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Deutsche Außenpolitik des Wilhelminischen Kaiserreich 1890-1918 (eBook)

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2014 | 1. Auflage
144 Seiten
wbg Academic in der Verlag Herder GmbH
978-3-534-73804-5 (ISBN)
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Die Außenpolitik des Deutschen Kaiserreiches ist fraglos eines der zentralen und bis heute umstrittensten Themenfelder der Neueren Geschichte. Die europäischen Rivalitäten, das imperiale Ringen um überseeische Besitzungen und die zunehmende Bedeutung der eigenen Öffentlichkeit für das außenpolitische Handeln brachten Europa auf einen gefährlichen Kurs, der schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete. Nach der Entlassung Bismarcks wurden sein hochvirtuoses Bündnissystem und seine defensive Außenpolitik unter der Ägide Kaiser Wilhelms II. grundsätzlich umgebaut: Weltmacht wurde nun zum Ziel erklärt und die Flotte sollte dazu das Instrument sein. Der Band stellt die deutsche Außenpolitik zwischen der Entlassung Bismarcks 1890 und dem Ausbruch des Krieges analytisch klar dar, um dann Kriegsdiplomatie und Kriegsziele bis zum Untergang des Kaiserreichs zu schildern. Ein Band, der die großen Krisen des Hochimperialismus überzeugend erklärt.

Gideon Botsch, Dr. phil., geb. 1970, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam im Forschungsschwerpunkt Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung; langjährige Tätigkeit in der historisch-politischen Bildungsarbeit und Gedenkstättenpädagogik; Forschungsinteressen und Veröffentlichungen: Die extreme Rechte in Geschichte und Gegenwart; Rassismus und Antisemitismus; Jüdische Sozialgeschichte; Nationalsozialistische Herrschaft.Reiner Marcowitz, geb. 1960, ist nach Lehrtätigkeit in Dresden seit 2007 Professor für deutsche Geschichte an der Universität Metz.Thomas Freiberger lehrt Neueste Geschichte an der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der amerikanischen Außenpolitik und der internationalen Beziehungen im Kalten Krieg, die Geschichte der NATO und die Geschichte der europäischen Integration.Angelika Schaser, geb. 1956, ist Professorin für Neuere Geschichte in Hamburg.Jürgen Elvert ist Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und für Didaktik der Geschichte an der Universität Köln und einer der besten deutschen Spezialisten zur Geschichte der europäischen Integration.Winfrid Halder, geb. 1962, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in München und Freiburg i. Br. Promotion 1992, Habilitation 1999, 1993-2003 Wissenschaftlicher Assistent/Oberassistent TU Dresden, 2003-2005 Professur-Vertretung Wirtschafts- und Sozialgeschichte TU Dresden, 2002-2006 Lehrbeauftragter Neuere und Neueste Geschichte HTWK Leipzig, seit 2006 Direktor Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus Düsseldorf, seit 2008 Privatdozent Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.Dieter Ziegler, geb. 1956, ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an der Ruhruniversität Bochum.Prof. Dr. Johannes Hürter, geb. 1963 in Hamburg; seit August 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ), zugleich seit 2006 Privatdozent und seit 2014 apl. Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Derzeitige Tätigkeitsbereiche am IfZ: Abteilungsleiter Zeitgeschichte bis 1945, Leiter der Forschungsprojekte 'Das Private im Nationalsozialismus' und 'Demokratischer Staat und terroristische Herausforderung', Redakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte und ihrer Schriftenreihe. Julia Angster, geb. 1968, studierte Neuere und Neuste Geschichte sowie Politikwissenschaft in Tübingen und Oxford. Nach Lehrstuhlvertretungen in Marburg, Berlin und Mannheim ist sie seit 2010 Professorin für Geschichte Großbritanniens und Nordamerika an der Universität Kassel.Siegfried Weichlein, geb, 1960, ist seit 2006 Professor für Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Fribourg.Andreas Reinke, geb. 1957, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.Gunilla Budde, geb. 1960, ist Professorin für deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert an der Universität Oldenburg.Madeleine Herren ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg. Sie ist anerkannte Spezialistin für den Internationalismus und die Internationalisierung im 19. und 20. Jahrhundert.Michael Mann, geb. 1959, Studium der Geschichte Südasiens, Germanistik und Indologie an der Universität Heidelberg, seit 2010 Professor für Kultur und Gesellschaft Südasiens an der Humboldt-Universität zu Berlin.Horst Junginger studierte Religionswissenschaft, Geschichte und Arabistik/ Islamwissenschaften. Dissertation (magna cum laude) 1997, seitdem zahlreiche Lehraufträge (Tübingen, Münster, Leipzig), Stipendiat des Jerusalemer International Center for the Study of Antisemitism, 2010 Humboldt Award der Reichsbank Stockholm, ab Sommer 2010 Research Fellow der Universität Uppsala.Wolfgang Kruse, geb. 1957, ist Apl. Professor an der Fern-Universität Hagen. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt, einschlägig v.a.

