Egon Friedell (eBook)
353 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-63851-0 (ISBN)
Bernhard Viel ist promovierter Literaturwissenschaftler. 2001 wurde er mit dem Förderpreis des erstmals vergebenen «Berliner Preises für Literaturkritik» ausgezeichnet. Er lebt als freier Autor in Berlin und München.
Bernhard Viel ist promovierter Literaturwissenschaftler. 2001 wurde er mit dem Förderpreis des erstmals vergebenen «Berliner Preises für Literaturkritik» ausgezeichnet. Er lebt als freier Autor in Berlin und München.
Cover 1
Titel 3
Zum Buch 4
Über den Autor 4
Impressum 5
Inhalt 6
Vorwort 10
I. Kindheit und Jugend 18
1. Deutschstunde 18
2. Unter einem guten Stern 22
Das Horoskop 22
Das Schicksal der jüdischen Geburt 25
«Herzblättchens Zeitvertreib» oder Egon und seine Familie 32
3. Das Martyrium 39
a) Der Heilige Stuhl im Klassenzimmer 39
b) Friedmanns Irrfahrten 42
Der Einserschüler 42
Mit der Schulordnung nicht vereinbar 43
Die Leiden eines Knaben 48
4. Per aspera ad astra oder in Geschichte «gut» 53
II. Erziehung im Kaffeehaus 58
1. Am Stammtisch 58
2. Jung Wien stellt sich vor 62
a) Im Banne des Herolds 62
Der Ruf der Liebesnächte 63
Die Kraft der Kunst 65
b) Die blöde Geschichte mit der Mutzenbacher 69
Immer dieser Friedell! 69
Unerhört in dem Alter! 72
Kein Gesprächsthema 73
c) Lichter der Großstadt 75
3. Seelenverwandte Geister 79
a) Die Ohrfeige 79
b) Im Etablissement der Menschenfeinde 82
Weltanschauung im Ammoniak-Dunst 82
Ein Lebens-Werk 84
c) Peter, einer von uns oder Die Verklärung des Weibes 90
d) Der Kaffeehausliterat – eine Literaten-Legende? 94
III. Der Geformte Friedell oder die Geburt des ichs aus dem Geist der Romantik 98
1. Über die Grenze 98
Nordöstlicher Diwan 98
2. Begegnungen 104
a) Im lichten Schein des Selbstbewusstseins 104
b) Confessio Augustana 108
c) Novalis und die Imitatio Christi 112
d) Zutritt bei Hofe 118
e) Die Ohrfeige des schönen Fräuleins Obertimpfler 128
IV. Die Welt ist die Bühne 136
1. Um mich, die holde Braut, kümmerte sich niemand 136
2. Mut zur Freiheit 138
3. Spieler, Seher, Dichter 145
4. Vom «Nachtlicht» in die «Fledermaus» 156
Zwischenspiel auf dem Theater 157
Der Flug der «Fledermaus» 159
Goethe kommt auch nach Frankfurt 164
Auf Tournee 167
Im Kampf mit Berlin – vom Bier-Cabaret zur Reinhardt-Bühne 171
Sieh' da, ein Dichter! 175
5. Ein Antrag, schriftlich 180
V. Krieger am Schreibtisch, Maulheld und Tintensklave 184
1. Die Lichter gehen aus 184
2. Musterung? 186
3. Die Schlacht der Federn 190
4. Die Wandlung 194
5. Der Ofen wird kalt, die Republik kommt 202
6. Lohnschreiber, Schauspieler und Causeur: zwischen Wien und Berlin 207
VI. Die Kulturgeschichte 220
1. Umbrüche, Wandlungen oder Was sonst noch geschah 220
Der neue Diwan 220
Umbruch und Montage: der moderne Autor 224
2. Ullstein zögert, Beck greift zu 229
Die Menschheit zu bessern und zu bekehren: die Kulturgeschichte und das Theater 238
3. Geschichtsphilosophische Gedankenspiele oder Alles, was entsteht, ist Dichtung 243
a) Die Welt als Kathedrale 243
b) Bismarcks Fresslust oder die Weltgeschichte in Anekdoten 245
c) Im Anfang war das Trauma 247
4. Von Meister Eckhart zu Hanns Hörbiger 251
Fortschritt im Abwind der Thermodynamik 251
Der Schuss in den Weltraum oder die neue «Entwickelungsgeschichte» 254
