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Träumer - Als die Dichter die Macht übernahmen (eBook)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31788-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Träumer - Als die Dichter die Macht übernahmen -  Volker Weidermann
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1919, Revolution in München - und alle sind vor Ort: Ernst Toller, Thomas Mann, Erich Mühsam, Rainer Maria Rilke, Gustav Landauer, Oskar Maria Graf, Viktor Klemperer, Klaus Mann ... Wann gab es das schon einmal - eine Revolution, durch die die Dichter an die Macht gelangten? Doch es gibt sie, die kurzen Momente in der Geschichte, in denen alles möglich erscheint ...Von einem solchen Ereignis, der Münchner Räterepublik zwischen November 1918 und April 1919 erzählt Volker Weidermann im Stil einer mitreißenden Reportage, bei der der Leser zum Augenzeugen der turbulenten, komischen und tragischen Wochen wird, die München, Bayern und Deutschland erschütterten.Nach der Vorgeschichte, dem Ende des 1. Weltkriegs und der Absetzung des bayrischen Königs, beginnt der magische Moment, in dem alles möglich erscheint: radikaler Pazifismus, direkte Demokratie, soziale Gerechtigkeit, die Herrschaft der Phantasie. An der Spitze der Rätebewegung stehen die Schriftsteller Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam, auf die nach den Tagen der Euphorie und der schnellen Ernüchterung lange Haftstrafen oder der Tod warten. In rasantem Tempo und aus der Perspektive von Beteiligten und Beobachtern vor Ort wie Thomas Mann, Klaus Mann, Rainer Maria Rilke, Adolf Hitler, Viktor Klemperer oder Oskar Maria Graf entsteht so ein historischer Thriller über ein einzigartiges Ereignis der deutschen Geschichte.

Volker Weidermann, geboren 1969 in Darmstadt, war Gastgeber des »Literarischen Quartetts« im ZDF. Er ist Kulturkorrespondent der Zeit und Autor zahlreicher Bücher, darunter »Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen« und »Mann vom Meer«. Außerdem ist er Herausgeber der Reihe »Bücher meines Lebens«.

Volker Weidermann, geboren 1969 in Darmstadt, war Gastgeber des Literarischen Quartetts im ZDF. Seit 2021 leitet er das Feuilleton der Zeit. Er ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. »Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft« und »Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen« und Herausgeber der Reihe »Bücher meines Lebens».

München der Möglichkeiten


Der Ruf Münchens schallte in den Tagen nach Eisners Beerdigung durch ganz Europa. Was hier möglich gewesen war, nach dem Krieg, das war doch einfach unglaublich. Dass sich hier ein langhaariger Theaterkritiker eines Nachts in einem günstigen Moment auf den Stuhl des Ministerpräsidenten gesetzt hatte und dort einfach sitzen geblieben war und regiert hatte, das war doch fantastisch! Ein Dichter! Ein Träumer! Ein mystischer Revolutionär! Und das in diesem waffenstarrenden Großmannsland Deutschland, das die Nachbarn in den letzten Jahren das Fürchten gelehrt hatte. Das konnte, das durfte durch die Schüsse eines einzelnen Fanatikers nicht ungeschehen gemacht werden. Schließlich hatten ja alle gesehen, dass auch noch nach seinem Tod die Stadt hinter ihrem Traumprinzen stand, als ihn die 100000 so festlich und würdevoll zu Grabe getragen hatten. »O Welt werde froh!«, das war sein Abschiedsgruß gewesen, seine Botschaft an alle. Und viele, viele kamen nun zum Frohwerden in die Hauptstadt der Bewegung des Glücks.

Eine Regierung gab es nicht mehr. Besser gesagt: Es gab zwei Regierungen und beide regierten so vor sich hin, ohne die Menschen groß zu stören. Der Zentralrat bestand fort, reklamierte alle Befugnisse für sich und berief wieder den Rätekongress ein. Die gewählten Parlamentarier, die nicht gleich nach Eisners Ermordung aus der Stadt geflohen waren, trafen sich in Privatwohnungen, um das weitere Vorgehen abzustimmen und eine neue Regierung zu wählen. Als sie wenige Tage nach Eisners Ermordung den Tatort gemeinsam mit dem Polizeipräsident besichtigten und einige ankündigten, am nächsten Tag im Landtag wieder Fraktionssitzungen, abzuhalten, erklärte dieser, für die Sicherheit der Abgeordneten keine Garantie abgeben zu können. Und auch die Soldaten der republikanischen Schutzwehr, die den Landtag schützten, machten den Parlamentariern überdeutlich, dass sie bei eventuellen Angriffen keinesfalls auf ihre Hilfe rechnen sollten. So verließen die Abgeordneten die Stadt, trafen sich Anfang März abwechselnd in Nürnberg und Bamberg, um über die Bildung einer neuen Regierung zu verhandeln. Der Fraktionschef der Deutschen Demokratischen Partei, Ernst Müller-Meiningen, schildert die mobilen Verhandlungen jenseits von München so: »Am Sonntag fuhren wir in einem großen Lastauto, einträchtig Sozialdemokraten, Demokraten, Bayerische Volkspartei, noch spätabends von Nürnberg nach Bamberg, um dort bis lange nach Mitternacht über die Regierungsbildung und den Entwurf des Regierungsprogramms zu beraten.«