Walter Demel, geb. 1953, ist Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität der Bundeswehr in München. Susanne Lachenicht, geb. 1971, studierte in Paris und Heidelberg Geschichte und Germanistik und ist seit 2009 Lehrstuhlinhaberin für Geschichte der Frühen Neuzeit in Bayreuth. Sie ist spezialisiert auf die Geschichte Westeuropas und der atlantischen Welt der Frühen Neuzeit, d.h. von 1492 bis zur Französischen Revolution. Gideon Botsch, Dr. phil., geb. 1970, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam im Forschungsschwerpunkt Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung; langjährige Tätigkeit in der historisch-politischen Bildungsarbeit und Gedenkstättenpädagogik; Forschungsinteressen und Veröffentlichungen: Die extreme Rechte in Geschichte und Gegenwart; Rassismus und Antisemitismus; Jüdische Sozialgeschichte; Nationalsozialistische Herrschaft. Reiner Marcowitz, geb. 1960, ist nach Lehrtätigkeit in Dresden seit 2007 Professor für deutsche Geschichte an der Universität Metz. Thomas Freiberger lehrt Neueste Geschichte an der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der amerikanischen Außenpolitik und der internationalen Beziehungen im Kalten Krieg, die Geschichte der NATO und die Geschichte der europäischen Integration. Frank Lorenz Müller, geb. 1970, studierte in Berlin und Oxford Geschichte und Englisch. Promotion 1999; seit 2002 ist er Lecturer für Neuere Geschichte an der Universität St. Andrews /Schottland. Veröffentlichungen (u.a.): Britain and the German Question. Perceptions of Nationalism and Political Reform 1830–1863 (2000). Angelika Schaser, geb. 1956, studierte Geschichte, Geographie und Bibliothekswissenschaft in München und Berlin. Sie ist seit 2001 Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg. Eines ihrer Spezialgebiet ist die Frauen- und Geschlechtergeschichte. Magnus Brechtken, geb. 1964, ist Associate Professor & Reader an der University of Nottingham. Zahlreiche Veröffentlichungen zum 'Dritten Reich' und zur internationalen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Jürgen Elvert ist Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und für Didaktik der Geschichte an der Universität Köln und einer der besten deutschen Spezialisten zur Geschichte der europäischen Integration. Winfrid Halder, geb. 1962, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in München und Freiburg i. Br. Promotion 1992, Habilitation 1999, 1993-2003 Wissenschaftlicher Assistent/Oberassistent TU Dresden, 2003-2005 Professur-Vertretung Wirtschafts- und Sozialgeschichte TU Dresden, 2002-2006 Lehrbeauftragter Neuere und Neueste Geschichte HTWK Leipzig, seit 2006 Direktor Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus Düsseldorf, seit 2008 Privatdozent Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dieter Ziegler, geb. 1956, ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an der Ruhruniversität Bochum. Johannes Hürter, geb. 1963 in Hamburg, ist seit August 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ), zugleich seit 2006 Privatdozent und seit 2014 apl. Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Bernd Schneidmüller ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg. Julia Angster, geb. 1968, studierte Neuere und Neuste Geschichte sowie Politikwissenschaft in Tübingen und Oxford. Nach Lehrstuhlvertretungen in Marburg, Berlin und Mannheim war sie von 2010-2012 Professorin für Geschichte Großbritanniens und Nordamerika an der Universität Kassel. Seit 2012 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Mannheim. Siegfried Weichlein, geb, 1960, ist seit 2006 Professor für Europäische und Schweizerische Zeitgeschichte an der Universität Fribourg. Stefan Weinfurter, geb. 1945, ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg. Andreas Reinke, geb. 1957, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gunilla Budde, geb. 1960, ist Professorin für deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert an der Universität Oldenburg. Madeleine Herren ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg. Sie ist anerkannte Spezialistin für den Internationalismus und die Internationalisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Michael Mann, geb. 1959, Studium der Geschichte Südasiens, Germanistik und Indologie an der Universität Heidelberg, seit 2010 Professor für Kultur und Gesellschaft Südasiens an der Humboldt-Universität zu Berlin. Horst Junginger studierte Religionswissenschaft, Geschichte und Arabistik/Islamwissenschaften. 1997 wurde er promoviert mit einer Arbeit über die Geschichte des Faches Religionswissenschaft an der Universität Tübingen. Junginger war Stipendiat des Jerusalemer International Center for the Study of Antisemitism und Research Fellow der Universität Uppsala. Er lehrte unter anderem in Tübingen, München und, aktuell, in Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Religionskritik, Wissenschafts- und Religionsgeschichte, Antisemitismusforschung und Neue religiöse Bewegungen. Anita Prettenthaler-Ziegerhofer, geb. 1965, ist a.o. Professorin für österreichische Rechtsgeschichte und europäische Rechtsentwicklung an der Universität Graz. Wolfgang Kruse, geb. 1957, ist Apl. Professor an der Fern-Universität Hagen. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt, einschlägig v.a. zur Französischen Revolution, zum modernen Militarismus und zum Ersten Weltkrieg. Franz Mauelshagen studierte Geschichte, Philosophie, Germanistik und Rechtswissenschaft in Bonn und promovierte 2000 in Zürich, wo er von 2003 bis 2008 lehrte. 2008 kehrte er nach Deutschland zurück als Koordinator des Forschungsschwerpunktes KlimaKultur am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen. Aktuell ist er Senior Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies Potsdam (IASS). Seine Arbeit widmet sich dem Anthropozän und den Implikationen dieser Idee für die Globalgeschichte, für die globale Umweltgeschichte und unser Verständnis der Moderne und ihren Ort in der Geschichte großer Transformationen. Hans-Werner Niemann, geb. 1950 ist Professor für europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert an der Universität Osnabrück. Stefan Rinke, geb. 1965, lehrt seit 2005 als Professor für Geschichte Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Er gilt als ausgewiesener Kenner der Geschichte des amerikanischen Kontinents. Nicole Prisching, geb. 1973, studierte katholische Theologie und Neuere Geschichte, habilitierte sich mit einer Arbeit zu Sklaverei und Loskauf im Kirchenstaat des 16. - 18. Jahrhunderts und ist seit 2012 Professorin für Kirchengeschichte und Religionsgeschichte an der Universität Paderborn. Peter E. Fäßler ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Paderborn mit den Forschungsschwerpunkten Globalisierung, Wirtschafts- und Umweltgeschichte. Volker Reinhard ist seit 1992 Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg. Seine Expertise der italienischen Renaissance durchdringt seine Publikationen: von „Leonardo da Vinci. Das Auge der Welt“ (2019) bis zu „Blutiger Karneval. Der Sacco di Roma 1527“ (2. Aufl. 2009). Für seine Machiavelli-Biografie erhielt er den „Golo-Mann-Preis für Geschichtsschreibung“. Kai Brodersen ist Professor für Antike Kultur an der Universität Erfurt und Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur Antike bei der wbg und u.a. Herausgeber der Reihe ›Geschichte kompakt - Antike‹. Martin Kintzinger ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Westfälische Wilhelms-Universität Münster.