Christus und Meister Eckhart 260
VII. Der Letzte Akt 266
1. In Arkadien 266
Zeichen an der Wand 274
«Das beglückendste Ereignis»: Hamsun 279
2. Das Ende 284
Noch einmal Goethe: der Jubilar 284
38 Schnaps, 26 Pilsner – Treffen mit Zuckmayer 289
Der «Anschluß» 293
Sturz 298
3. Nachspiele 301
Dank 305
Anmerkungen 308
Zeittafel 329
Literatur 337
Bildnachweis 348
Personenregister 349
Vorwort
Der Untergang des Abendlandes war nicht mehr aufzuhalten. «Es gibt», sagt sein Diagnostiker, «keine Realitäten mehr, sondern nur noch Apparate: eine Welt von Automaten». Der «europäische Mensch» sehe sich am Ende: «was der europäische Mensch ein halbes Jahrtausend lang die Wirklichkeit nannte», das fällt «vor seinen Augen» aus einander «wie trockener Zunder.»[1] Das war schrecklich – und es war gut. Der Untergang schuf die Voraussetzung für einen Neubeginn, den Aufgang eines neuen Zeitalters des Geistes und der Schönheit, eines neuen Zeitalters der Götter. Nur in einem solchen Zeitalter, wenn es einträfe, würde der europäische Mensch sein Heil zurückgewinnen.
Dabei hatte sich der europäische Mensch den Untergang selbst bereitet. Mit seinem Rationalismus hatte er Gott vertrieben, und fortan war der Himmel verlassen, das Universum öde. Für die Leere seines Daseins hatte sich der europäische Mensch trügerische Surrogate geschaffen. Die Wissenschaft konnte nachweisbare Tatsachen produzieren, doch sie war außerstande, die Welt mit neuem Sinn zu füllen. Dies ahnend, hatte der europäische Mensch die Banken, die Börse und den Geldverkehr erfunden. Doch was ihn befreien, was ihn zu einem autonomen, der Macht des Schicksals nicht länger preisgegebenen Wesen machen sollte, setzte in Wahrheit die Ziffer, die Menge, an die Stelle des Wertes. Da das Geld Maßstab aller Dinge geworden war, waren alle Dinge entwertet. Mochte der Mensch der Moderne auch Dampfmaschinen konstruieren, Eisenbahnen bauen, Energien durch Stromleitungen jagen, mochte er Mikrophone und Radioapparate installieren, über die sich Papstreden übertragen ließen – all das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der moderne Mensch Europa in die Finsternis instrumentellen Wissens, technischer Hörigkeit und materialistischer Mentalität getaucht hatte. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs war dann nur die sichtbare Form einer geistigen Katastrophe, die in der frühen Neuzeit ihren Anfang genommen hatte. «Es gibt auch keine Ware mehr, sondern nur noch Reklame, der wertvollste Artikel ist der am wirksamsten angepriesene: in dessen Reklame das meiste Kapital investiert wurde. Man bezeichnet all dies als Amerikanismus. Man könnte es ebenso gut Bolschewismus nennen, denn auf politischem und sozialem Gebiet kennzeichnet sich die planetarische Situation als doppelseitig bedroht von einem medusenhaften Vernichtungswillen, dessen Vollstreckungsmächte bloß im Osten und im Westen verschiedene Namen tragen: beide Verkörperungen desselben materialistischen Nihilismus, beide durch die Nemesis der Selbstverzehrung zum Untergang bestimmt.»[2] – Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit ist nicht zuletzt für ihre Scharfzüngigkeit, ihre geschmeidige Sprache, ihre eigenwillige Wahrhaftigkeit bekannt.
