Zum Hauptinhalt springen
Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Der ästhetische Imperativ (eBook)

Schriften zur Kunst

(Autor)

Peter Weibel (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
522 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74361-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der ästhetische Imperativ - Peter Sloterdijk
Systemvoraussetzungen
16,99 inkl. MwSt
(CHF 16,60)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
In seinen Erkundungen berührt Peter Sloterdijk alle klassischen und modernen Gattungen der Künste, von der Musik bis zur Architektur, von der Kunst der Erleuchtung zur Kunst der Bewegung, vom Design zur Typografie. Er durchstreift alle Felder des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Hörbaren und Unhörbaren - die historische Spannweite seiner Beobachtungen reicht von der Antike bis Hollywood. Indem Sloterdijk die ihm eigene Methode der Diskursverfremdung auf die Betrachtung von Kunstwerken und -gattungen ausweitet, erscheinen die beschriebenen Objekte in einem jäh veränderten Licht - und führt uns der Autor mit seiner wachen, streitbaren Zeitgenossenschaft weg, weit weg von den ausgetretenen Pfaden des Kunstkommentars. Die Beschäftigung des großen Philosophen mit den unterschiedlichsten Phänomenen des Ästhetischen - hier wird sie zur fröhlich-ernsten Arbeit an der Kunst und an den Künsten, am Ästhetischen höchstselbst.

<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Erinnerung an die Schöne Politik


Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lassen Sie mich dieses kurze rhetorische Vorspiel zur Aufführung von Beethovens 9. Symphonie durch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg an diesem 3. Oktober des Jahres 2000 mit der Bemerkung eröffnen, dass niemand so sehr wie der Redner die Seltsamkeit der hier versuchten Konfiguration von Rede und Musik empfinden könnte – es fehlt, scheint mir, nicht viel dazu, dass man einen Verstoß gegen die guten Sitten des Konzertbetriebs vermuten dürfte oder gar ein Attentat auf das Grundrecht der Musik, ausschließlich mit ihren Mitteln für sich zu sprechen. Seit wann hätte ein bedeutendes Orchester es nötig gehabt, sein Programm durch eine Verbalnote moderieren zu lassen? Seit wann hätten Werke der Tonkunst sich darauf einlassen müssen, mit musikfernen Ergänzungen aufzutreten? Die einzige Rechtfertigung für ein Unternehmen dieser Art lässt sich aus seinem Anlass herleiten, aus der Tatsache mithin, dass wir den 3. Oktober schreiben, den Tag der Deutschen Einheit, diesen Gedenktag zum Abschluss des Vertrages über die Herstellung der politischen Union zwischen den beiden deutschen Staaten, die aus den Dramen der Jahrhundertmitte hervorgegangen waren. Ein Festtag also, der ein politisches Gedächtnis statuiert, ein Tag gleichwohl, zu dem den meisten deutschen Bürgern heute, zehn Jahre nach der Ratifizierung des Dokuments, bemerkenswert wenig Festwürdiges einfällt, wie die Redeübungen der jubiläumspflichtigen Klasse unseres Landes zeigen. Ein Tag, an dem man vielleicht wirklich nichts Besseres tun kann, als Beethoven zu spielen – so wie es hier und wohl auch anderswo zu dieser Stunde geschieht, den Beethoven der 9. Symphonie, wie sich versteht, eines Stücks, das sich aufzwingt, weil es seit jeher als ein Konzentrat politischer Festkultur angesehen werden konnte. Daher ist die hier gewählte Konfiguration von Rede und Musik wohl doch nicht nur äußerlich gesucht, sie ist nicht nur eine Veranstalterlaune. Weil eben die 9. Symphonie, zumal in ihrem grenzenlos berühmten Chorfinale, selbst schon ein musikrhetorisches, ja ein musikpolitisches Ereignis darstellt, liegt keine gänzliche Verfehlung vor, weder in Bezug auf die Situation noch auf das Genre, wenn der Aufführung des Stückes selbst hier einige Worte im kommentierenden und reflektierenden Stil vorausgeschickt werden, Worte, die nicht die musikalische, sondern, wenn man so sagen darf, die ideologische Partitur des Werkes betreffen. Es genügt, uns zu vergegenwärtigen, wieso die 9. Symphonie seit ihrer triumphalen Wiener Uraufführung im Jahr 1824 das bekannteste und wirkungsmächtigste Tonkunstwerk der Neuzeit hat werden können: Ihr geradezu numinoser und eben durch sein Übermaß prekärer Erfolg ist nicht zuletzt in dem Umstand zu suchen, dass sie von sich her, an den bewussten, den vokalischen Stellen zumindest, einen plädierenden Charakter besitzt, der auf Zustimmung zu außermusikalischen Ideen, auf enthusiastischen Konsensus, auf Überwältigung durch Programmatisches angelegt ist. Man darf bemerken, dass diese musikpolitische Konsensuswelle noch in der Gegenwart so mächtig rollt, wie selbst das 19. Jahrhundert es kaum erträumen konnte. Es ist kein Zufall, wenn nach der Wahl des Chorfinales der 9. Symphonie zur Europahymne, anfangs der siebziger Jahre, jetzt auch die Vereinten Nationen in diesem Stück ihr musikalisches Erkennungszeichen gefunden haben. Selbst wenn man also nicht verkennt, dass mit der großen Musik als solcher nicht zu reden ist, heben sich in den thesenhaften Überschüssen von Beethovens »politischer Kantate« deutliche Ansatzpunkte ab, die einem gesprochenen Zusatz entgegenkommen.