II. Der „neue Kurs“ (1890–1896)


März 1890

General Graf Leo von Caprivi wird neuer Reichskanzler

27.3.1890

Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages

1.7.1890

Helgoland-Sansibar-Vertrag

November 1890

Der Vorschlag Crispis, den Dreibundvertrag vorzeitig zu verlängern, scheitert am Widerstand Österreichs

Seit 1891

Erarbeitung einer neuen deutschen Militärstrategie, die letztlich in den „Schlieffen-Plan“ (1905) mündet

April 1891

Gründung des „Allgemeinen Deutschen Verbandes“ (ab Juli 1894 „Alldeutscher Verband“)

6.5.1891

Erneuerung des Dreibundvertrags

17.8.1891

Französisch-russischer Handelsvertrag

21.8.1891

Französisch-russischer Zweibundvertrag

Ende 1891

Handelsverträge zwischen dem Deutschen Reich, Österreich, Italien, Belgien und der Schweiz auf 10 Jahre

17.8.1892

Russisch-französisches Militärabkommen

17. bis 25.10.1893

Besuch eines russischen Flottenverbandes in Toulon

1894/1895

Japanisch-chinesischer Krieg

Frühjahr 1894

Deutsch-russischer Handelsvertrag

Oktober 1894

Rücktritt Caprivis

1894–1897

Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst neuer Reichskanzler

17.4.1895

Friede von Schimonoseki; Kriegssieger: Japan

3.1.1896

Krügerdepesche Wilhelms II.

