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Ludwig Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

Zu den unterschiedlichen Lesarten von Sagen und Zeigen

Jürgen Koller (Herausgeber)

Buch | Hardcover
387 Seiten
2017
Philosophia Verlag
9783884051214 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ludwig Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. -
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Vorliegender Sammelband führt erstmalig die wichtigsten Lesarten der Logisch-philosophische[n] Abhandlung im Kontext der Sagen/Zeigen Unterscheidung zusammen.
Lange Zeit galten Wittgensteins postum erschienen Philosophische[n] Untersuchungen als sein bedeutendstes Werk, wohingegen die Logisch-philosophische Abhandlung meist als Kind ihrer Zeit, logisch-atomistisch oder neopositivistisch gedeutet wurde.
Eine neue Lesart und eine Belebung in der Textexegese um den frühen Wittgenstein brachte der in diesem Band enthaltene Aufsatz “Die Leiter wegwerfen: Wie der Tractatus zu lesen ist” (Throwing Away The Ladder) von Cora Diamond mit sich.
Die diesem Aufsatz vorangestellten Beiträge von Bertrand Russell, Frank Ramsey, Elizabeth Anscombe, Max Black, Peter Hacker und Peter Geach, können als Hinführung zu, die nachfolgenden Beiträge von James Conant, Peter Hacker und Marie McGinn als Ausei-nandersetzung mit diesem Beitrag gelesen werden.
Alles dreht sich um die Frage: Muss man wirklich darüber schweigen, wovon man nicht sprechen kann oder lässt sich das, was nicht sagbar ist, doch zum Ausdruck bringen – lässt es sich etwa pfeifen?

Jürgen Koller studierte Philosophie an der LFU-Innsbruck. 2009 erwarb er sein Doktorat und ist seither als Übersetzer, Autor und Rezensent tätig.

Inhalt

ZU DEN LESARTEN DES TRACTATUS
Eine Einführung 7
I. BERTRAND RUSSELL (1921/1922)
Vorwort zur Logisch-Philosophischen Abhandlung 55
Einleitung zum Tractatus logico-philosophicus 72