Ich möchte mir im folgenden die Freiheit nehmen, an die historischen Prämissen des musiksemantischen Komplexes zu erinnern, aus dem die 9. Symphonie und ihre Ode an die Freude hervorgegangen sind. Der Ausdruck Erinnerung ist hier in besonderer Weise am Platz, weil es zu diesem Zwecke nötig ist, weitgehend vergessene Verhältnisse zur Sprache zu bringen. Wenn wir uns an den generativen Pol des beethovenschen Kunstereignisses versetzen wollen, so gilt es, um mit Hegel zu reden, einen »Weltzustand« heraufzubeschwören, in dem der Konsensus noch Enthusiasmus hieß. Zu jener Zeit war es unter Bürgern nicht so sehr darum zu tun, einer Meinung zu sein, sondern einer Ergriffenheit. Erinnerung ist nötig, um imaginär zurückzukehren zu jenem Stand der Dinge, in dem die progressiven Stimmen der Gesellschaft noch so gut wie alles, was sie zu sagen hatten, im Modus der Antizipation vorbringen mussten – sofern sie nicht schon früh auf Gründe stießen, in idealisierte Vergangenheiten auszuweichen. Wir müssen zurückgehen auf eine Zeit, in der das Denken in großen Würfen zur Umgangssprache einer aufsteigenden Elite geworden war. Wir müssen die Erinnerung beschwören an eine Phase der Geschichte, in der die Einzelnen sich mit ihrem privaten Traumvermögen zu Medien dessen machten, was sie für Menschheitsträume hielten.

Die bürgerliche Kultur vor ihrem Sieg spricht einen enthusiastischen Dialekt, so wie die Konsultanten der Globalisierung heute mit ihren Kunden den Dialekt der Visionen und Missionen einüben. Ohne hier in angemessener Weise erläutern zu können, was Enthusiasmus philosophisch, psychologisch und systemisch bedeutet, dürfen wir festhalten, dass diese scharfgemachte Gestalt des politischen Platonismus eine Schlüsselrolle bei der Selbstmotivation von aufbruchslustigen Bürgergesellschaften gespielt hat. In ihm war, kaum verborgen, ein kategorischer Imperativ der Zuversicht am Werk. Mit seiner Hilfe brachte sich eine an der Macht interessierte Mittelschicht in Form, indem sie sich ohne Umschweife als die Menschheit ausgab. Enthusiasmus ist bürgerlich stets ein Delirium der Inklusivität. Er geht Hand in Hand mit dem Vorrecht, mit sich selber noch keine Erfahrung gemacht zu haben – mit sich nicht, mit dem Geist der Institutionen nicht, und mit den Spielregeln der geldbewegten Wirtschaftsverhältnisse erst recht nicht. Er spiegelt den Zustand der Gnade wider, wie sie über denen schwebt, die noch nicht an der Macht sind – die Gnade des guten Gewissens in der Unterkomplexität. Diese selige, kräftige Unerfahrenheit ist die Tonart des jungen Schiller – in ihr verfasste er um 1785, kaum 26 Jahre alt, das Primärdokument für die künftige Politik der Begeisterung, die Ode An die Freude, in deren Erfolgskurve auch wir am heutigen Tag eine kleine Stelle einzunehmen suchen.

