Barbara Stollberg-Rilinger ist Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster.
Inhalt
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.1 Was ist ein Ritual? . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2 Was ist Ritualforschung? . . . . . . . . . . . . . . 17
1.2.1 Theoretische Konzepte . . . . . . . . . . . . 17
1.2.2 Ritualforschung in der Geschichtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2. Rituale als historische Phänomene – zentrale Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2.1 Alltägliche Interaktionsrituale . . . . . . . . . . . 46
2.2 Rituale des Lebenszyklus: Geburt, Heirat, Tod, Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
2.3 Rituale des Jahreszyklus – Rituale der kollektiven Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
2.4 Rituale des Opfers und der Gabe . . . . . . . . . . 78
2.5 Rituale der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . 86
2.5.1 Rituale der Monarchie . . . . . . . . . . . . 90
2.5.2 Rituale der Stadtkommune . . . . . . . . . . 114
2.5.3 Rituale des modernen Staates . . . . . . . . . 123
2.6 Rituale der Begegnung und Konfliktbeilegung . . . 135
2.7 Rituale des Rechts, des Gerichts und der Strafe . . 148
2.8 Rituale der Umkehrung und der Rebellion . . . . . 160
3. Kontroversen und systematische Aspekte . . . . . . . . 176
3.1 Wie lassen sich Rituale historisch rekonstruieren? . 177
3.2 Wie funktionieren Rituale? . . . . . . . . . . . . . 193
3.3 Wann misslingen Rituale? . . . . . . . . . . . . . 211
3.4 Wie verändern sich Rituale? . . . . . . . . . . . . 218
3.5 Rituale und Medien: Körper und Schrift . . . . . . 226
3.6 Antiritualismus und Moderne . . . . . . . . . . . 235
3.7 Ausblick: Perspektiven der historischen Ritualforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . 287
2. Rituale als historische Phänomene – zentrale Themenfelder Die Allgegenwart ritueller Phänomene quer durch alle Epochen und Gesellschaften macht es unmöglich, eine systematische Klassifikation vorzunehmen. Es lassen sich ganz unterschiedliche Kriterien denken, nach denen sich das schier grenzenlose empirische Material ordnen ließe. So könnte man unterscheiden zwischen monarchischen und republikanischen Ritualen, zwischen zyklischen und akzidentellen, sakralen und profanen, geheimen und öffentlichen, affirmativen und destruktiven Ritualen und so fort. Die allermeisten dieser Unterscheidungen ergeben wenig Sinn, weil ein und dasselbe Ritual oft beide Seiten umfasst. Zum Beispiel: Ein Huldigungsakt der städtischen Bürgerschaft gegenüber einem neuen König verbindet gerade die monarchische und die kommunale Sphäre; eine mittelalterliche Kaiserkrönung ist sakral und profan, politisch und religiös zugleich; ein Hinrichtungsritual als Herrschaftsakt kann in ein Ritual der Rebellion umschlagen. Eine gewisse Ambivalenz, das hat vor allem Victor Turner gezeigt, ist gerade ein zentrales Charakteristikum des Rituellen: Durch ein und denselben Akt werden Kontinuität und Wandel, Ordnung und Unordnung, Struktur und Anti-Struktur zugleich zum Ausdruck gebracht. Ein und dasselbe Ritual kann ganz verschiedene Funktionen und Bedeutungsdimensionen haben und lässt sich daher ganz unterschiedlich kategorisieren: Zyklische Jahresrituale können beispielsweise zugleich Opferrituale, Erinnerungsrituale, Bußrituale und Gemeinschaftsrituale sein. In der Sphäre dynastischer Herrschaft werden alle Rituale des Lebens- und des Jahreszyklus zu elaborierten Ritualen der Herrschaftsrepräsentation: Hochzeit, Taufe, Beisetzung, Oster- und Weihnachtsfest usw. Auch alltägliche Verrichtungen können, wenn sie die Herrscherfamilie betreffen, zeremonialisiert und zu großen rituellen Akten ausgestaltet werden, vom morgendlichen Aufstehen über die Mahlzeiten bis zum Schlafengehen. Ein einzelner ritueller Akt wie etwa die Begrüßung des Herrschers bei seinem Einzug in die Stadt kann zu einem unendlich verfeinerten und elaborierten Ritual ausgeschmückt werden; ebenso kann der gleiche Akt in einem anderen Kontext nur ein einzelnes Element unter vielen sein. Der Eid, der Kuss, der Kniefall, das Sitzen auf dem Thron, das gemeinsame Mahl, die Prozession – all das sind Grundbausteine, die auf unterschiedlichen Ebenen und zu unterschiedlichen Anlässen immer wieder vorkommen, sei es als Einzelakte, sei es als Elemente in einer komplexen Ritualsequenz. Kurzum: Jede mögliche Klassifikation von Ritualen nach einem einheitlichen Kriterium (etwa: Form, Funktion, Anlass usw.) wird der historischen Vielfalt nicht gerecht (vgl. Harth/Michaels 2003). Für die Gliederung des Stoffes nach großen Themenfeldern, wie sie im Folgenden vorgenommen wird, heißt das: Ein Anspruch auf systematische Ordnung wird damit ausdrücklich nicht erhoben. Die Gliederung ist vielmehr rein pragmatisch und richtet sich im Wesentlichen danach, was in der historischen Forschung bisher bevorzugt behandelt worden ist. Da keine erschöpfende Übersicht über alle Aspekte der historischen Ritualforschung quer durch alle Epochen und Regionen gegeben werden kann, muss eine Auswahl getroffen werden. Ein gewisser Schwerpunkt liegt auf der europäischen Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Das geschieht zum einen aufgrund der begrenzten Kompetenz der Verfasserin, lässt sich aber auch damit rechtfertigen, dass diese vormodernen Epochen bisher bevorzugte Bereiche der historischen Ritualforschung waren – auf die Gründe ist schon hingewiesen worden. Zum anderen werden einzelne paradigmatische Studien herausgegriffen und exemplarisch etwas eingehender behandelt. Ergänzend kann auf das ausführliche Literaturverzeichnis und weitere Beispielfälle auf der Online-Plattform verwiesen werden. 2.1 Alltägliche Interaktionsrituale Auch jenseits der »großen« öffentlichen Rituale im eigentlichen Sinne ist das soziale Alltagsleben von vielfältigen Ritualisierungen geprägt: von kleinen körperlichen und verbalen Gesten der Bitte und des Respekts, der Verzeihung und der Rücksicht, der Nähe und Distanz, der Über- und Unterordnung usw. Der amerikanische Soziologe Erving Goffman (1922–1982) hat dafür den Begriff »Interaktionsrituale« geprägt (Goffman 1967/1971). Damit verwendet er zwar einen anderen Ritualbegriff, als er hier vorgestellt worden ist; wegen seiner großen Bedeutung für die Forschung soll er aber nicht übergangen werden. Nach Goffman folgt die alltägliche soziale Interaktion von Angesicht zu Angesicht, face to face, unausgesprochenen kollektiven Regeln, die durch Sozialisation erworben werden und eine rituelle Ordnung bilden. Der elementare Sinn dieser Regeln für jeden Einzelnen ist die Hervorbringung und Wahrung eines »Selbstbildes« (image) – in der Vormoderne sprach man von Ehre –, in dem seine Würde als Person sich manifestiert. Das Selbstbild hängt keineswegs vom Individuum allein ab, sondern wird ihm ebenso sehr von den anderen durch ihre Anerkennung zugebilligt; es ist etwas Soziales, ein Produkt wechselseitiger »zeremonieller Arbeit«. Goffman verwendet die Metapher des Theaterspiels, weil das Selbstbild von allen verlangt, voreinander eine Rolle zu spielen und sich gegenseitig in dieser Rolle anzuerkennen. Auf den Zusammenhang von individuellem Selbstbild der Person und sozialer Rollenübernahme verweist auch die etymologische Herkunft des Begriffs »Person«: »persona« war im antiken Rom die Maske der Ahnen, die man im rituellen Umzug vor sich her trug. Das soziale Selbstbild zu verlieren bedeutet »Gesichtsverlust« und stellt eine Verletzung der kollektiven rituellen Ordnung dar, die zu schützen ein Anliegen der gesamten Gemeinschaft ist. In diesem Sinne nennt Goffman das Selbstbild etwas »Heiliges«. Interaktionsrituale gibt es in allen Epochen und Kulturen; aber Gesellschaften unterscheiden sich erheblich darin, inwiefern persönliche Interaktion unter Anwesenden – und nicht über Medien wie die Schrift vermittelte, unpersönliche Kommunikation – ihre Struktur bestimmen. Vormoderne, weniger komplexe Gesellschaften waren in wesentlich höherem Maße von persönlicher Face-to-face-Interaktion abhängig, als moderne Gesellschaften es sind; man spricht daher auch von »Präsenzkulturen« (vgl. Rehberg 2001; Schlögl 2008; Stollberg-Rilinger 2008). Deshalb ist das Verständnis von Interaktionsritualen und ihrer spezifischen Logik wesentlich für das Verständnis der Funktionsweise vormoderner Gesellschaften. Die persönliche Ehre spielte in solchen Präsenzkulturen eine ganz andere Rolle als in der Moderne; sie zu schützen war ein zentrales Anliegen jedes Einzelnen, die Gefahr ihrer Verletzung war allgegenwärtig und die Konflikte, die daraus resultierten, waren schwer beherrschbar und neigten zur Eskalation. Die symbolischen Verhaltenscodes der wechselseitigen Anerkennung und Ehrerweisung umfassen mehr oder weniger subtile Regeln für das Verhältnis zwischen sozialen Schichten, Geschlechtern, Altersgruppen und so fort: Wer vor wem den Hut zieht, den Vortritt lässt, sich