II. FRANK RAMSEY (1923)
Rezension des Tractatus 94

III. G.E.M. ANSCOMBE (1959)
„Mystizismus“ und Solipsismus 121

IV. MAX BLACK (1964)
Die richtige Methode der Philosophie;
wie der Tractatus zu verstehen ist (6.53-7) 140

V. PETER HACKER (1972)
Philosophie als Kritik und als Analyse 157

VI. PETER GEACH (1976)
Sagen und Zeigen bei Frege und Wittgenstein 171

VII. CORA DIAMOND (1988)
Die Leiter wegwerfen: Wie der Tractatus zu lesen ist 199

VIII. JAMES CONANT (1991)
Die Spitze der Leiter wegwerfen 244

IX. P.M.S. HACKER (2000)
Versuchte er es zu pfeifen? 282

X. MARIE MCGINN (2001)
Sagen und Zeigen und die Kontinuität in Wittgensteins Denken 359

TEXTNACHWEISE 385

ZU DEN LESARTEN DES TRACTATUS Eine Einführung Mit seinem Vorwort/seiner Einleitung zur Logisch-philosophischen Abhandlung (siehe die ersten beiden Beiträge in diesem Sammelband) begründete Bertrand Russell eine Rezeptionsgeschichte, die mittlerweile in wenigstens fünf Hauptperioden unterteilt werden kann. Russell liest den Tractatus1 als Theorie über die Grundlagen der Symbolik, deren Verständnis sich über die Annahme einer logisch vollkommenen Sprache erzielen lässt. Einer Symbolik, die sowohl logisch notwendige, basale „Elemente“ oder „Objekte“ – Wittgenstein verwendet diesbezüglich den Begriff Sachverhalte, Russell den Begriff atomic facts – als auch Sätze als komplexe Symbole umfasst. Es ist nachvollziehbar, dass man im Anschluss an Russell von einer logisch-atomistischen Periode der Interpretation des Tractatus sprach, einer Periode, die innerhalb 1 Wir können hier das deutschsprachige Vorwort zur Logisch-philosophischen Abhandlung [1921] und die englischsprachige Einleitung zum Tractatus [Tractatus 1922] getrost synonym verwenden, da Russell zwar für die englischsprachige Erstausgabe einige Änderungen vornahm, diese Russells Interpretation in der Logisch-philosophischen Abhandlung jedoch wohl nur näher erläuterten. In weiterer Folge zitiere ich den Tractatus nach der von McGuinness und Schulte gestalteten Werkausgabe (Band 1; d.i. Wittgenstein 1984) mit Kürzel (TLP) und/oder Dezimalnotierung. der frühen analytischen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegweisend war (vgl. Proops 2013, Abs. 1). Denn spricht man hier von „logisch“, folgt man Russell in seiner Anschauung, dass Wittgenstein über die Grundlagen der Symbolik eine Theorie der Logik entwickeln wollte; spricht man von „atomistisch“, lässt man der Anschauung Raum, dass über die im Tractatus verwendete Symbolik alle Sätze auf nicht weiter zu zergliedernde Sätze, die Elementarsätze, zurückgeführt werden können. Mit der Einverleibung des Tractatus in die Interessensphäre des Wiener Kreises – gegen Ende der 1920er Jahre (vgl. Damböck 2013, 228) – änderte sich auch der Blickwinkel hin zu rein Metaphysik kritischen und Aufgabe und Begrenzung der Philosophie betreffenden Passagen, sowie Passagen, die sich mit der logischen Sprachanalyse beschäftigen, wobei es strittig ist wie groß der Einfluss des frühen Wittgenstein auf den Wiener Kreis und damit im Speziellen auf die Gründerväter des logischen Empirismus war; dass dieser, zumindest in den Augen seiner vertrautesten Gesprächspartner, Moritz Schlick und Friedrich Waismann, beträchtlich war, steht außer Frage. So glaubt Schlick in Wittgensteins Tractatus den Wendepunkt, die Wende vom Positivismus hin zum logischen Positivismus zu erkennen (vgl. Schlick 1930, 6). Damit einhergehend offenbart sich die Lösung eines der grundlegendsten Probleme des Empirismus, nämlich: Was ist der Stellenwert der logischen und mathematischen Sätze? Denn, wenn diese, wie Hans Hahn schreibt, „absolut allgemein gelten, weil sie apodiktisch sicher sind, weil es so sein muß, wie sie sagen, und nicht anders sein kann, können diese Sätze nicht aus der Erfahrung stammen.“ Und weiter: „Bei der ungeheuren Rolle, die Logik und Mathematik im Systeme unserer Erkenntnis spielen, scheint damit der Empirismus endgültig widerlegt“ (Hahn 2006, 229). Dagegen ergibt sich in Übereinstimmung mit Wittgenstein, laut Hahn: 8 | Jürgen Koller die Logik handelt keineswegs von sämtlichen Gegenständen, sie handelt überhaupt nicht von irgendwelchen Gegenständen, sondern sie handelt nur von der Art, wie wir über die Gegenstände sprechen; die Logik entsteht erst durch die Sprache. Und gerade daraus, daß ein Satz der Logik überhaupt nichts über irgendwelche Gegenstände aussagt, fließt seine Sicherheit oder Allgemeingültigkeit oder, besser gesagt, seine Unwiderleglichkeit. (2006, 233) Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass der logisch-atomistische Ansatz weiterhin, beispielsweise in der Protokollsatzdebatte, eine gewisse Rolle spielte. Dabei handelt es sich um eine Debatte innerhalb des Kreises, die sich grob gesprochen um Fragen drehte, „wie die empirische Basis der Wissenschaft zu verstehen ist und welcher Art die Aussagen sind, die zur Überprüfung von Theorien herangezogen werden“ (Stöltzner/Uebel 2006, LVII). Unter Protokollsätzen werden hierbei Sätze verstanden, die ursprünglich als jene Sätze gedacht waren, „welche in absoluter Schlichtheit, ohne jede Formung, Veränderung oder Zutat die Tatsachen ausspreche[n], in deren Bearbeitung jede Wissenschaft besteht, und die jeder Behauptung über die Welt, jedem Wissen vorhergehen“ (Schlick 1934, 79-80). Die, durch das NS-Regime erzwungene Emigration führender Mitglieder des Wiener Kreises, zumeist in den angelsächsischen Raum, führte in der Folge- und v.a. Nachkriegszeit bis in die frü- hen 1950er Jahre hinein zu einer internationalen Etablierung dieser neopositivistischen Exegese des Tractatus. Wittgensteins Verhältnis zum Wiener Kreis kann freilich als ambivalent angesehen werden. Er selbst war bei den Treffen des Kreises allem Anschein nach nie dabei. Er kann somit wohl lediglich zum Kreis um Moritz Schlick gezählt werden (vgl. Stadler 2007, 13-40). Zwischen der ersten Kontaktaufnahme durch Moritz Einführung | 9 Schlick gegen Ende des Jahres 1924 und der Ermordung Schlicks im Jahre 1936, was als ursächliches Ereignis für das Auslaufen der Beziehung zum „gemäßigten und ausschließlich auf die Reform der Wissenschaften und der Philosophie“ (Damböck 2013, 231) bedachten, rechten Flügel des Kreises – wozu laut Carnap Moritz Schlick und Friedrich Waismann zählten (Carnap 1993, 89) – angesehen wird, lag eine erste Phase der Korrespondenz. Diese wiederum führte 1927 zu einem gemeinsamen Mittagessen mit Schlick und daran anschließend zu „ersten Gesprächsrunden in Schlicks Wohnung, an denen auch Carnap, Feigl und Waismann teilnahmen“ (Stöltzner/Uebel 2006, XLVI). Die Zusammenkünfte setzten sich bis in die 30er Jahre hinein fort, bevor sich Wittgenstein nur noch mit Waismann und Schlick und letztlich nur noch mit Schlick traf. Die Distanz zum linken Flügel des Wiener Kreises, darunter v.a. Rudolf Carnap und Otto Neurath, ist wohl auch der Kritikoffenheit geschuldet, die bei den Bewunderern Schlick und Waismann zu fehlen schien. Von Interesse ist Neuraths Kritik an Wittgenstein. Neurath und Carnap hatten schon damals, neben Russell und Frank Ramsey, erkannt, dass Wittgensteins Unterscheidung des sinnvoll Sagbaren vom (nur) Zeigbaren nicht gänzlich durchgehalten wurde, von ihm durchgehalten werden konnte. Während es von Carnap allerdings frenetisch begrüßt wurde, dass Wittgenstein dem Einwand, dass seine eigenen Sätze sinnlos seien, damit begegnete, dass er diesem ohne Umschweife zustimmte[!] (vgl. Carnap 2013, 135), stellte Neurath hingegen nüchtern fest, ‚Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen‘ – ist mindestens sprachlich irreführend; es klingt so, als ob es ‚ein etwas‘ gäbe, von dem man nicht sprechen könne. Wir würden sagen: Falls man sich wirklich ganz metaphysischer Stimmung enthalten will, so ‚schweige man‘, aber nicht ‚über 10 | Jürgen Koller etwas‘. Wir brauchen keine metaphysische Erläuterungsleiter. (Neurath 2006a, 272) In einer anderen Arbeit findet sich hierzu, quasi konkludierend: „Sein erster Versuch, die Philosophie als notwendige Erläuterungsleiter zu verwenden, kann aber als gescheitert gelten“ (2006b, 410). Wittgenstein meinte mit der Niederschrift des Tractatus die philosophischen Probleme im Wesentlichen gelöst zu haben (vgl. TLP Vorwort) und hielt sich ganz folgerichtig fern von der anschließenden philosophischen Debatte – freilich galt dies beispielsweise nicht für die Gespräche mit den Mitgliedern des Kreises. Für viele Exegeten fand Wittgenstein erst im Jahre 1929 zurück zur Philosophie; weg vom Tractatus, hin zu den Philosophischen Untersuchungen (siehe Fann 1969, 41, Pears 1971, 129 oder Kenny 1974, 123). Ob dies daran lag, dass er 1928 durch einen von Luitzen Brouwer in Wien gehaltenen Vortrag über die Grundlagen der Mathematik inspiriert wurde (siehe Feigl 1969, 639) und dadurch wieder die Kraft fand zur Philosophie zurückzukehren und produktive Arbeit zu leisten (vgl. von Wright 1990, 34) oder durch Gespräche mit Piero Sraffa und Frank Ramsey, wie er es selbst 1945 im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen schreibt, dazu bewogen wurde, sich erneut mit den im Tractatus vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen (vgl. Wittgenstein 1984, 232) oder letztlich, ob er, wie er es allem Anschein nach Moore mitteilte, bei der Abfassung der Abhandlung über die logische Form neue Ideen entwickelt hatte (siehe Moore 1954a, 2; siehe auch Cavell 1968, 119), sei dahingestellt. Tatsache ist, dass Wittgenstein in diesem Jahr nach Cambridge zurückkehrte um seinen Ph.D. zu erlangen und dort einen Vortrag mit dem Titel Some Remarks on Logical Form (Wittgenstein 1929, 162-171) anfertigte, der in einer gemeinsamen Sitzung der Mind Association und Einführung | 11 der Aristotelian Society gehalten werden sollte – aber letztlich nicht wurde. Sein Doktorvater (nominal supervisor) war Ramsey, als Doktorarbeit wurde der Tractatus akzeptiert. In diesem Zusammenhang ist es auch verständlich, dass Wittgenstein wieder damit begann über den Tractatus nachzudenken. Einer der ersten Kritiker – (siehe den zweiten Beitrag in diesem Sammelband) –, der nicht so ohne Weiteres einer Periode, an dieser Stelle der logisch-atomistischen Periode, zugerechnet werden kann, ist besagter Frank Ramsey, der seine Kritik bereits 1923, in seiner bis heute bedeutenden Rezension formulierte (Ramsey 1923, 465-478).2 Darin kritisiert er einleitend Russells Interpretation vor dem Hintergrund einer idealen Sprache und führt Textstelle 4.002 als Beleg dafür an, dass Wittgenstein im Allgemeinen von der Gültigkeit seiner Thesen für gewöhnliche Sprachen ausgeht. Seine Hauptkritik richtet sich allerdings gegen Wittgensteins Analyse von Farbsätzen (siehe Ramsey 1989, 22-25). Wittgenstein vertritt im Tractatus die These, dass Sätze die Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit den voneinander unabhängigen Wahrheitsmöglichkeiten von Elementarsätzen sind (TLP 4.211, 4.4). Wobei der Satz, wenn er für sämtliche Wahrheitsmöglichkeiten wahr ist, Tautologie, wenn er für sämtliche falsch ist, Kontradiktion genannt wird (4.46). Dies impliziert, dass die Wahrheit der Tautologie gewiss, d.h. logisch notwendig, des Satzes möglich und der Kontradiktion unmöglich, d.h. logisch unmöglich 2 Ein weiterer Exeget, der nicht eindeutig zurechenbar ist, ist Alexander Maslow. Er legte mit A Study in Wittgenstein’s Tractatus (1961) eine der ersten Studien vor – den Angaben des Autors zufolge wurde diese Studie bereits 1933 erstellt (Maslow 1961, VIII). Veröffentlicht wurde sie allerdings erst im Jahre 1961. Maslows Studie geht, obwohl sie aus der Sichtweise des logischen Positivismus heraus geschrieben wurde (1961, VII), nicht nur auf Wittgensteins positivistische, sondern auch auf seine metaphysischen Tendenzen ein (siehe vor allem 154-160). 