„Mit Volldampf voraus“

Die Entlassung Bismarcks war ohne Zweifel der größte Einschnitt in der kurzen Geschichte des Kaiserreiches. Für die deutsche Diplomatie wie für die internationalen Beziehungen insgesamt galt es, sich neu zu sortieren. Bismarck hatte es verstanden, mit der „ungeschickten Größe“ (S. Haffner) des Reiches umzugehen und dessen Machtpotenzial zu zügeln. Der Preis dafür war der „Sonderweg“ der Selbstbeschränkung unter den Großmächten, der zunehmend unbefriedigend auf die erfolgsverwöhnten Deutschen wirkte. „Mit Volldampf voraus“ „herrlichen Zeiten“ entgegenzupreschen, wie es der neue „wachhabende Offizier“ Kaiser Wilhelm II. verkündete, ähnelte dagegen viel mehr dem optimistisch-dynamischen Zeitgeist. Gewiss, nicht auf einen Schlag, aber doch spürbar wollte die Berliner Führung das deutsche Potenzial in die internationale Waagschale legen und die Bewegungslosigkeit der letzten Jahre überwinden. Aber in welche Richtung sollte es gehen? Keine Frage, Bismarcks Politik wirkte überstrapaziert und wechselhaft in der Orientierung. Er setzte auf neue Möglichkeitsräume, mochten die Indizien dafür auch noch so blass sein. Seinen Nachfolgern mangelte es nicht nur an Erfahrung und Geduld dazu, sondern auch an dem dafür nötigen Selbstvertrauen, der Fantasie und dem Blick für sich ergebende Chancen. Nicht selten sollte gerade das pompöse Auftreten und Säbelgerassel die selbst empfundene Schwäche verschleiern. Anstelle von ad-hoc gebildeten und letztlich risikobehafteten Aushilfen sollten dauerhaftere, natürlichere und sicherere Lösungen in den Außenbeziehungen gefunden werden. Als Erstes stand dabei der umstrittene Rückversicherungsvertrag von 1887 zur Disposition. Sodann ging es darum, mit London über Ansprüche in Ostafrika bzw. die Rückgabe Helgolands zu verhandeln, welches sich seit 1807 bzw. 1814 im britischen Kolonialbesitz befand. Erschien dies vielen bereits als neue außenpolitische Richtung, so kam es unter der neuen Führung auch zu einem veränderten Mitteleinsatz, bei dem nun verstärkt auf wirtschaftliche und militärische Aspekte statt auf die bloße Staatskunst Wert gelegt wurde.

1. Politik ohne Kompass


a) Die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages

Nachfolger Bismarcks wurde General Leo Graf von Caprivi. Von Hause aus Infanterieoffizier und von 1883 bis 1888 Chef der Kaiserlichen Marine, wurde er nun ins kalte Wasser der internationalen Diplomatie geworfen und musste sich sogleich mit der kompliziertesten Konstellation bismarckscher Diplomatie befassen: dem Rückversicherungsvertrag und dessen anstehender Verlängerung.

Deutsch-russische Entfremdung

Schon Ende 1889 hatte die russische Seite zu verstehen gegeben, dass sie an einer Erneuerung des im Juni 1890 auslaufenden Vertragsverhältnisses interessiert sei – trotz anhaltender Spannungen auf öffentlicher und wirtschaftlicher Seite. Von einer zwangsläufigen Annäherung an Frankreich, nachdem Russland aufgrund des Lombardverbots seine Anleihen in Paris platzieren musste, konnte keine Rede sein. Im Gegenteil, die Beziehung zwischen St. Petersburg und Paris hatte sich 1889 sogar merklich abgekühlt und das französische Außenministerium am Quai d’Orsai rechnete wieder mit seiner zunehmenden Isolation. Aber auch das Zarenreich, allen voran Außenminister Nikolai von Giers (1820–1895), fürchtete sich vor der Ausgrenzung seines Landes und wollte die Verbindung nach Berlin unbedingt erneuern – wenn möglich sogar für sechs Jahre und ohne das umstrittene „ganz geheime Zusatzprotokoll“. Ein Glücksfall, so könnte man annehmen. In der Wilhelmstraße dachte man inzwischen jedoch anders. Noch unter Bismarck hatte sich unter der Führung des Vortragenden Rats in der Politischen Abteilung, Friedrich von Holstein, eine Opposition gegen die Russlandpolitik des Kanzlers etabliert. Anfang 1890 umfasste sie die wichtigsten Diplomaten, darunter Paul Graf von Hatzfeldt, Alfred Kiderlen-Wächter (1852–1912), Hugo Fürst Radolin (1841–1917), Bernhard von Bülow, Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst oder Georg Graf Münster (1820–1902). Zudem unterhielt Holstein enge Verbindungen zum Generalstab und über diesen und andere Mittelsmänner wie Philipp Graf zu Eulenburg (1847–1921) oder den badischen Gesandten in Berlin, Adolf Marschall von Bieberstein, auch zum Kaiser.