Schwieriger wird es, wieder ein Kabinett zusammenzustellen. Die SPD will unbedingt – aus Angst vor der Macht der Straße –, dass auch die USPD trotz ihrer verheerenden Wahlniederlage wieder einen Posten im Kabinett bekommt. Schön, schreibt Müller-Meiningen, ernennen wir also den Hans Unterleitner wieder, als Minister für soziale Fürsorge: »Unterleitner, der Naturbursche des Ministeriums Eisner, erschien den Parteien ungefährlicher drinnen als draußen.« Irgendwann haben sie endlich alle Minister zusammen. Doch das schwierigste Problem ist: Wer will unter diesen Umständen, hier draußen, Ministerpräsident einer geflohenen Regierung werden?

Der Rätekongress in München hatte den SPD-Politiker Martin Segitz als Regierungschef eingesetzt, das machte ihn nun für die Abgeordneten in ihrem mobilen Parlament nicht wählbar. »Wir sahen den bisherigen Kultusminister Johannes Hoffmann als den einzig ernstlich in Betracht Kommenden an. Er machte große Schwierigkeiten.« Hoffmann war ein 1908 in Kaiserslautern aufgrund seiner offenen Sympathien für die SPD aus dem Schuldienst entlassener Lehrer, der in der kurzen Zeit als Minister in der Regierung Eisners durch eine antiklerikale Schulpolitik die katholische Kirche bis aufs Blut gereizt hatte. »Pikant«, nennt Müller-Meiningen die Situation, »daß ausgerechnet dieser von der Bayerischen Volkspartei als reiner Gottseibeiuns verfluchte gottlose Mann … von den Vertretern dieser Partei inständigst gebeten wurde, doch die Kandidatur ›als einzig Geeigneter‹ anzunehmen.« Mit dem Tode bedroht, ohne wirkliche Macht, ohne Amtssitz, ohne Hauptstadt – nein, Johannes Hoffmann hatte sich wirklich nicht auf diesen Posten gedrängt.

Aber auch der Münchner Zentralrat fühlt sich in diesen Wochen nicht im Vollbesitz der Macht. SPD-Mann Ernst Niekisch sitzt dem Zentralrat vor und klagt: »Es ist wahrhaft sehr unangenehm, verantwortliche Regierung zu sein und als Trottel behandelt und gegängelt zu werden. Auch mir kocht mitunter die Wut auf.«

Angenehmer ist es, nicht zu regieren. Angenehmer ist es, die Freiheiten in dieser unregierten Stadt, in diesem unregierten Land zu nutzen. Es kommen in diesen Wochen Traumtänzer, Wintersandalenträger, Prediger, Grashörer, Befreite und Befreier, Langhaarträger, Hypnotisierer und Hypnotisierte, Schwebende. Wer in diesen Tagen in diese leuchtende Stadt kommt, wird selbst erleuchtet. Gustav Regler erinnert sich später: »Ich kam mit wenig Gepäck und spärlichem Geld in München an, verwirrt, aber mit dem Gefühl, in einem ganz neuen, besseren Land angekommen zu sein.«

Der Dramatiker und Schriftsteller Friedrich Freksa aus Berlin, der wenige Jahre zuvor in seinem Roman »Phosphor« das Leben eines Spießbürgers geschildert hatte, der durch einen Schlag auf den Kopf zu einem lockeren Lebemann und Schwerenöter geworden war, sah seinen Roman Wirklichkeit geworden, als er in der bayerischen Hauptstadt ankam: »Aber was war das für ein Treiben? War das noch München? Nein, das war eine südliche Stadt! Auf den Stufen sonnten sich zerlumpte Menschen. Frauen mit Kindern saßen auf den Sockeln der Gebäude. Rote, grüne und blaue Decken leuchteten, Lazzaronitum war eingezogen.«