12 | Jürgen Koller ist (4.464; auch 6.375). Daraus folgt, dass es für Wittgenstein logisch unmöglich ist, dass zwei Farben zugleich an einem Ort des Gesichtsfeldes sind (6.3751) und Farben keine Namen von logisch Einfachem sein können, denn der Satz: „Das ist sowohl rot als auch blau“, stellt eine Kontradiktion dar (vgl. 6.3751). Für Ramsey stellt die Erklärung Wittgensteins über die physikalische Begrifflichkeit der Schwingung keine Lösung des Problems dar, denn, „daß ein Teilchen nicht zu gleicher Zeit zwei Geschwindigkeiten haben kann; das heißt, daß es nicht zu gleicher Zeit an zwei Orten sein kann; das heißt, daß Teilchen an verschiedenen Orten zu einer Zeit nicht identisch sein können“ (6.3751) verschiebt, wie etwa Sedmak richtig festhält, „[…] das Problem der Farbenanalyse [nur] auf die Frage nach dem Status von Raum, Zeit und Materie“ (Sedmak 1998, 225). Stellte dies für den frühen Wittgenstein kein unüberwindbares Hindernis dar, so zeigt sich im Jahre 1929, dass Wittgenstein anzuerkennen bereit ist, dass bestimmte Unvereinbarkeiten nicht auf logische Unmöglichkeiten zurückgeführt werden können. Wir haben geschrieben, dass die Interpretation des Wiener Kreises bis in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein die Ton angebende Interpretationsart im philosophischen Diskurs war. Es ist erstaunlich, dass sich Wittgenstein schon mehrere Dekaden von grundlegenden Annahmen des Tractatus gelöst hatte und es dennoch erst der postumen Publikation der Philosophischen Untersuchungen, und damit einhergehend einer „Neu“-Interpretation – einer Änderung der Perspektive – durch, vor allem, aber nicht nur, seine Schüler und Freunde (so z.B. Elizabeth Anscombe, Rush Rhees, Georg Henrik von Wright, Norman Malcolm und Alice Ambrose) bedurfte, um dieses Bild einer Revision zu unterziehen. Wobei sich das Revisionäre durch die Auseinandersetzung mit der und wieder vor allem durch die Abgrenzung zur Spätphilosophie als kleinster gemeinsamer Nenner offenbart. Freilich bleibt zudem Einführung | 13 anzufügen, dass die peu à peu Herausgabe der Schriften Wittgensteins durch seine Nachlassverwalter (Anscombe, Rhees und von Wright) damit eng verbunden ist. In dieser, bis in die 70er Jahre des letzten Jhs andauernden Phase, die Frongia/McGuinness wohl nicht zu Unrecht als The Two Wittgensteins (Frongia/McGuinness 1990, 27) bezeichnen, fallen exemplarisch die nächsten beiden, hier kurz erörterten Beiträge des Sammelbandes. Elizabeth Anscombe zählt mit ihrer An Introduction to Wittgenstein’s Tractatus aus dem Jahre 1959 zu den wichtigsten Interpreten des frühen Wittgenstein. Neben der rigiden Erörterung vieler wichtiger Themenfelder des Tractatus (der Bildtheorie des Satzes, formaler Begriffe, der Theorie der Allgemeinheit) und der sich durch das Buch ziehenden Betonung von Freges Einfluss – damit verbunden ist die Kritik an Russell und der neo-positivistischen Lesart, mit Verweis auf 6.3751 –, widmet sie sich im hier behandelten Textauszug, Kapitel 13 (161-173) aus ihrer Introduction, Wittgensteins Mystizismus und Solipsismus. Als Standardinterpretin3 liest sie den Tractatus diesbezüglich meiner Meinung nach als ein Werk, das eine Reihe philosophischer Lehren verkörpert, darunter im Besonderen die Lehre dessen, was zwar nicht gesagt, aber dennoch gezeigt oder angezeigt werden kann. Gesagt werden kann ihr zufolge all das, „and that only, ‚can be said‘ the negative 3 Was genau einen Standardinterpreten auszeichnet, ist genauso unklar wie der Begriff selbst. In der neueren Wittgenstein-Exegese wird Anscombe je nach Kontext einmal einer metaphysischen (metaphysical) Art und Weise den Tractatus zu interpretieren zugerechnet (so z.B. in McGinn 1999, 491), ein anderes Mal als Vertreterin einer unschlüssigen (irresolute) Lesart (so z.B. in Kremer 2007, 164) gesehen, und darüber hinaus noch als Proponentin einer unbeschreibbaren (ineffability) Lesart (so z.B. in Kuusela 2006, 35) aufgeführt. Ungeachtet dessen scheint sich der Begriff der Standardinterpretation weitestgehend durchgesetzt zu haben (so z.B. neuerdings zu lesen in Horwich 2012, 94, Fn. 16). Zu unserer Verwendungsweise dieses Terminus siehe Seite 29. 14 | Jürgen Koller of which is also a possibility, so that which of the two possibilities is actual has to be discovered by ‚comparing the proposition with reality‘“ (Anscombe 1959, 161); ausgedrückt werden kann all das, was mit der Bildtheorie nicht in Einklang gebracht werden kann: unsinnige Sätze – satzartige Anordnungen, die weder sinnvoll noch sinnlos (Tautologien und Kontradiktionen) sind. Die Unterscheidung zwischen Sinn und Unsinn manifestiert sich darin, dass es den Bestandteilen der Schein-Sätze an Bedeutung fehlt. Als Konsequenz hieraus ergibt sich, dass die meisten Sätze des Tractatus selbst im buchstäblichen Sinne unsinnig sind, da sie zu sagen versuchen, was sich dem Tractatus zufolge nur zeigen kann. Anscombe vertritt diesbezüglich die Auffassung, dass hier eine Unterscheidung sinnführend sei. Sie meint, dass es jedoch Sätze gäbe, für die es zutreffend wäre, „to call them ‚true‘ if, per impossibile, they could be said; in fact they cannot be called true, since they cannot be said, but ‚can be shewn‘, or ‚are exhibited‘, in the propositions saying the various things that can be said“ (1959, 162). Damit legt sie nahe, dass es einen Bereich zwischen Transzendentalem und Logischem gibt, der sich bezüglich der Interpretation der „nur“ zeigbaren Sätze des Tractatus als hilfreich erweist. Jemandem, „who had used them like steps ‚to climb out beyond them‘ would be helped by them to ‚see the world rightly‘“ (siehe 162). Ähnliches vertreten die nächsten drei hier – und in der Folge im Sammelband – exemplarisch angeführten Interpreten. Max Blacks A Compendium to Wittgenstein’s Tractatus (1964) kann, im Gegensatz zu Anscombes Werk, nicht als kritische Studie per se angesehen werden. Vielmehr handelt es sich hierbei, wie bereits der Titel nahelegt, um einen (Weg-) Begleiter für Studenten, einen breit angelegten Kommentar zu nicht wenigen Textstellen, der viel Hintergrundmaterial bereitstellt, sich aber weniger gut für die Erläuterung schwieriger Stellen zu eignen scheint (vgl. Glock 2010, 396). Der hier angeführte Textauszug konterkariert Einführung | 15 letztere Auffassung. Gegenstand der Erörterung sind jene Bemerkungen, die den Tractatus beschließen – 6.53, 6.54 und 7. Bereits 1938 stellte Black in einem Beitrag zu den Proceedings of the Aristotelian Society (New Series 39, 43-68) diesbezüglich die Frage: Is the Tractatus self-contradictory? (siehe Black 1966, 101) Er gelangte in diesem Artikel zur Antwort, dass die Kritiker einerseits eine einzelne Bemerkung zu sprichwörtlich aufgefasst haben und somit selbst einem Widerspruch erlegen sind. Denn „a ‚senseless‘ proposition is not a proposition at all and it is logically impossible that whatever we ‚understand‘ should, whether ‚finally‘ or at any other time, be revealed as senseless“ (1966, 102). Andererseits beziehe sich sinnvoll Sagbares auf empirische Sätze. Zu sagen, „that p ‚says‘ something is to say that p is empirical; to say that p ‚shows‘ but does not say anything is to say that p is not empirical“ (S. 102). Im hier übertragenen Textauszug, Kapitel 90 (376-86) aus dem Kompendium, verfährt Black ähnlich. Er leitet in die Problematik ein, indem er daran festhält, dass wir zweifelsohne den Tractatus verstehen und vieles daraus lernen können (siehe Black 1964, 376). Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem von ihm verwendeten Begriff des Verstehens bleibt er diesbezüglich allerdings schuldig. Wir werden gegen Ende dieser Einleitung sehen, dass Wittgensteins Begriff des Verstehens eine neue interpretative Zugangsweise eröffnet. Black fährt fort, dass es somit voreilig wäre die Leiter, auf der wir, den letzten Bemerkungen des Buches entnehmend, hinaufgestiegen sind, von uns wegzustoßen, sie wegzuwerfen. Seine Verteidigungslinie – wie er es nennt – gegen ein derart gefordertes Unterfangen, liegt darin zu leugnen, dass es Wittgenstein darum ging Disziplinen a priori zu zerstören. Er schlägt stattdessen vor, nicht von unsinnig oder sinnlos, sondern von formalen Aussagen zu sprechen, die etwas zeigen, das gezeigt 16 | Jürgen Koller werden kann, obwohl sein Buch nicht dahingehend gelesen werden könnte, als würde es etwas sagen, d.h. empirische Aussagen hervorbringen. Zu den formalen Aussagen zählt Black alle Aussagen, die nach dem „Wesen“ von etwas suchen – d.s. Aussagen der Logik und philosophischen Grammatik (siehe Black 1964, 381). Ist dies eine kohärente Möglichkeit dem Tractatus doch einen Sinn abzugewinnen? Der nächste hier angeführte Interpret, Peter Hacker, würde dies verneinen. Hackers Buch Insight and Illusion (1972) lässt sich in die Phase, die wir ganz allgemein als synthetische Phase bezeichnen wollen, einordnen. In diese Zeit, beginnend in den 1970er Jahren, fallen vor allem Arbeiten, die das verbindende Element im Denken Wittgensteins herauszustellen suchten. Frongia/McGuinness unterscheiden diesbezüglich zwei Tendenzen (Frongia/McGuinness 1990, 32-33). Es gab einerseits jene Autoren, die eine einheitliche Entwicklung und einen Fortschritt im Denken Wittgensteins ausfindig gemacht zu haben meinten. Darunter subsumieren sie so namhafte Philosophen wie Kuang T. Fann (Fann 1969), Anthony Kenny (Kenny 1973) und auch Peter Hacker, im erwähnten Werk. Andererseits