E


Paul Graf von Hatzfeldt (18311901) gehörte zu den einflussreichsten Diplomaten des Kaiserreiches. Schon früh verband ihn eine enge Freundschaft zu Friedrich von Holstein. Im deutsch-französischen Krieg avancierte er zum wichtigsten Mitarbeiter Bismarcks, der ihn zu seinem „besten Pferd im diplomatischen Stall“ erklärte. In der Folge bekleidete er verschiedene diplomatische Posten in Madrid, Konstantinopel, wurde Staatssekretär des Auswärtigen Amtes (1882), führte die Verhandlungen bei der Kongo-Konferenz und war von 1885 an bis 1901 Botschafter in London. An der Themse fand er rasch Kontakt zum Hof und knüpfte enge persönliche und dienstliche Beziehungen zu Robert Salisbury. Er hatte maßgeblichen Anteil an der Mittelmeerentente und dem Helgoland-Sansibar-Geschäft.

Holstein selbst gehörte bereits seit der Doppelkrise gemeinsam mit Alfred von Waldersee (1832–1904) zu jenen, die einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland früher oder später für unvermeidlich hielten und deshalb einen defensiven Block mit Wien und Rom favorisierten. Statt einer Annäherung redeten sie in Anbetracht einer langfristigen strukturellen Unterlegenheit eher einem baldigen Präventivkrieg das Wort. Die Rückversicherung jedenfalls lehnte Holstein von Grund auf ab und setzte alles daran, Wilhelm II. vom Einfluss der außenpolitischen Vorstellungen Bismarcks zu lösen. Er war es auch, der gemeinsam mit Marschall Ende Januar 1890 Caprivi als Nachfolger Bismarcks ins Spiel brachte. Ohne dass er ausreichend Zeit gehabt hätte, sich in die Materie einzuarbeiten, war Caprivi von vornherein auf das Urteil Holsteins angewiesen. Überrascht wurde Holstein indes vom Kaiser. Als dieser nämlich Caprivi am 20. März 1890 zum Reichskanzler berief, gab er gleichzeitig zu verstehen, dass er an eine Fortsetzung der bismarckschen Außenpolitik inklusive des Rückversicherungsvertrages dachte. Auch an Herbert von Bismarck (1849–1904) als Staatssekretär wollte er zuerst festhalten. Wilhelm II. ließ sogar den bereits von Giers mit den Verhandlungen betrauten russischen Botschafter Paul Schuwalow (1830–1908) in der Nacht zum 21. März aus dem Bett holen, um ihm persönlich die Kontinuität der deutschen Außenpolitik zu bestätigen. Alarmiert trommelte Holstein nun am 23. März eilig den Unterstaatssekretär Maximilian Graf von Berchem (1841–1910) und den Vortragenden Rat, Ludwig Raschdau...

Erscheint lt. Verlag 7.2.2014
Co-Autor Walter Demel, Susanne Lachenicht, Gideon Botsch, Werner Bergmann, Reiner Marcowitz, Thomas Freiberger, Ralph Jessen, Merith Niehuss, Margit Szöllösi-Janze, Dieter Pohl, Frank Lorenz Müller, Angelika Schaser, Jürgen Angelow, Ina-Ulrike Paul, Magnus Brechtken, Jürgen Elvert, Benedikt Stuchtey, Winfrid Halder, Dieter Ziegler, Ulrich Wyrwa, Johannes Hürter, Bernd Schneidmüller, Julia Angster, Siegfried Weichlein, Stefan Weinfurter, Heribert Müller, Hagen Schulze, Sigrid Jahns, Andreas Reinke, Gunilla Budde, Madeleine Herren, Michael Mann, Horst Junginger, Anita Prettenthaler-Ziegerhofer, Günther Kronenbitter, Alexander Gallus, Wolfgang Kruse, Franz Mauelshagen, Hans-Werner Niemann, Stefan Rinke, Nicole Priesching, Peter E. Fäßler, Martin Lücke
Verlagsort Darmstadt
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Schlagworte Außenpolitik • Deutsches Kaiserreich • Geschichte
ISBN-10 3-534-73804-7 / 3534738047
ISBN-13 978-3-534-73804-5 / 9783534738045
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