Erste Abteilung:
Abhandlungen
A.Die Grundgedanken der
Kabbala
(Mit besonderer Berücksichtigung des Sohar)
Es gibt eine Unzahl kabbalistischer Schriften, verschieden nach den Namen, der geistigen Reife, den Zwecken und der Darstellungsart ihrer Verfasser. Deswegen von verschiedenartigen kabbalistischen Systemen sprechen zu wollen, erscheint gewagt; denn die großen Hauptgedanken sind bei allen im Wesentlichen dieselben, die Abweichungen voneinander dagegen in Einzelheiten wohl vorhanden, aber mehr solche der Form und der Gedankenverbindung, so dass im Allgemeinen durchaus nichts im Wege steht, ein Gesamtbild von den Hauptlehren der Kabbala zu entwerfen oder wenigstens einen Durchblick durch diese zu geben, wie ich es im 3. Teil meiner Kabbala von 1903 getan habe.15 Zumal in Schriften wie der genannten und der vorliegenden, die jedem Leser, der sich für diese Fragen interessiert, verständlich sein sollen, wäre eine solche Scheidung in verschiedene »Lehrtropen« und Anschauungs-Nuancen geradezu töricht, weil zwecklos langweilend. Ich gestehe, den Blick lediglich auf die Hauptsachen gerichtet, nur einen wirklich erheblichen Unterschied in den kabbalistischen Lehrmeinungen zu, der zugleich (im Allgemeinen) die ältere von der jüngeren Kabbala unterscheidet: die ältere Lehrform (vor allem im Sohar) lehrt eine rein geistige Urschöpfung16, d. h. die Setzung eines großen Weltplanes und der diesen bewirkenden Kräfte durch die absolute Gottheit; die andere Lehrform nimmt mehr oder minder bestimmt eine Emanation an, d. h. ein zeitloses und aus der Natur des Absoluten selbst mit Notwendigkeit folgendes und sich vollziehendes Ausströmen aller Potenzen der geistigen und materiellen Welt. Dieser Unterschied indessen ist zwar theologisch7 von Wichtigkeit, weniger aber für eine Darstellung des hauptsächlichen Inhaltes der hervorstechendsten kabbalistischen Lehren; ich habe ihn daher auch in meinem früheren Buch nicht betont, zumal da dort schon der knappe Raum Beschränkung auf das Wissenswerteste gebot.
Die gegenwärtige Abhandlung unterscheidet sich von jener summarischen Darstellung des »Was« der kabbalistischen Lehren durch ihre ganz andere Aufgabe und darum durch das »Wie« ihrer Gedankenführung: sie will die wichtigsten Grundgedanken der Kabbala nicht einfach aufzählen, sondern sie verstehen lehren, indem sie die Gedankengänge weiter ausführt, auf welchen man zu ihnen kommen kann, und ihre Zusammenhänge kenntlich macht. Ich möchte dem Leser eine erste Anleitung dazu geben, sich in die kabbalistische Gedankenwelt hineinzudenken, »einzufühlen« (wie man heute gern sagt); denn ohne eine solche Anleitung dürften trotz der versuchten systematischen Gruppierung die »Auszüge« der zweiten Abteilung dieses Buches17 nicht genügend verständlich sein, und da »orientalisch umzudenken«18 nicht einmal die Mehrzahl unserer »Religionsgeschichtler« versteht, war es bei der bewusst populären Art dieser meiner Schrift geradezu notwendig, die orientalische Denkart dem Leser sozusagen in die unsere zu übersetzen. Dies möchte ich nun, so gut ich kann, versuchen.
1. Der Urgrund
Wenn auch über das begriffliche Denken hinaus nur die Intuition, die übersinnliche und überbegriffliche reine Anschauung reifer Auserwählter bis zu den letzten Geheimnissen empor zu gelangen vermag, so ist unser Geist doch imstande, bis an die äußersten Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit vordringend, eben an dem Vorhandensein dieser Grenzen zu erkennen, dass dahinter noch etwas Begrenzendes liegen muss, obgleich wir uns davon nur negative (Grenz- und Beziehungs-)Begriffe bilden können. So ist es ja auch keinem Mathematiker möglich, sich das unendlich Große oder das unendlich Kleine vorzustellen oder wirklich durchzudenken; dennoch sieht er sich vor die Denknotwendigkeit gestellt, es als wirklich existierend anzunehmen, und mittels dieses niemals erkennbaren, nicht beweisbaren und dennoch mit Notwendigkeit als real anzunehmenden unendlich Kleinen und unendlich Großen hat die Mathematik in der Infinitesimalrechnung die Möglichkeit gefunden, Naturgesetze usw. zu entdecken und zu analysieren, die über die Grenzen jeder Sinnenerfahrung und alles darauf beruhenden Denkens liegen. Ohne den Vorhang lüften zu können, hinter dem das Unerkennbare liegt, vermag er doch so viel von ihm zu wissen, dass er damit alles Nötige zu erklären imstande ist, so dass dieses Unerkennbare einen lebendigen, Erkenntnis spendenden Faktor in seinen Berechnungen bildet! – Kein Physiker oder Chemiker kann uns die Atome, Ionen, Elektronen und Moleküle zeigen, wohl aber ihr tatsächliches Vorhandensein aus