gab es jene Autoren, die die Kluft zwischen dem frühen und dem späten Wittgenstein dadurch schließen wollten, dass sie die Gemeinsamkeiten und Analogien im Denken in beiden Perioden betonten. Dazu zählen Frongia/McGuinness u.a. Philosophen wie David Pears (Pears 1970) oder Allan Janik und Stephen Toulmin (Janik/Toulmin 1973). Im nachstehend übertragenen Auszug aus Insight and Illusion äußert sich Hacker kritisch gegenüber Blacks Versuch eine Verteidigungslinie zu errichten, wobei er selbst daran festhält, dass Wittgenstein im Tractatus das Ziel verfolgte, eine Kritik der Sprache zu formulieren. Zu Recht wendet Hacker gegen Black ein, dass ein Ausweichen auf formale Aussagen nicht das gewünschte Einführung | 17 Ergebnis liefert. Denn formale Aussagen verletzen die Regeln der logischen Syntax, da sie, wenn sie als Werte für Variablen gebraucht werden, vortäuschen wirkliche Begriffe zu sein (Hacker 1972, 28-29). Hacker sieht die Richtigkeit des Tractatus in der Tatsache, dass, wer dessen Autor versteht, auf das aufmerksam werden wird, „what he has always implicitly known-the logical structure of language“ (1972, 30). Hier findet sich wieder ein Begriff des Verstehens. Nämlich: wer den Autor, die Person Ludwig Wittgenstein, versteht. Es stellt sich die Frage, ob man den Autor verstehen, ob man seine Perspektive überhaupt einnehmen kann und was es mit diesem „ihn verstehen“ auf sich hat, haben kann. Ein weiterer Beitrag, der übertragen wurde, stammt von Peter Geach und trägt den Titel Saying and Showing in Frege and Wittgenstein (1976). Dieser Arbeit kommt zweifache Bedeutung zu. Zum einen vertritt Geach hier im Einklang mit der Standardauffassung die Überzeugung, dass Sätze, die gegen die Grundlagen der logischen Syntax verstoßen, dennoch von Nutzen sein können: sie helfen, eine Einsicht zu verbreiten. Zum anderen wirkt diese Arbeit ungewollt als Inspirationsquelle für die nachfolgende Debatte (Beaney 2013, 119). In vier Hauptthesen legt Geach dar, dass bereits Frege die Überzeugung vertrat, dass es logische Kategorien-Unterscheidungen gibt, die sich in einer wohlgebildeten formalisierten Sprache zeigen, die darin aber nicht zutreffend behauptet werden können und Wittgenstein diese Kategorien-Unterscheidungen akzeptierte (Geach 1976, 54-70). Cora Diamond, die nächste hier exemplarisch behandelte Interpretin, teilt diese Auffassung nicht. Sie nimmt Geachs’ Arbeit in Throwing Away the Ladder (1988) als Ausgangspunkt und lässt dahingehend Sympathien erkennen. Sie bezeichnet diese Arbeit in 18 | Jürgen Koller einem späteren Rückblick als „immensely stimulating“ und „particularly helpful“ (Diamond 2011, 10).4 Im Weiteren kritisiert sie Peter Hacker, der als ein Vertreter der Standardauffassung gilt, für seine Interpretation von Unsinn im Tractatus als einen „realism of possibility“ (siehe Diamond 1988, 20) und bezeichnet diese als ein Kneifen (chickening out) (1988, 20). Ihr zufolge ist kneifen, vorzugeben, die Leiter wegzuwerfen, während man noch fest oder so fest wie möglich auf ihr steht (1988, 20). Strenggenommen sei das nicht möglich. In einer entschlossenen Lesart des Tractatus (resolute reading)5 werde Unsinn für das genommen, was er ist: nämlich für Unsinn. Dies ist die Position, die Cora Diamond vertritt und damit eine neue Lesart etabliert, die wir getrost, Hacker folgend, als eine postmoderne Lesart bezeichnen könnten (siehe Ha- 4 Diamond hatte sich schon vor Throwing Away the Ladder mit Geachs Position beschäftigt. In What Does a Concept-Script Do? (1984) gibt sie auf Seite 344 zu erkennen: „What puzzled me her was Geach’s claim that we show our understanding of the logical ill-formed sentences which seek to convey these category distinctions in our mastery of a well-constructed formalised language“. 5 Diese Bezeichnung stammt allem Anschein nach von Thomas Ricketts und wurde erstmals durch Warren Goldfarb (Goldfarb 1997, 64) in seiner Rezension von Diamonds The Realistic Spirit in den Diskurs eingebracht (und hat sich in der neueren Diskussion vor allem bei Verfechtern dieser Lesart als Eigenzuschreibung eingebürgert [siehe diesbezüglich auch Bronzo 2012, 45-80]). In der deutschen Übersetzung wird meist von einer strengen Lesart gesprochen. Zu den Gründen hierfür siehe u.a. Conant 2012, 39, Fn. 6. Ich möchte aus diversen Gründen resolute in dieser Einführung mit entschlossen übersetzen. Zum einen scheint mir, dass sich eine solche Übersetzung besser in das deutsche Sprachverständnis einfügt. Eine resolute Person ist eine entschlossene, nicht aber unbedingt eine strenge Person. Zudem vermeidet eine solche Übersetzung die Problematik, die diesbezüglich durch die von Meredith Williams eingebrachte Bezeichnung für eine resolute Lesart als austere view (vgl. Williams 2004, 1-27), bei der Übersetzung ins Deutsche entstehen kann. Einführung | 19 cker 2000, 356-360), schreibt sie doch Wittgenstein nicht die Auffassung zu, im Tractatus eine Lehre vertreten haben zu wollen und stellt sie doch die Schlussfolgerung auf, dass die Sätze des Tractatus, bis auf wenige Ausnahmen (darunter das Vorwort und der Schluss), allesamt Unsinn sind. Die Wirkmächtigkeit, die diese Lesart in der Folgezeit erlangt hat zum einen, und die Verbreitung neuer Ansätze in den 1980er Jahren in anderen Bereichen, wie der kognitiven Psychologie, der Soziologie, dem Recht, der Theologie, der Literaturtheorie und der Belletristik (siehe Stern 1994, 418) zum anderen, rechtfertigen die Bezeichnung dieser Periode, in Anlehnung an Alberto Emiliani (siehe Emiliani 2003, 205-229), als: die nihilistische Periode. Die unterschiedlichen Phasen der Werkinterpretation des Tractatus lassen sich nun Frongia und McGuinness bis zu Phase 4 (excl.) folgend (vgl. Frongia/McGuinness 1990, 1-38), einteilen in: Phase 1:Die logisch-atomistische Periode. Eine Phase, beginnend mit der deutschsprachigen Erstausgabe der Logisch-philosophischen Abhandlung im Jahre 1921, deren übergeordnete Relevanz, die sich v.a. aus dem Rekurs auf Bertrand Russells Vorwort speist, sich bis ans Ende der 1920er Jahre hinein erhält. Phase 2:Die neopositivistische Periode. Eine Phase, die geprägt ist von der Auseinandersetzung des Wiener Kreises mit Wittgensteins Traktat. Durch die Emigration führender Mitglieder des Kreises erlangte deren, wenn auch nicht einheitliche Interpretation, internationale Vorrangstellung. Als Zeitrahmen können im Groben die beiden Dekaden zwischen den 1930er Jahren und dem Tod Wittgensteins im Jahre 1951 angesetzt werden. Phase 3:Die abgrenzende Periode der zwei Wittgensteins. Mit dem Tod Wittgensteins, der Herausgabe der Philosophischen Untersuchungen im Jahre 1953, der damit einhergehenden Neuein- 20 | Jürgen Koller ordnung des Tractatus in das Werk Wittgensteins, durch, vor allem seine Schüler und Freunde und nicht zuletzt bedingt durch ein Zurückdrängen des Einflusses des Neopositivismus auf die akademische Philosophie (vgl. Burge 1992, 6), konnte diese Phase der Interpretation bis in die 1970er Jahre hinein zur tonangebenden werden. Phase 4:Die synthetische Periode. Nach einer ersten abgrenzenden Phase wurden in den frühen 1970er Jahren die Stimmen laut, die eine Synthese zwischen frühem und spätem Wittgenstein zu erkennen glaubten. Begründet kann eine solche Einordnung durch den breiteren Zugang zu Wittgensteins Werken aus dem Nachlass werden. Die fünfte Phase, die wir unter dem Titel nihilistische Periode firmieren lassen wollen, stellt eine Periode dar, die je nach Sichtweise immer noch anhält oder durch eine post-analytische Periode abgelöst wurde. Hervorzuheben ist diesbezüglich v.a. der Band Post-Analytic Tractatus (2004). Im Vorwort, auf der ersten Seite, schreibt Barry Stocker: „The purpose of Post-Analytic Tractatus is to draw attention to the ways of looking at Wittgenstein’s Tractatus Logico-Philosophicus, which refers to the limits of analytic philosophy, including the incorporation of approaches from Continental European philosophy“. Kritisch äußert sich Peter Hacker im vorletzten, hier übertragenen Beitrag, verbindend Marie McGinn im letzten Beitrag dieses Bandes. Die Standardlesart. Das übergreifende Element Der Einteilung der Rezeption von Wittgensteins Werk in dargelegte Hauptperioden fällt freilich ein willkürliches Moment anheim. So spricht James Griffin bereits in Wittgenstein’s Logical Atomism (1964) in nachvollziehbarer Weise von seiner neuen Interpretation des Tractatus im Gegenzug zur alten Interpretation, Einführung | 21 worunter er, unserer Einteilung zufolge, die logisch-atomistische und die neopositivistische Lesart des Tractatus subsumiert (vgl. Griffin 1964, 4). Diese neue Interpretation setzt sich von der alten nicht zuletzt dahingehend ab, dass sie dafür argumentiert, dass die Elementarsätze nicht mit Sinnesdaten, sondern mit subatomaren Entitäten, die physikalistisch als materielle Punkte gedeutet werden können, korrespondieren. Ähnliches findet sich bei George Pitcher in The Philosophy of Wittgenstein (1964). Auch er plädiert für eine physikalistische Darlegung der ontologischen Bemerkungen Wittgensteins (vgl. Pitcher 1964, v.a. 130-138) und hält zudem fest, dass es nach Wittgenstein wahre Lehrsätze (doctrines) gäbe, die nicht ausgedrückt werden könnten (1964, 138, 154-162). Diese interpretative Nähe veranlasst David Keyt dazu, beide Werke in seiner Rezension A New Interpretation of the Tractatus examined aus dem Jahre 1965 als ebensolche, neue Interpretation einzuordnen (Keyt 1965, 229-239). Diesen Interpretationen ist zu eigen, dass sie zwar eine Lesart des frühen Wittgenstein bereitstellen, diese jedoch nicht oder wie bei Pitcher, nicht in einem für diese Periode charakteristischen Sinne, in Beziehung setzen zum Spätwerk Wittgensteins, den Philosophischen Untersuchungen. 6 Zudem offenbart sich bei Pitcher explizit, was bei Griffin nur implizit gegeben ist7 – ein verbindendes Moment mit der alten Lesart. 6 Es erscheint angebrachter, Pitchers neue Interpretation des Tractatus, zusammen mit seiner Erörterung und Auseinandersetzung mit den Philosophischen Untersuchungen im zweiten Teil des Buches (vgl. 171-329), in die Periode der zwei Wittgensteins einzuordnen, als dass hier eine neue Lesart des Frühwerks als exemplarisch für eine Periode der Werkinterpretation stehend angesehen wird. 7 Für Griffin sei relativierend angefügt, dass er dies nur implizit tun muss, da in seinem Buch eine Erörterung der letzten Bemerkungen des Tractatus ausgespart bleibt. 