verbeugt, als erster grüßt, den Blick heben darf oder abwenden muss, sprechen darf oder nicht, dem anderen die Hand, den Fuß, die Wange oder gar den Mund küssen darf usw., ist Gegenstand teils stillschweigend beherrschter, teils auch explizit formulierter Regeln. Verschiedene soziale Gruppen sind durch unterschiedliche Verhaltensstile voneinander unterschieden. Die rituellen Formen der alltäglichen Interaktion sind nicht nur ein Schlüssel zu der sozialen Ordnung einer Gesellschaft, in ihnen verkörpert sich die soziale Ungleichheit im buchstäblichen Sinne des Wortes. Pierre Bourdieu hat dafür den Begriff des Habitus geprägt (Bourdieu 1993: 97 ff.). Im individuellen Habitus schlagen sich die historischen Erfahrungen sozialer Ungleichheit in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsformen nieder. Indem der Einzelne eine bestimmte Haltung, Gestik, Sprechweise, bestimmte Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Einstellungen der sozialen Gruppe, der er angehört, erwirbt, bringt er unwillkürlich und unbewusst die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zum Ausdruck und reproduziert dadurch das bestehende System sozialer Ungleichheit. Das macht die sozialen Strukturen wesentlich stabiler, als formale Regeln und explizite Normen es je könnten. Da die Ungleichheit gleichsam im Körper der Einzelnen verankert ist, erscheint sie als etwas Natürliches, der Willkür des Einzelnen weitgehend Entzogenes (was sie größtenteils nicht ist). Mit anderen Worten: Der Habitus ist gleichsam das Scharnier zwischen dem Individuum und der sozialen Struktur der Gesellschaft, der es angehört. Die sozialen Interaktionsrituale unausgesprochen zu beherrschen ist ein wesentliches Element des Habitus. Die historische Forschung hat sich den Interaktionsritualen in verschiedenen Zusammenhängen zugewandt. Drei Felder sollen hier anhand prominenter Beispiele etwas ausführlicher dargestellt werden: erstens die Sprache der Gesten im Mittelalter, zweitens die Logik des höfischen Zeremoniells und drittens der Wandel der Höflichkeitsstandards in der frühen Neuzeit. Interaktionsrituale bestehen vor allem aus körperlichen, aber auch aus verbalen Gesten. Viele dieser symbolischen Gesten sind zugleich Grundbausteine komplexerer öffentlicher Rituale. Axel Michaels (Michaels 2003) hat vorgeschlagen, sie – in Analogie zu den Phonemen und Morphemen der Sprachtheorie – Riteme, das heißt kleinste bedeutungstragende Einheiten von Ritualen, zu nennen: Verneigung, Handschlag, Kuss, Kniefall, Umarmung, Segensund Eidesgeste usw. Die Geschichte der Gesten zu schreiben stellt Historiker vor ein Quellenproblem, denn Gesten sind vergänglich und hinterlassen in der Regel keine direkten Spuren (Schmitt 1990/1992; ferner Bremmer/Roodenburg 1993; Suntrup 1978; Zakharine 2005; Oschema 2006; Bierende/Bretfeld/Oschema 2008; Braddick 2009). Auch bildliche Darstellungen von Gesten bedürfen ebenso wie schriftliche Beschreibungen sorgfältiger quellenkritischer Analyse, denn sie sind keine dokumentarischen Zeugnisse, sondern folgen historisch veränderlichen bildlichen Darstellungskonventionen und -absichten. Die Gestensprache einer Kultur lässt sich oft nur zwischen den Zeilen der Quellen rekonstruieren, wobei fiktionale Literatur ebenso wertvolle Aufschlüsse vermitteln kann wie historiographische Berichte, Korrespondenzen oder autobiographische Quellen. Leichter als die alltägliche Praxis der Gesten selbst sind die historischen Diskurse über die Sprache der Gesten zu rekonstruieren, die in theoretischen Traktaten und didaktischen Schriften überliefert sind.
| Erscheint lt. Verlag | 2.10.2013 |
|---|---|
| Reihe/Serie | Historische Einführungen ; 16 |
| Zusatzinfo | 2 sw Abbildungen |
| Verlagsort | Frankfurt |
| Sprache | deutsch |
| Maße | 133 x 205 mm |
| Gewicht | 375 g |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeines / Lexika |
| Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Geschichtstheorie / Historik | |
| Schlagworte | 19.Jahrhundert • 20.Jahrhundert • Ägypten • Buße • Deutschland • Einsetzung • Europa • Fest • früheNeuzeit • Geburt • Historische Ritualforschung • Hochzeit • Initiation • Karneval • Konfliktbeilegung • Krönung • Mittelalter • Opfer • Ritual • Tod • Totenritual |
| ISBN-10 | 3-593-39956-3 / 3593399563 |
| ISBN-13 | 978-3-593-39956-0 / 9783593399560 |
| Zustand | Neuware |
| Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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