Das deutlichste und auf bedenkliche Weise schönste Zeugnis für dieses Schweben im vorpolitischen Ausgriff auf ein nur von der Ahnung umspanntes Ganzes ist in der deutschen Tradition jedoch bei Hölderlin zu finden. Sein Briefroman Hyperion, der zwischen 1792 und 1799 entstand, behandelt vor dem Hintergrund des russischtürkischen Krieges von 1770 das schicksalhafte Engagement des griechischen Jünglings, dessen Name im Romantitel erscheint, für den beginnenden Freiheitskampf der Griechen gegen das osmanische Reich. Schon damals war die Frage nach dem Geist Europas mit dem verknüpft, was man später die orientalische Frage nennen sollte. Ohne Ostgrenze keine westliche Wertegemeinschaft. In Hyperions Begründung vor seiner Freundin Diotima, warum er nicht anders könne, als freiwillig an der Seite von Freunden in diesen notwendigen Krieg zu ziehen, kommen die Leitworte der frühbürgerlichen Enthusiasmuspolitik mit einer nirgendwo sonst wieder erreichten Klarheit zum Ausdruck. Hyperions Plädoyer gipfelt in der These:

Der neue Geistesbund kann in der Luft nicht leben, die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der will Platz auf Erden haben und diesen Platz erobern wir gewiß.1

Diese selten zitierten Sätze haben epochalen Rang. Sie liefern den Schlüssel zu jener Schönen Politik, ohne deren Wahrnehmung man von den Dramen der letzten zwei Jahrhunderte kaum etwas verstehen wird und von deren Existenz und Einsatz die Nachgeborenen doch in der Regel nichts mehr wissen. Schön darf diese Politik heißen, sofern sie, um kantisch zu reden, über ihren moralischen Wert hinaus, »als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird«; politisch darf dieses Schöne heißen, weil es von einem Hunger nach Verwirklichung, oder um mit Marx zu sprechen, nach Praxis, angetrieben wird. Das nachmals einflussreich gewordene Schema von Theorie und Praxis ist hier in dem Verhältnis von Drehbuch und Inszenierung beziehungsweise Kriegsplan und Feldzug vorgebildet. In ihm ist vorgesehen, dass das Schöne aus der Ohnmacht erwacht und im Realen das Kommando ergreift. Die Späteren können von dieser Formation keine Kenntnis mehr haben in dem Maß, wie für sie die Trennung zwischen den Sphären von Macht, Kunst und Religion zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, an die zu rühren sich kaum noch Gründe finden lassen. Nichts erscheint in der von der Ausdifferenzierung der Teilsysteme bestimmten Gesellschaft so peinlich und so schädlich wie dieses Ineinandergreifen und Zusammenfließen von Dimensionen oder Ordnungen, von denen wir längst überzeugt sind, dass sie nur Nachbarschaft halten, aber niemals fusionieren können und dürfen. Aber was war der Enthusiasmus in seinem heroischen und naiven Zeitalter anderes als die allgemeine Matrix der Peinlichkeiten, die durch die unpolitische Politik, durch die schwärmerische Umarmung des Alls, durch die unnachgiebige Gleichsetzung von Bürgertum und Menschheit hervorgerufen wurden?

Man ahnt immerhin, solange man Hyperions Argument im Ohr behält, dass Immanuel Kant die Haupttatsache der Ästhetik seiner Zeit schon aus dem Auge verloren hatte, als er in seiner Kritik der Urteilskraft den Versuch unternahm, das Schöne in die...

Erscheint lt. Verlag 10.8.2015
Nachwort Peter Weibel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Ästhetik • Europapreis für politische Kultur 2021 • Helmuth-Plessner-Preis 2017 • Kunstphilosophie • Ludwig-Börne-Preis 2013 • Philosophie • ST 4529 • ST4529 • suhrkamp taschenbuch 4529
ISBN-10 3-518-74361-9 / 3518743619
ISBN-13 978-3-518-74361-4 / 9783518743614
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Eine Geschichte der Zuversicht von Homer bis zum Klimawandel

von Jonas Grethlein

eBook Download (2024)
C.H.Beck (Verlag)
CHF 21,45