22 | Jürgen Koller Denn Pitcher und Griffin lesen den Tractatus oder müssen ebendiesen wie bereits Russell zuvor und ihm, die von uns bereits besprochenen Wittgenstein-Exegeten, Elizabeth Anscombe, Peter Geach und Peter Hacker nachfolgend, als ein metaphysisches Werk lesen, um die Meinung vertreten zu können, dass darin wertvolle logische und sprachphilosophische Einsichten, metaphysische Wahrheiten über das Verhältnis von Sprache und Realität – z.B. durch die Bildtheorie des Satzes –, vermittelt werden. Diese Auffassung wollen wir nun allgemein, in ihrem verbindenden Element, als Standardinterpretation zu entwickeln suchen. Der Tractatus ist, und darüber dürfte Einigkeit herrschen, ein schwieriges, schwer zu meisterndes, klassisches Werk der Philosophie (vgl. Stenius 1969, 9, Fann 1969, 3). Auf knapp 80 Seiten mit rund zwanzigtausend Wörtern (vgl. Kenny 1974, 14), die nicht mehr als ein schmales Bändchen füllen, finden sich über 500 durchnummerierte, extrem verdichtete Bemerkungen, Thesen, Abschnitte, deren aphoristischer Stil zumeist nicht wesentlich zur Klärung des Inhaltes beiträgt. Folgt man dem Aufbau des Textes, so ergibt sich aus den sieben Hauptthesen und deren Unterabschnitten das folgende Bild. Wittgenstein setzt mit einer Weltbeschreibung an. In den Folgesätzen klärt er dieses Weltbild und erläutert seine Ontologie (vgl. 1-2.063; siehe auch Klemke 1971, 105).8 Mit Satz 2.1 geht 8 Man könnte es so formulieren: Die Welt als die Gesamtheit dessen, was der Fall ist, d.h. als die Gesamtheit der Tatsachen im logischen Raume (vgl. 1, 1.13, 2.06), ist eine Welt, die aus positiven Tatsachen, d.s. bestehende Sachverhalte (vgl. 2, 2.06), besteht. Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen und wird durch deren Konfiguration gebildet (2.01, vgl. 2.0272). Gegenstände bilden die Substanz, deren Konfiguration die materiellen Eigenschaften der Welt (vgl. 2.021, 2.0231). Die Substanz, die sowohl Form als auch Inhalt ist (vgl. 2.025), bestimmt die Formen – Raum, Zeit und Färbigkeit (2.0251) – der Gegenstände (vgl. Einführung | 23 Wittgenstein von der Weltbeschreibung als Gesamtheit der Tatsachen über zu einer Theorie der Abbildung, einer Bildtheorie, die er in den nachfolgenden Bemerkungen auf Gedanken und Sätze erweitert (vgl. 3, 3.1, 3.12 ff., 4).9 Daran anschließend folgt die Bestimmung der Philosophie als klärendes Medium, dessen Aufgabe sich in einer Kritik der Sprache, in Sprachkritik erschöpft (vgl. 4.0031, 4.112).10 Einen der größten und mithin ältesten Teile (vgl. Von Wright 1990, 29) bildet die nachfolgende Darlegung dessen, was Wittgenstein unter Logik versteht (vgl. 4.21-5.641, auch 6.1-6.13; siehe zudem Glock 2010, 342).11 Unter Punkt sechs 2.0231); durch die Konfiguration der Gegenstände den Sachverhalt (vgl. 2.0272). 9 Tatsachen sind nach 2.1 abbildbar. Das Bild, das die Wirklichkeit abbildet, vorstellt, besteht aus Elementen, die den Gegenständen entsprechen und im Bild die Gegenstände vertreten (vgl. 2.11, 2.201, 2.13, 2.131). Tatsachen müssen, um abbilden zu können, mit der Wirklichkeit, dem Bestehen und Nichtbestehen der Sachverhalte (vgl. 2.06), die Form der Abbildung, d.h. die Möglichkeit, dass sich die Sachen, Dinge so zueinander verhalten wie die Elemente des Bildes, gemein haben (vgl. 2.16, 2.17, 2.151). Diese Möglichkeit (Form) weist das Bild nur auf, es kann sie nicht abbilden (vgl. 2.172). Da die Form der Wirklichkeit die logische Form ist, ist jedes Bild auch ein logisches, das die Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte darstellt (vgl. 2.18, 2.182, 2.201). Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke, der Gedanke ist der sinnvolle Satz (vgl. 3, 4). 10 Alle Philosophie ist Sprachkritik (4.0031). Ihr Zweck ist die logische Klärung der Gedanken, indem sie das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft begrenzt (vgl. 4.112, 4.113). 11 Der Elementarsatz, als einfachster Satz, besteht aus Namen, d.s. die einfachen Symbole, und behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes (vgl. 4.21, 4.22, 4.24). Ist der Elementarsatz wahr, so besteht der Sachverhalt; ist der Elementarsatz falsch, so besteht der Sachverhalt nicht (4.25). Die Wahrheitsmöglichkeiten der Elementarsätze sind die Bedingungen der Wahrheit und Falschheit der Sätze und bedeuten die Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens der Sachverhalte (vgl. 4.3, 4.41). Die Sätze sind alles, was aus der Gesamtheit aller Elementarsätze folgt; der 24 | Jürgen Koller fallen Bemerkungen zur Mathematik als logischer Methode, einer Methode, die mittels Gleichungen Scheinsätze bereitstellt (vgl. 6.2-6.241),12 zur Wissenschaft – dem Kausalitätsgesetz, der Induktion – und dem Wesen einer wissenschaftlichen Theorie (6.3- 6.372; vgl. Black 1964, 344-366)13, fortfahrend die Bemerkungen Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze, die Elementarsätze sind die Wahrheitsargumente des Satzes (vgl. 4.52, 5, 5.01). Die allgemeinste Form des Satzes ist eine Variable, wobei die Strukturen der Sätze in internen Beziehungen zueinander stehen, die dadurch hervorgehoben werden können, dass wir einen Satz als Resultat einer Operation darstellen (vgl. 4.53, 5.2, 5.21). Alle Sätze sind Resultate von Wahrheitsoperationen mit den Elementarsätzen. Die Wahrheitsoperation ist die Art und Weise, wie aus den Elementarsätzen die Wahrheitsfunktion entsteht (5.3). Alle Wahrheitsfunktionen sind Resultate der successiven Anwendung einer endlichen Anzahl von Wahrheitsoperationen auf die Elementarsätze (5.32). Hier zeigt es sich, daß es „logische Gegenstände“, „logische Konstanten“ (im Sinne Freges und Russells) nicht gibt (5.4). Die Beschreibung der allgemeinsten Satzform ist die Beschreibung des einen und einzigen allgemeinen Urzeichens der Logik (5.472). Die „Erfahrung“, die wir zum Verstehen der Logik brauchen, ist nicht die, daß sich etwas so und so verhält, sondern, daß etwas ist: aber das ist eben keine Erfahrung. Die Logik ist vor jeder Erfahrung – daß etwas so ist. Sie ist vor dem Wie, nicht vor dem Was (5.552). Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt (5.6). Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen. Wir können also in der Logik nicht sagen: Das und das gibt es in der Welt, jenes nicht. Das würde nämlich scheinbar voraussetzen, daß wir gewissen Möglichkeiten ausschlie- ßen, und dies kann nicht der Fall sein, da sonst die Logik über die Grenzen der Welt hinaus müßte; wenn sie nämlich diese Grenzen auch von der anderen Seite betrachten könnte. Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können (5.61). 12 Die Mathematik ist eine logische Methode, ihre Sätze, die Gleichungen, sind Scheinsätze, die keinen Gedanken ausdrücken (vgl. 6.2, 6.21). 13 Das Gesetz der Induktion ist kein logisches Gesetz (vgl. 6.31). Das Kausalitätsgesetz ist die Form eines Gesetzes (vgl. 6.32). Die Newtonsche Mechanik bringt die Weltbeschreibung auf eine einheitliche Form Einführung | 25 zum Mystizismus (6.373-6.522; aber auch schon 5.62-5.64) und die beschließenden Sätzen, die, wie sich noch zeigen wird, in den Sätzen 6.54 und 7 ihre Vollendung finden.14 Bald nach Erscheinen des Buches wird dessen Wichtigkeit erkannt. So schreibt John Maynard Keynes bereits 1924 in einem Brief an Wittgenstein: „I still do not know what to say about your book, except that I feel certain that it is a work of extraordinary importance and genius. Right or wrong, it dominates all fundamental discussions at Cambridge since it was written“ (McGuinness 2012a, 151 [Brief vom 29.3.1924]). Exemplarisch sei auf die Abschnitte über die Bildtheorie des Satzes und den Stellenwert von Logik – u.a. über logische Wahrheit als Tautologie – und Philosophie – so z.B. die Auffassung hinsichtlich der Aufgabe der Philosophie als Medium der Sprachkritik – verwiesen, die unter den Interpreten von damals und bei vielen der heutigen Interpreten nachhaltige Beachtung fanden und noch immer finden.15 Diese exegetische Gemeinsamkeit rechtfertigt meiner Meinung nach eine Einordnung unter den Begriff Standardinterpretation. James (6.341). Sie ist ein Versuch, alle wahren Sätze nach einem Plane zu konstruieren (vgl. 6.343). Der Vorgang der Induktion besteht in der Annahme des einfachsten Gesetzes, welches sich mit unserer Erfahrung in Einklang bringen lässt (vgl. 6.363). Dieser Vorgang hat aber keine logische, sondern nur eine psychologische Begründung (6.3631). Einen Zwang, nach dem Eines geschehen müßte, weil etwas anderes geschehen ist, gibt es nicht. Es gibt nur eine logische Notwendigkeit (6.37). 14 Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß die Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig (6.54). Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen (7). 15 Eine Erörterung, inwiefern und inwieweit der Tractatus den „linguistic turn“ in der Philosophie eingeleitet hat, findet sich bei Hacker (2001b, 76-78). 26 | Jürgen Koller Conant nennt in Two Conceptions of Die Überwindung der Metaphysik (2001, 13-14) weitere Eigenschaften, die er einem Standardinterpreten des Tractatus zuschreibt. Peter Hacker fasst diese folgendermaßen zusammen: The standard interpretation, Conant claims, 1. holds that Wittgenstein sought to expose metaphysical utterances as nonsense on the grounds that they transgress specific rules of logical syntax (according to the Tractatus) or grammer (according to the later philosophy) 2. ascribes to Wittgenstein a substantial conception of nonsense, according to which metaphysical utterances consist of meaningful expressions combined in an illegitimate way 3. attributes the illegitimacy of the sentential combination to the fact that the meanings of these expressions cannot be so combined. (Hacker 2003, 2) Da die Zuschreibung als Standardinterpret in neuerer Zeit hauptsächlich von Vertretern einer entschlossenen Lesart vorgenommen wurde, scheint es angebracht zu sein, diejenigen Personen aufzuführen, die deren Meinung nach darunterfallen und die Frage zu klären, ob ihnen die, in den drei oben erwähnten Punkten geäußerten Behauptungen zuschreibbar sind oder nicht. Von Vertretern einer entschlossenen Lesart (so u.a. in Conant 2002, 425, Fn. 2, Kremer 2007, 164, Fn. 2, Kuusela 2006, 35; 2011, 144 und Read/Deans 2003, 239) werden (nicht erschöpfend) folgende Personen, hier samt Erscheinungsjahr ihres diesbezüglichen Werkes, einer Standardinterpretation zugerechnet: Elizabeth Anscombe (1959), Robert Fogelin (1976), Peter Geach (1976), Hans-Johann Glock (1996), Peter Hacker (1972, 2000), Anthony Kenny (1973), Norman Malcolm (1986), Brian McGuinness (1988), Ray Monk (1990, 2005), Howard Mounce Einführung | 27 (2001), David Pears (1987), Bertrand Russell (1921/1922), David Stern (1995), Martin Stokhof (2002) und Peter Winch (1993). Es ist fraglich, ob es vertretbar ist, diesen Personen alle drei Kriterien zuzuschreiben. So sieht sich beispielsweise Peter Hacker (2003, 3) als lediglich den ersten und unter Umständen den zweiten Punkt vertretend an. Auch sieht sich Brian McGuinness nicht als Vertreter der ‚Oxfordoxy‘, wie er es in Two Cheers for the ‚New‘ Wittgenstein? zu nennen pflegt (McGuinness 2012b, 261). Bei anderen möglichen Vertretern stellt sich die Frage, ob sie als Vorläufer einer entschlossenen Lesart oder in allen drei Punkten als Standardinterpreten geführt werden können. Vor allem Peter Geach und Peter Winch werden von einigen Proponenten der entschlossenen Lesart als Vordenker ebendieser aufgeführt (so z.B. bei Conant/Diamond 2004, 87, Fn. 4; siehe auch Diamond 2006). Erfolg versprechender scheint mir die Berücksichtigung von Cora Diamonds Einwand in Throwing Away the Ladder zu sein. Wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit erwähnt (vgl. 19), wirft sie Peter Hacker vor, dass dieser in Insight and Illusion die Meinung vertreten habe, dass die Dinge, worüber wir sprechen, dieser oder jener logischen Kategorie angehörig seien, wir dies allerdings nicht sagen könnten. Dies würde sich zeigen. Für Diamond ist eine solche Vorgehensweise inkonsequent, ein „Kneifen“ (vgl. Diamond 1988, 20). Die Zuschreibung dieser Perspektive als zutreffend im Sinne Wittgensteins, veranlasst Diamond zur folgenden Aussage: „The philosophical perspective is fine, but you just need to shut up“ (1988, 22). Mir scheint, dass die Kritik an der Sagen/Zeigen Interpretation bei den Vertretern der entschlossenen Lesart in der Folgezeit – wie wir im nächsten Kapitel sehen werden – wichtige Stellung einnahm. Hierunter lassen sich die oben erwähnten Interpreten subsumieren. Eine kohärente Lesart des Tractatus als Interpret Wittgensteins, lässt den Begriff des Standardinterpreten an der Hand- 28 | Jürgen Koller habung der letzten Bemerkungen im Tractatus, in einem nicht-eklektischen Sinne explizieren. Als Standardinterpreten wollen wir nun jene Person bezeichnen, die (i) den Tractatus als kohärentes Werk liest und (ii) mit Hacker die Auffassung vertritt: that although we should indeed take seriously the claim that the sentences of the Tractatus fail to conform with the logical syntax of language and are accordingly nonsensical, we should take equally seriously the claim that those sentences are a self-conscious attempt to say what can only be, and indeed is, shown by features of the relevant symbolism. (Hacker 2001a, 15) Daraus ergibt sich, dass die beschließenden Bemerkungen in den Stellen 6.54 und 7, nicht wortwörtlich aufgefasst werden können. Die entschlossene Lesart. Ein weiterer Weg Wir haben zuvor (vgl. 21), die gegenwärtige Phase der Werkinterpretation Wittgensteins als nihilistische Periode bezeichnet. Kennzeichnend für diese Periode ist eine intensive Auseinandersetzung mit Wittgensteins Frühphilosophie durch, vor allem, die Vertreter der entschlossenen Lesart des Tractatus. 16 16 Neben der bereits genannten Cora Diamond zählen James Conant, Thomas Ricketts, Michael Kremer und Juliette Floyd zu den Hauptvertretern dieser Lesart. Zu den wichtigsten, neben den hier erwähnten Werken Diamonds zählen diesbezüglich u.a. Diamond 1995, 513-17, 1997, 75-86 und zusammen mit James Conant 2004, 46-99. Bei Conant finden wir 1991, 328-364, 2000, 174-217 und 2002, 374-462; bei Ricketts sind hervorzuheben, Ricketts 1995, 3-15 oder auch 1996, S. 59-99. Zu den hiermit befassten Werken Kremers zählen Kremer 1997, 87-120 und 2002, 272-303. Bei Floyd sollten Erwähnung finden Floyd 1998, 79-108, 2001, 145-192 oder 2007, 177-200. Einführung | 29 Neben Cora Diamond ist es hier James Conant, der diesbezüglich besonders hervortritt. Beginnend mit einer im Sammelband übertragenen Rezension unter dem Titel Throwing Away the Top of the Ladder (1991) lässt Conant seine Unzufriedenheit mit der Lehre – hier vertreten von Brian McGuinness –, dass Unsinn unsagbare Wahrheiten manifest machen kann (doctrine that nonsense can make ineffable truths manifest), erkennen (vgl. Conant 1991, 337). So schreibt er: If the doctrine of the work cannot be stated and we cannot hope to seek enlightenment by attending to what the words of the book „say“ (since they are self-avowedly nonsensical), how then does McGuinness himself happen to know what the hidden teaching is? (1991, 332-333) Für Conant zeugt dies von Inkonsequenz und einer inkohärenten Sichtweise. Die Antwort auf die Frage, womit man denn zurückbleibt, wenn man die beschließenden Bemerkungen des Tractatus Ernst nimmt, sollte Conant zufolge eher lauten: „Nothing. […] our own sense of deprivation“ (337). Vielmehr sei es bedeutsam, dass Wittgenstein in der vorletzten Bemerkung von „der, welcher mich [Hervorherbung Conant] versteht“ spreche. Es gelte den Autor und die Tätigkeit, die er ausübt, nachzuvollziehen, nicht seine Sätze (denn sie sind Unsinn) (vgl. 344). Um den Autor verstehen zu können, sei es notwendig den Anweisungen im Vorwort und in den Schlussfolgerungen des Tractatus, den Anweisungen dahingehend, wie das Buch zu lesen ist, zu entsprechen (vgl. 345). In der Folgezeit hat Conant seine Lesart des Tractatus in einer Reihe weiterer Veröffentlichungen entwickelt (so in Conant 2000, 2002 und 2007) und zusammen mit Diamond 2004 in On Reading the Tractatus Resolutely, in ihrer bislang ausführlichsten Ausabeitung vorgelegt (siehe auch Conant/Dain 2011, 67). Darin geben 30 | Jürgen Koller sie zwei zusammenhängende, allgemeine Eigenschaften an, die ihrer Meinung nach genügen, um eine Lesart zu einer entschlossenen zu machen. Sie schreiben: The first is that it does not take those propositions of the Tractatus about which Wittgenstein said, at § 6.54, that they are to be recognized as „nonsensical“ to convey ineffable insights. The second feature is a rejection of the idea that what such recognition requires on the part of a reader of the Tractatus is the application of a theory of meaning that has been advanced in the body of the work – a theory that specifies the conditions under which a sentence makes sense and the conditions under which it does not. (Conant/Diamond 2004, 47) Neben den hier erwähnten Diamond und Conant haben sich eine Reihe anderer Wittgenstein-Forscher der Programmatik einer entschlossenen Lesart verschrieben, wenngleich die Nuancierungen differieren. So gelten allem voran Juliet Floyd, aber auch Rupert Read und Robert Deans als Vertreter einer stärkeren Auffassung (strong version) der entschlossenen Lesart. Juliet Floyd hatte bereits in den 1990er Jahren für ihre Verbesserungsvorschläge – noch bevor es mit der Herausgabe der Anthologie The New Wittgenstein im Jahre 2000 zu einer, auch nach Au- ßen hin sichtbaren Abgrenzung zur Standardlesart kam – die, in der Folgezeit für diese Richtung der entschlossenen Lesart17 zugewiesene Bezeichnung Jacobin auf sich gezogen.18 Jacobin bezieht 17 Wobei ich nicht verhehlen will, dass die Vertreter es nicht als eine Lesart, sondern eher als ein Leseprojekt „reading project“ verstehen (siehe u.a. Read/Deans 2003, 248). 18 Als exemplarische Publikation wäre hierzu Floyd 1995 anzuführen. In einem 1997 abgehaltenen Kolloquium zu Philosophie und Geschichte der Wissenschaft in Boston, lieferte Floyd eigenen Aussagen zufolge ihren Einführung | 31 sich hierbei auf eine, im Gegensatz zu Conant und Diamond, ausgeprägtere Auffassung und zwar in Anklang an die in der franzö- sischen Revolution für radikale Erneuerungen eintretende Gruppe der Jakobiner. Diamond und Conant, die eine schwächere Auffassung (weak version) vertreten, gelten als Girondisten, benannt nach einer Gruppe von Abgeordneten, die in der französischen Revolution gemäßigtere Positionen einnahmen (siehe hierzu Dreben 1992, 296, Read/Deans 2003, 248, Goldfarb 2011, 19 und Bronzo 2012, 54). Rupert Read und Robert Deans erarbeiten wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Lesarten19 in Nothing is Shown (2003). Für sie unterscheiden sich diese in mehreren Punkten. Die schwache Lesart vertrete u.a. die Auffassung, „that Wittgenstein attempted to demonstrate […] just what a deflationary and therapeutic conception of logical analysis amounts to“ (Read/Deans 2003, 249-250), „the „Frame“ [jene methodologischen Bemerkungen, die es möglich machen, den Autor zu verstehen; darunter das Vorwort und die beschließenden Bemerkungen, Jürgen Koller] can be held onto whilst the rest of the Tractatus is thrown away“ (2003, 251), zudem, „the propositions of the Tractatus are to be seen as rungs in a ladder that the reader must painstakingly climb in order to identify the philosophical concerns that motivate the text and do determine just how and in what way the philosophical propositions that are being expressed result in nonsense“ (252). grundlegenden interpretativen Vorschlag (basic interpretative proposal) (vgl. Floyd 2007, 219, Fn. 12), der gegenüber Diamond vor allem auf einer stärkeren Betonung der Funktion der logischen Notation im Tractatus bestand. Dieser Vorschlag brachte ihr dann allem Anschein nach auch die von Thomas Ricketts getätigte Zuschreibung als Jacobin ein (vgl. 2007, 219, Fn. 12). 19 Ich verwende hier schwach im Sinne von girondin und stark im Sinne von jacobin. 