in den Ländern West- und Osteuropas berichteten, wurde dies von den Anwesenden mit großem Beifall begrüßt. Über den Kongreß berichteten die Zeitungen Keralas auf den Titelseiten, inklusive Bildern von Stephen Spender und mir, weshalb wir auf unseren Ausflügen überall erkannt wurden – so auch von einem katholischen Priester, der uns höflich begrüßte und die unerwartete Frage an uns richtete: „Wie geht es bei dem Kongreß der Ex-Kommunisten? Sind Sie mit dem Verlauf zufrieden?" Nach einer Woche mußten wir Kerala verlassen, da wir noch weitere Einladungen in Städten im Zentrum und Norden Indiens hatten, aber uns beiden tat es leid, uns von Kerala zu verabschieden – dem wohl einzigen Land der Welt, in dem Ex-Kommunisten nicht von Mißtrauen umgebene, isolierte Einzelgänger waren, sondern Angehörige einer im ganzen Land geachteten politischen Strömung.
Unmittelbar nach Erscheinen des Buches Ein Gott, der keiner war wurde die verleumderische Behauptung verbreitet, die Autoren seien haßerfüllte, rechtsextremistische Gegner der Sowjetunion und des Kommunismus. Dies wurde von...
| Erscheint lt. Verlag | 7.3.2012 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
| Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
| ISBN-10 | 3-905811-53-7 / 3905811537 |
| ISBN-13 | 978-3-905811-53-7 / 9783905811537 |
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