Der Kriegsheld Wilhelm Schramm, der sich aufgrund seiner außerordentlichen militärischen Leistungen seit einigen Monaten Wilhelm Ritter von Schramm nennen durfte, war ernsthaft erschüttert von der Verwandlung seiner Stadt in eine Karnevalsstadt der Weltenbeglücker: »Die radikalen Elemente aus aller Welt hatten sich hier gesammelt, Deserteure und viele sogenannte Künstler, internationale Literaten und jüdische Intellektuelle, die oft nicht einmal deutsch verstanden – kein Zweifel, daß jetzt das tausendjährige Reich irdischen Glücks beginnen mußte. Von dieser neuen Menschheit und ihrem Reich, das alle Völker oder doch die Proletarier aller Länder umfassen werde, sprachen, ja predigten jetzt die großen und kleinen Propheten an allen Straßenecken, die täglich Gemeinden um sich versammelten: Neander nannte sich einer von ihnen, der sich nicht scheute, Gott wieder anzurufen und Christus selbst als die wahren Kronzeugen und Schutzgötter der sozialistischen Revolution.«

Oskar Maria Graf ging, wenn er nicht gerade beim Holländer trank, unaufhörlich durch die Straßen dieser trunkenen Stadt und konnte es nicht fassen: »Es tauchten um jene Zeit massenhaft solche Sonderlinge auf. Einer trug einen langen Zopf und Strohhut, sehr enge, karierte Hosen und eine ebensolche Joppe. Er suchte die Menschenaufläufe und lispelte dann jedem ins Ohr: ›Christus sind wir! Seid ruhig, ihr Menschenkinder! Hämmert nicht euer eigenes Kreuz!‹ Und ebenso hurtig verschwand er wieder. Ein anderer – sehr verwahrlost gekleidet, mit bezwickertem, bissigem Gesicht – saß meistens in den Cafés herum und rechnete. Auf lange, weiße Blätter malte er Tabellen, und wenn ihn wer ansprach, erklärte er ihm schnaufend, wenn jeder täglich nur neunzig Gramm Roggenbrot und zehn Gramm Fleisch äße, wäre kein Elend mehr. Besonders wütend war er auf die Konditoreiwaren. Stand er vor einer solchen Auslage, dann schimpfte er drauflos: ›Da, da, Herr Nachbar, da! … Sehn Sie’s nicht ein? … Dieser Luxus ist unser Ruin … Der Zuckerbäcker ist der größte Verbrecher … Gegen die muß man vorgehen …‹«

Graf schaute, hörte, notierte und staunte: »Christenmenschen predigten in Versammlungen, Nacktkulturanhänger verteilten ihre Kundgebungen, Individualisten und Bibelforscher, Leute, die den Anbruch des tausendjährigen Reiches verkündeten, und Käuze, die für Vielweiberei eintraten, eigentümliche Darwinisten und Rassentheoretiker, Theosophen und Spiritisten trieben ein harmloses Unwesen. Einmal nachts ging ich über den Stachus. Ein magerer Mensch schoß auf mich zu, steckte mir hastig einen Zettel zu und lief eilends in der trüben Dunkelheit weiter. Ich trat unter eine Laterne und besah den Wisch. Nichts weiter stand darauf als: ›Der Jude spricht dazwischen! Deutsche besinnt euch!‹«

Währenddessen sind die verschiedenen Regierungen fleißig mit Resolutionen, Sozialisierungen, Gesetzesinitiativen und Selbstbestätigung beschäftigt. Schon am 28. Februar hatte der Anarchist Erich Mühsam, der auf keiner Demonstration, keiner Versammlung, bei keiner Debatte, Aussprache, Dichterlesung in diesen Monaten fehlt, auf dem Rätekongress die Ausrufung Bayerns zur sozialistischen Räterepublik beantragt, doch die Delegierten lehnten seinen Antrag mit 70 zu 234 Stimmen ab. Daraufhin hatten sich die Kommunisten Max Levien und August Hagemeister vom Zentralrat getrennt und die kommunistische Zentrale in Berlin hatte den in Petersburg geborenen, in einem Internat in Wiesbaden erzogenen, seit 1905 an allen Brennpunkten der Revolution beteiligten Lyriker und Berufsrevolutionär Eugen Leviné nach München geschickt. Es war klar, die Zeit des Vakuums, der Anarchie, sie würde nicht ewig währen.

Und Räte – das war das Zauberwort...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2017
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Das Literarische Quartett • Erich Mühsam • Ernst Toller • Gustav Landauer • Kurt Eisner • November-Revolution • Ostende • Rainer Maria Rilke • Räterepublik-München-1919 • Thomas Mann
ISBN-10 3-462-31788-1 / 3462317881
ISBN-13 978-3-462-31788-6 / 9783462317886
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