32 | Jürgen Koller Die starke Lesart vertrete hingegen u.a.: the Tractatus is a deliberately „self-refuting“ attempt to establish that no logical system is powerful enough to fully express in a general way the meaningfulness or the meaninglessness of any possible configuration of signs, and that the attempt to do so, including the attempt of the Tractatus, will inevitably result in nonsense. (250) Des Weiteren akzeptiere die strong version die „continuing therapeutic role for logical analysis, but thinks that Wittgenstein is much more concerned in the Tractatus to demonstrate that thinking cannot be completely reduced to and be fully expressed by any logical system and that the attempt to do this results in nonsense“ (251). Schließlich sehen Vertreter der starken Lesart auch den Rahmen [frame] „as yet another expression of the impulse towards metaphysics and [it] is to be surmounted as well“ (251). Kernstück der entschlossenen Lesart sei – ungeachtet der verschiedenen Nuancierungen – Read und Deans zufolge, das Bekenntnis zu diesen Aussagen: „an austere conception of nonsense; and the rejection of ‚positivism‘ (or, more broadly, ‚Carnapianism‘) and ‚ineffabilism‘“ (248). Hier zeigt sich die grundlegende Übereinstimmung mit der schwächeren Auffassung, sodass wir nun allgemein festhalten und übernehmen können, dass die Vertreter dieser beiden Strömungen der entschlossenen Lesart des Tractatus nun zumindest in zwei Grundzügen übereinstimmen. Sie vertreten (i) eine strenge [austere] Auffassung von Unsinn, die keine unsagbaren [ineffable] Wahrheiten beinhaltet und weisen (ii) die Vorstellung zurück, dass es Wittgenstein im Tractatus einer Bedeutungstheorie bedarf; es seine Absicht war, eine solche, Einführung | 33 eine Theorie der Logik oder irgendeine andere Theorie zu entwerfen (siehe u.a. Diamond/Conant 2004, 47 und 49, Read/Deans 2003, 248). Weder Standardlesart noch resolute Interpretation. Den Tractatus mit Verständnis lesen Wie wir gesehen haben, drängen sich gegenwärtig zwei Lesarten des Tractatus in den Vordergrund. Einige Interpreten sind der Meinung, Wittgenstein würde im Tractatus eine eigene philosophische Methode, eine Theorie entwickeln, um die Probleme der Philosophie, wie er sie sah, endgültig zu lösen. Der Tractatus wird als metaphysisches Werk gelesen, das wertvolle logische und sprachphilosophische Einsichten, metaphysische Wahrheiten über das Verhältnis von Sprache und Realität, vermittelt. Freilich bedarf es hierzu einer speziellen Lesart der tractarianischen UnsinnsKonzeption. So muss es neben der einen Form von Unsinn, durch welche sich ein falsches Verständnis der logischen Syntax offenbart, eine zweite geben. Diese „wichtige“ Form von Unsinn teilt uns durch die Übertretung der Grenze des sinnvoll Sagbaren etwas Bestimmtes über die „wichtigsten Züge der Realität“ (Kienzler 2008, 98) mit, sie vermittelt nicht ausdrückbare Einsichten. Dadurch ist sichergestellt, dass durch den Satz 6.54 nicht die einzige und alleinige Unsinnigkeit im ersten hier erwähnten Sinne, der Sätze der Abhandlung festgestellt wird. Fraglich ist, wie diese Lesart, die Standardlesart, in Einklang gebracht werden kann mit dem Bestreben, den Tractatus als kohärentes Werk zu lesen. Andere, entschlossene Interpreten, verneinen eine solche Lesart. Sie sind der Auffassung, und darin sind sie sich einig, dass Wittgenstein keine eigene philosophische Methodik oder Theorie bereitstellte, sondern seine Sätze nur als Erläuterungen gelesen werden dürfen. Erläuterungen, die unter Einbindung von Vorwort 34 | Jürgen Koller und Schluss dazu dienen, den Leser in einer Schritt-für-Schritt Lektüre – auf die einzelnen Sprossen der Leiter-Metapher – zu begleiten und letztlich dabei helfen, die Sätze des Tractatus als unsinnig, als reinen Unsinn zu entlarven. Als grundlegend problematisch für diese Lesart erweist sich die Auffassung – insofern begründbar –, dass mittels reinem Unsinn (plain nonsense) Einsichten vermittelt werden können (vgl. Conant/Dain 2011, 67). Im Folgenden wollen wir zeigen, dass es möglich ist, den Tractatus als kohärentes Werk zu lesen und 6.54 trotzdem Ernst zu nehmen. Ob dies gelingen wird, muss sich abschließend dem Verständnis des einzelnen Lesers erschließen. Schon früh wurde bemerkt, dass die fortschreitende Lektüre des Tractatus logico-philosophicus nicht nur überfordert, sondern, wie Schulte passend feststellt, „ein Ding der Unmöglichkeit“ sei (Schulte 1995, II). Erfolg versprechender scheint es, den Tractatus nicht als ein sich entwickelndes Werk, von A nach Z, von 1 nach 7, sondern als Werk aus seiner Entwicklung heraus zu lesen.20 Einer Entwicklung, die mit Wittgensteins Ankunft in Cambridge und dem Besuch von Russells Vorlesungen beginnt (vgl. Potter 2009, 18) und uns über die erhaltenen vor-tractarianischen Schriften zum Tractatus hin bzw. in ihn hinein führt.21 20 Zur Frage nach der Textgenese sei einleitend auf von Wright 1990, 77- 116 und McGuinness 1989, 35-47 verwiesen. Den aktuellen status quo legt Potter 2013, 13-39 dar. 21 Es sei darauf verwiesen, dass der Tractatus zu einem nicht geringen Teil aus Bemerkungen besteht, die wortwörtlich oder dem Sinn entsprechend Wittgensteins vor-tractarianischen Schriften entnommen und dabei nicht immer einem sich wandelnden Verständnis angepasst wurden (vgl. u.a. Geschkowski 2001, 88-206). Dies scheint als Beleg dafür gewertet werden zu können, dass eine chronologische Lesart einer fortschreitenden vorzuziehen ist. Wäre dem nicht so, erklärte sich nicht, warum beispielsEinführung | 35 Wittgenstein ging 1911 nach Cambridge um bei Russell über mathematische Logik zu hören (vgl. McGuinness 1988, 73-74 und Monk 1994, 54-57). In dieser und der Folgezeit verband Wittgenstein mit Russell das Interesse für logische Fragen. Es waren Begriffe, so teilt uns von Wright mit, wie „propositional function,“ „variable,“ „generality,“ and „identity“ (von Wright 1955, 532), aber auch die Frage nach dem Stellenwert der logischen Konstanten, die Wittgenstein in diesen Tagen in Anspruch nahmen. Diese Auffassung deckt sich mit den frühen Tagebucheintragungen, den ersten Briefen an Russell und spiegelt sich in den Aufzeichnungen über Logik aus dem Jahre 1913 wider. Dabei, so darf bemerkt werden, waren es immer Grundlagenfragen, die Wittgenstein leiteten; in dieser ersten Phase vor allem Fragen hinsichtlich der Grundlagen der Logik22, die zugegebenerweise unterschiedliche Textpassagen zu Ontologie und Welt fortschreitend realistisch, zu Beginn auch – oder nur – sprachontologisch aufgefasst werden können. 22 Es lassen sich viele Belege dafür anführen, dass der Tractatus für Wittgenstein zeitlebens Eines war, eine logisch-philosophische Abhandlung. So entnehmen wir beispielsweise den Kriegstagebüchern, dass Wittgenstein tagtäglich an Logik dachte, über logische Probleme nachdachte (vgl. Baum 1992, 58 [Tagebucheintrag vom 15.2.1915]) oder aus einem Brief Russells an Lady Constance Malleson über ein erstes Zusammentreffen der beiden nach dem Krieg in Den Haag, dass Wittgenstein „so voller Logik sei“, dass er ihn kaum zu etwas anderem bringen könne, als über Logik zu sprechen (he is so full of logic that I can hardly get him to talk about anything personal). Er schreibt weiter: „He came before I was up and hammered at my door till I woke. Since then he has talked logic without ceasing for 4 hours” (Brief an Lady Constance Malleson vom 12.12.1919; zitiert nach McGuinness 1988, 290). Der Stellenwert, den Logik, logisch-philosophische Überlegungen einnahmen, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass Wittgenstein darauf bedacht war, seine Abhandlung nicht inkohärent zu gestalten. Dies zeigen auch seine mystischen Bemerkungen am Ende des Werkes. 36 | Jürgen Koller maßen bereits „ontological consequences“ (Fann 1969, 6) beinhalteten und im Tractatus oftmals Bemerkungen unter den Nummern 5 und 6 direkt oder indirekt ansprechen.23 In einem Tagebucheintrag vom 22.1.1915 schreibt Wittgenstein: „Meine ganze Aufgabe besteht darin, das Wesen des Satzes zu erklären“ (Wittgenstein 1984, 129) und räumt damit den Übergang von einer, vor allem logischen Betrachtung hin zu sprachphilosophischen Fragestellungen ein. Diese, wenn man so will, zweit- älteste Phase schlägt sich im Tractatus in den Textstellen unter Bemerkung 3 und 4 nieder und umfasst bereits Wittgensteins Abbildtheorie, Bemerkungen, die unter 2.1 und danach fortschreitend ihren Platz einnehmen.24 Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Herausarbeitung der Übergänge von der ersten zur zweiten Phase nicht geleistet werden kann, da wir (i) über keine Aufzeichnungen Wittgensteins verfügen, die den Zeitraum 1911 bis 1913 abdecken und (ii) in den frühesten, uns vorliegenden Aufzeichnungen, Wittgenstein bereits beide Fragestellungen an- bzw. bespricht. Was geleistet werden kann, ist den Übergang von Phase zwei zu Phase drei, der Frage nach dem Wesen der Welt (vgl. 23 So können beispielsweise aus den Aufzeichnungen über Logik und den Aufzeichnungen, diktiert an Moore, u.a. folgende Bemerkungen im Tractatus wortgetreu oder dem Sinn nach wiedergefunden werden: 5.123, 5.1241, 5.2341, 5.42, 5.43, 5.44, 5.451, 5.5422, 5.542, 5.461, 6.113, 6.12, 6.1202, 6.1221, 6.1223, 6.1263, 6.1264. 24 Aus den Aufzeichnungen über Logik, den Aufzeichnungen, diktiert an Moore und den Tagebüchern (22.8.1914-29.12.1914) seien folgende Bemerkungen extrahiert: 2.141, 2.1515, 2.17, 2.18, 2.203, 2.221, 3.001, 3.02, 3.03, 3.13, 3.14, 3.143, 3.1432, 3.144, 3.203, 3.22, 3.315, 3.322, 3.326, 3.332, 3.342, 3.344, 3.4, 3.41, 3.411, 3.42, 4.01, 4.012, 4.016, 4.02, 4.021, 4.023, 4.024, 4.027, 4.03, 4.031, 4.0311, 4.0312, 4.032, 4.04, 4.0411, 4.06, 4.061, 4.062, 4.0621, 4.063, 4.064, 4.0641, 4.111, 4.1121, 4.12, 4.121, 4.1212, 4.1241, 4.221, 4.26, 4.442, 4.461, 4.462, 4.463, 4.464, 4.465. Einführung | 37 Wittgenstein 1984, 174 [Tagebucheintrag vom 2.8.1916], kurz anzudeuten. Wenn wir annehmen, dass sinnvolle Sätze Gedanken und durch die, mit der Wirklichkeit geteilte logische Form, logische Bilder der bestehenden Sachverhalte sein können, so setzen wir die logische Form als conditio sine qua non für die Abbildbarkeit der Wirklichkeit durch Bilder bereits voraus. Sätze wie 2.172: „Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie auf“, scheinen auszudrücken, was sie nicht (sinnvoll) ausdrü- cken können. Wittgenstein war sich dieser Problematik schon früh bewusst und bot eine Lösung für dieses Problem an, welche später die Kohärenz des Werkes garantieren sollte. Seine Lösung lag darin, eine Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen einzuführen (vgl. Wittgenstein 1984, 109, 124 [Tagebucheinträge 29.10.1914 u. 29.11.1914]). Damals scheint sich Wittgenstein noch nicht klar darüber gewesen zu sein, was den ontologischen Status dieser Unterscheidung betrifft. So hadert er beispielsweise in dieser Zeit noch mit der Frage nach der materiellen Verfasstheit des allgemeinen Satzes (vgl. Wittgenstein 1984, 106 [Tagebucheintrag vom 23.10.14]). Seine durchwegs vorhandene Bezogenheit auf die „ontological consequences“, welche sich schon in frühen Bemerkungen zu Begriffen wie Gegenstand und Welt finden lässt,25 kann zu diesem Zeitpunkt freilich das sich durch die Formulierung der Bildtheorie ergebende Problem, die Schwierigkeit, die Verbindung zwischen den Elementen des Bildes – im Satz der Name als Vertreter des Gegenstandes, im Elementarsatz als konstituierender 25 Die Erwähnung des Weltbegriffes wird meist beiläufig, wie z.B. über die Abbildtheorie (ein Automobilunglück im Pariser Gerichtssaal) thematisiert. Von einer Welt, die nicht aus Dingen, sondern aus all dem was der Fall ist besteht, liest man in den Schriften, die uns aus einer Zeit vor der Niederschrift des Prototractatus vorliegen, allerdings nichts. 