ihren Wirkungen und aus dem Umstand beweisen, dass ohne ihre Annahme eine wissenschaftlich zureichende Erklärung der materiellen Dinge und Vorgänge unmöglich wäre. – Auch der Astronom vermag niemals den dunklen von zwei Doppelsternen zu erkennen und sein Vorhandensein anderen zu zeigen; und doch erkennt er ihn in seinen Wirkungen und weiß, dass der Unerkennbare da sein muss! – In ähnlicher Weise ist (um auf Philosophisches zu kommen) sich Kant z. B. völlig klar bewusst, dass das »Ding an sich« niemals ein Gegenstand unserer gemeinen oder wissenschaftlichen Erfahrung sein könne, sondern unbedingt über deren Grenzen hinausliege; aber nicht im Mindesten zweifelt er deshalb an dem Vorhandensein dieser (der Welt der Erscheinungen zugrunde liegenden) »Dinge an sich« und weiß sogar wenigstens negativ (erklärend, was sie nicht sind) eine ganze Anzahl von Bestimmungen über sie aufzustellen. – Aus dem Vorstehenden ist ersichtlich, dass immerhin die Möglichkeit besteht, noch über die Erfahrungsbegriffe hinaus gewisse zuverlässige Erkenntnisse zu gewinnen19, wie Rückert so schön sagt (Weisheit des Brahmanen XI 13):
»Du kannst die Grenze nicht
des Denkens überschreiten,
Doch stehend an der Grenz’ hinüberschaun
vom weiten;
Und wie dein Auge sieht, was es nicht
kann ergreifen,
So kann dein höhrer Sinn
ins Undenkbare schweifen.«
Das ist ganz kabbalistisch gedacht. –
Durch den berühmten Religionsphilosophen Maimonides (1133–1204) war den jüdischen Denkern Kenntnis von den ins Arabische übersetzten Lehren des großen griechischen Meisters Aristoteles (384–322 v. Chr.) geworden. Dieser hatte in sorgsamer Denkarbeit dargelegt, dass alles Sein in der Welt – materielles wie geistiges – eine große Stufenfolge bildet, an deren unterem Ende der Stoff schlechthin, das Materielle steht, sodann durch zahllose immer reinere Formen hindurch am obersten Ende die reine Form, der absolute göttliche Geist, welcher sowohl die Ursache aller Ursachen, also das »erste Bewegende«, wie auch das reine Denken ist, in welchem Denken und Sein (genauer: Denken, Denkender und Gedachtes) schlechthin zusammenfällt. Alles bewegend und doch selbst in ewiger Ruhe verharrend und in dieser ewigen Ruhe sich selbst als die absolute Wahrheit wissend, keines Handelns bedürfend, sondern nur sich selbst genießend, ist diese Gottheit das Höchste, was sich denken lässt und was notwendig als Urgrund alles Seins, Handelns und Denkens gedacht werden muss.
Den Denkweg von unten nach oben, vom Fürsichsein des Einzelnen über das Ansichsein, Dasein und Sein bis zu dem absoluten (zwar notwendigen, sonst aber völlig unerkennbaren) reinen Sein, dem »Bruder des Nichtseins«, hat ja von den Neueren Hegel eingeschlagen, um alsdann, von dieser Ätherhöhe abwärts schreitend, aus dem höchsten, absoluten Sein die ganze Weite, Breite und Tiefe der geistigen und materiellen Welt zu entwickeln. Diesen Weg von oben nach unten verfolgen u. a. auch die Kabbalisten, und es ist gewiss interessant zu bemerken, dass die große dialektische Zauberformel, mit der Hegel seine gesamte Weltentwicklung zuwege bringt (Thesis, Antithesis, Synthesis = Gesetztes, Gegensatz, Ausgleich = Position, Negation, Vermittlung), unter der Bezeichnung »Waage« (rechte Schale, linke Schale, Waagezunge) bereits im Buch Jezirah (III 1) und dann allenthalben in der Kabbala (vgl. »Sohar-Auszüge« VI) als dialektisch-methodisches Entwicklungsprinzip sich wirksam erweist. Diese Vorgänger eines Hegel (so viele Jahrhunderte vor seiner Geburt!) scheinen mir denn doch sehr viel mehr als bloße phantastische Faselanten und Fabulanten zu sein!
Philo, das Haupt der jüdisch-alexandrinischen Schule (zur Zeit Christi), bei dem wir viele Keime späterer kabbalistischer Anschauungen vorfinden, geht minder systematisch vor als Aristoteles. Ähnlich wie die Neuplatoniker setzt er das Göttliche oder Absolute vielmehr ohne Weiteres als Denk- und Seinsnotwendigkeit, als dass er sich um den Beweis seines Vorhandenseins müht. Das tut im Grunde auch die ältere Kabbala (z. B. der Sohar) nicht; sie hat dies auch umso weniger nötig, als ja durch die jüdische Philosophie...
| Erscheint lt. Verlag | 13.12.2014 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Judentum |
| Schlagworte | eBooks • Heiliges Buch • Judentum • Jüdische Mystik • Jüdische Religion • Jüdischer Glaube • Jüdische Tradition • Jüdische Weisheit • Kabbalah • Mystik • Religion • spanisches Judentum • Tanach • Überlieferung • Weisheit • Weltenbaum • Zohar |
| ISBN-10 | 3-7306-9077-9 / 3730690779 |
| ISBN-13 | 978-3-7306-9077-2 / 9783730690772 |
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