38 | Jürgen Koller Bestandteil – und den Gegenständen als Bestandteile der Sachverhalte, über die Form der Abbildung zu begründen, nicht lösen. Mir scheint, erst Wittgensteins Weltbeschreibung in den ersten Sätzen des Tractatus, eine Weltbeschreibung, die eine Dingontologie dezidiert ausschließt und allem Anschein nach sehr spät erstellt wurde (siehe Black 1964, 27), bietet eine Teillösung, welche die Problematik, wenn auch nicht auflöst – es bleibt Peter Winch folgend in der Tat schwierig einzusehen, wie man von einer Beziehung zwischen einem Namen und einem außersprachlichen Gegenstand überhaupt reden können sollte (vgl. Winch 1992, 21) –, so doch zumindest in eine Sprachontologie hinein verschiebt.26 Wittgenstein nimmt darin nicht nur Abstand von einer Welt, zusammengesetzt aus Dingen, sondern auch von einer Welt, die au- ßerhalb der Sprache verortet werden kann. Eine solche Interpretation erklärt auch die Widersprüche zwischen den Sätzen zur Weltbeschreibung in den Nummern 1.nm und 2.nm. Sätze wie „Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt“ (2.021) und „Die Substanz ist das, was unabhängig von dem was der Fall ist, besteht“ (2.024), stehen in direktem Gegensatz zum Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ (1). Liest man den Tractatus chronologisch, so steht die Frage im Raum, warum Wittgenstein die Abhandlung nicht mit seiner Weltbeschreibung enden ließ und stattdessen mit ebendieser beginnt. Es lässt sich die Auffassung vertreten, dass die Weltbeschreibung den status quo darstellte, den Hintergrund, vor welchem Wittgenstein zu dieser Zeit den Prototractatus (Bodleinus) erstellte.27 Eine 26 Es ließe sich allerdings anführen, dass Wittgensteins Gebrauch des Begriffes zeigen variiert und zeigen in 2.02331 eine ostensive Referenz dezidiert ausschließt. 27 Für die Auffassung, dass der Beginn des Tractatus – Wittgensteins Weltbeschreibung – mit der Erstellung des Prototractatus(Bodleinus) zusamEinführung | 39 chronologische Lesart, welche die Phasen und deren Übergänge in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, kann zudem scheinbar unvermittelt fortschreitende Bemerkungen oder Texstellen, die gegen das Nummerierungsprinzip verstoßen, besser erklären als andere Ansätze. So ist der Übergang von Bemerkung 2.063 zu 2.1, dem Beginn der Bildtheorie, unter Berücksichtigung der bereits früh vorhandenen Bindung an die „ontological consequences“ und des Übergangs von Phase zwei zu Phase drei der Betrachtung heraus erklärbar. Auch lässt sich Satz 2.0201, der als Entsprechung zu einer frühen Bemerkung aus den Aufzeichnungen über Logik aufgefasst werden kann, vor dem Hintergrund interpretieren, dass der Tractatus, wie Wittgenstein es ausdrückte, neben gutem und echtem auch Kitsch enthalte, d.s. Stellen, mit denen Wittgenstein lediglich Lücken aufgefüllt zu haben scheint (vgl. Somavilla 1997, 28 [16.5.1930]). Ein weiterer Grund dafür, warum Wittgenstein seine Abhandlung nicht mit einer Weltbeschreibung enden ließ, liegt darin, dass eine Weltbeschreibung, die von einer Welt, bestehend aus dem, was der Fall ist, aus Tatsachen, der Gesamtheit der Tatsachen, ausgeht (vgl. 1, 1.1, 2), zwar als notwendige Bedingung für die Kohärenz der Sätze des Tractatus angesehen werden kann, was aber nicht bedeutet, dass das Problem, das durch die Teil-Lösung, der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen gelöst werden sollte, menfällt, spricht der Stand der Dinge in den Tagebüchern – die sich häufenden Bemerkungen über Gegenstände gegen Ende des zweiten Notizbuches, NB2 [ich verwende hier Potters Einteilung] (vgl. Wittgenstein 1984, 164) und daran anschließend, zu Beginn von NB3 (vgl. 1984, 166) die Bemerkungen zu Welt. So ließe sich der Zeitraum zwischen Sommer 1915 und Sommer 1916 – mit Verweis auf ein verlorengegangenes Tagebuch, NB2a, welches als Weiterführung der ontologischen Bemerkungen am Ende von NB2 gelesen werden kann – gut in Einklang bringen mit der Behauptung, dass die Entstehung des Bodleinus in das Frühjahr 1916 fallen muss (vgl. Potter 2013, 37). 40 | Jürgen Koller tatsächlich gelöst ist. Dass Wittgenstein an einer Lösung interessiert war, zeigt sich in den mystischen Bemerkungen und den Bemerkungen, die das Werk beschließen.28 Zudem wäre es geradezu grotesk anzunehmen, dass Wittgenstein Russells Kritik in seiner Einleitung zur deutschsprachigen Erstausgabe der Logisch-Philosophischen Abhandlung in den Annalen der Naturphilosophie, dass Wittgenstein es fertigbringe „ziemlich fiel über das zu sagen, was nach ihm unsagbar ist“ (Russell 1921, 197 [TLP 1921]), nicht verstanden habe. Vielmehr zeigt Russell in einem der Folgesätze, wenn er schreibt: „Seine Verteidigung würde darin liegen, daß was er das 28 Es ist bekannt, dass Wittgenstein nicht erst durch Russell mit dem Mystizismus in Berührung gekommen ist. Sein Interesse am Mystischen lässt sich bis in die frühe Jugendzeit zurückverfolgen. So wurde er wahrscheinlich schon sehr früh von seiner älteren Schwester Hermine in die Schriften Kierkegaards eingeführt (vgl. Schönbaumsfeld 2013, u.a. 60- 61). Zudem erfahren wir durch Engelmann, Malcolm, von Wright, Russell und durch Wittgenstein selbst, dass er bis zur Edition der Logischphilosophischen Abhandlung u.a. Augustinus’ Bekenntnisse (vgl. McGuinness 1988, 44; s.a. von Wright 1955, 544), James’ Varieties of Religious Experience (Brief an Russell vom 22.06.1912; siehe McGuinness/von Wright 1980, 17-18), Angelus Silesius und Dostojewskis Die Brüder Karamasow (Brief von Russell an Lady Ottoline Morrell, vom 20.12.1919; siehe McGuinness/von Wright 1980, 101), Tolstois Hadschi Murat und dessen Erläuterungen zu den Evangelien (Brief an Russell, Sommer 1912; siehe McGuinness/von Wright 1980, 23, sowie Baum 1992, 29) oder auch Emersons Essays (Tagebucheintrag vom 15.11.1914; siehe Baum 1992, 42) gelesen hatte. Somit stellt sich die Frage, welchen Zweck es hatte, mystische Bemerkungen erst relativ spät in den Tagebüchern in Erscheinung treten zu lassen (erstmalig wohl in einem Eintrag vom 25.5.1915; siehe auch Glock 2010, 250. Dieser spricht allerdings davon, dass diese Themen erst 1916 auftauchen würden, was unter Berücksichtigung des Plurals sicher nicht falsch ist), und diese nicht direkt seiner Weltbeschreibung folgen zu lassen, sondern damit die Logisch-philosophische Abhandlung zu einem Ende hinzuführen. Einführung | 41 Mystische nennt zwar nicht gesagt, wohl aber gezeigt werden kann“ (1921: 197), dass diese Kritik unbegründet ist. Für die Vertreter einer entschlossenen Lesart des Tractatus hält dieser Hinweis die Lösung, bezogen auf 6.54 bereit. Um dies zu verdeutlichen, wollen wir Textstelle 6.54 nun zur Gänze wiedergeben. Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß die Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Anhänger einer entschlossenen Lesart vertreten die Auffassung, dass man, nachdem man die beschließenden Bemerkungen gelesen hat, mit nichts weiter zurückbleibt. Bedeutsam sei es, „der, welcher mich versteht“ dahingehend zu lesen, dass uns Wittgenstein hier nahelege, ihn und die von ihm ausgeübte Tätigkeit nachzuvollziehen. Seine Sätze aber seien Unsinn. Wenn nun aber seine Sätze Unsinn sind, dann sind auch die beschließenden Bemerkungen unsinnig und es bleibt die Frage, warum gerade ein Rahmen, Bemerkungen, die sowohl textuell wie auch zeitlich auseinanderliegen, als Anweisung ausgenommen werden soll. Zudem stellt sich die Frage, wie die Person Wittgenstein verstanden werden soll. Wirft nicht gerade eine solche Auffassung die Frage nach dem Status von Wittgensteins Ontologie erneut auf? Macht nicht gerade diese Auffassung den Tractatus zu einem inkohärenten Werk? Lässt man dies beiseite, scheint für Vertreter der entschlossenen Lesart, nebst aller Widersprüche, nur die Möglichkeit zu 42 | Jürgen Koller bleiben, am Ende zu schweigen oder, der chronologischen Lesart folgend, mich verstanden, verstehend schweigen.29 Für die Vertreter einer Standardinterpretation des Tractatus lässt sich diesbezüglich Folgendes festhalten. Wir haben festgestellt, dass es sich bei Wittgensteins Ontologie, wie sie sich in den ersten Sätzen der Abhandlung präsentiert, um eine Ontologie handelt, die ihren Raum in der Sprache einnimmt. Hier zeigt sich, dass Wittgensteins Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen nur eine Teillösung darstellt, darstellen kann, die im letzten Teil des Tractatus durch die Rückführung auf den Solipsismus und dessen Auflösung in (spätestens) 6.54, im Verständnis seiner Sätze, nämlich im Verständnis dessen, dass das Verstehen des metaphysischen Subjektes die Grenze in der Sprache bildet, kulminiert. Das Mich des Verstehens in 6.54 weist nicht auf Wittgenstein, etwas außerhalb der Sprache Gelegenes, eine Person, eine Gesamtheit von materiellen Punkten, sondern auf das Mich in der Sprache – das Personalpronomen; das, was unter „mich“ verstanden wird. In diesem Kontext stellt es den Abschluss der Leiter dar, verleiht der Leiter Kohärenz und macht sie zu dem, was sie ist: Ein Wort in der Sprache, ein sprachontologisches Konstrukt, das nur verstanden werden kann – und hier befinden wir uns noch auf der letzten Sprosse dessen, was sich sagen lässt (vgl. Prototractatus 6.55) –, 29 Freilich ließen sich auch andere Punkte gegen die Kohärenz dieser Lesart einbringen. So stellt sich die Frage, warum Wittgenstein im Vorwort nicht von „meine“ Gedanken spricht, in den abschließenden Bemerkungen jedoch von „mich versteht“? Kann man Wittgenstein verstehen, wenn es unmöglich ist seinen Standpunkt einzunehmen? Oder, wie ist Ramseys Brief an seine Mutter [20.09.1923] diesbezüglich zu bewerten? Darin schreibt er: „His idea of his book is not that anyone by reading it will understand his ideas, but that some day someone will think them out again for himself, and will derive great pleasure from finding in his book their exact expressions” (Wittgenstein 1973, 77-78). Einführung | 43 wenn Sprache und Ontologie im Verständnis, in einem sprach-ontologischen Verständnis des perspektivisch gebundenen, ausdehnungslosen metaphysischen Subjekts verschmelzen. Erst wenn der Sprung vollzogen wurde, sehen wir die Welt richtig. Wir erkennen was sich zeigt und was sinnvoll gesagt werden kann. Der Rest ist, auch für die Vertreter einer Standardinterpretation, Schweigen. Jürgen Koller

Erscheinungsdatum
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 145 x 225 mm
Gewicht 710 g
Einbandart Leinen
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Philosophie • Sprache • Wittgenstein
ISBN-13 9783884051214 / 9783884051214
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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