Doch wenn ihre Form auch Ausdruck einer Art homerischen Gelächters ist, zu dem sich ihr Schöpfer immer wieder aufschwingt, so ist sie zugleich auch Spiegel einer tiefen Skepsis, mehr noch: eines tiefen Kulturpessimismus, mit dem Friedell, der «heitere Philosoph», auf die Entwicklung sah, die das Abendland seit dem Ausgang des Mittelalters genommen hatte. Das nähert ihn dem Werk Oswald Spenglers an, dessen Untergang des Abendlandes er als epochale, der Zeit angemessene und überdies künstlerisch glänzende Geschichtsdeutung bewunderte: «Man muß in der Weltliteratur schon sehr hoch hinaufsteigen, um Werke von einer so funkelnden und gefüllten Geistigkeit, einer so sieghaften psychologischen Hellsichtigkeit und einem so persönlichen und suggestiven Rhythmus des Tonfalls zu finden wie den ‹Untergang des Abendlandes›».[3] Gleichwohl unterscheidet sich Friedells Geschichtsentwurf mit seiner Verheißung einer neuen Welt der Götter, nicht der Titanen, fundamental von den Schlüssen, die Spengler aus den Zeichen seiner Zeit zog. Diese bislang kaum beleuchtete, indessen wesentliche Seite an Friedells Weltbild zu würdigen, sie in ihre geistes- und ideengeschichtlichen Zusammenhänge zu rücken und im Zusammenhang mit Friedells Persönlichkeit zu betrachten, ist eines der zentralen Anliegen dieses Buches.
Friedells Leben umspannt jene Epoche, in der sich in Europa die Agrarlandschaft in eine Industrielandschaft verwandelte. Als er geboren wurde, war es erst ein gutes Jahrzehnt her, dass Preußen das über Jahrhunderte hin zu Deutschland gehörende Österreich von diesem Deutschland abgetrennt hatte. Das deutsche Kaiserreich war sieben Jahre alt, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn nicht viel älter, und beide nach ihrer Identität suchenden Staaten hatten eine erste tiefgreifende, die Zeitgenossen beunruhigende Banken- und Finanzkrise überstanden. Doch der politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen zum Trotz: Noch war der Glaube an den «Fortschritt» in der bürgerlichen Welt, die diesen Fortschritt hervorbrachte und beschleunigte, stärker als die Skepsis gegenüber den Verlusten.
Wenn auch die Entwicklung in der k. u. k.-Monarchie nicht die forcierte Dynamik des deutschen Nachbarn hatte, so versuchte doch Wien im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an die europäischen Zentren London, Paris und Berlin anzuknüpfen. Wollte man also nach einer Metapher suchen, einem Sinnbild, in dem der Fortschritt seine künstlerische Form erhielt, so fände man es beispielsweise in der Fassade des 1902 eröffneten Depeschenbüros einer jungen Wiener Tageszeitung mit dem bezeichnenden Namen Die Zeit. Der stilprägende Architekt Otto Wagner hatte es konstruiert. Wagner hatte bereits mit seinen Bahnhofsgebäuden der Stadtbahn bewiesen, dass er die Strenge des von ihm bewunderten preußischen Klassizismus mit dem Eindruck pulsierender, gleichwohl spielerisch anmutender Bewegung zu vereinen wusste. Dies trat am Depeschenbüro in noch schärferer Kontur hervor. Die Fassade schien so modern, dass man das hektische Geratter der Telegraphen zu hören vermeinte. Die neuen Materialien, Glas und Alu, verwiesen auf Ökonomie und Effizienz, auf das Tempo industrieller Fertigung. Die großen, schwungvollen und zugleich gediegen anmutenden Versalien, die das Wort «Telegramme» wie ein Emblem abbilden; die ebenso rational wie beschleunigt wirkende Rhythmisierung; endlich die fünf wie Motorenzylinder geformten Leuchten und die quadratischen, scharf hervorstehenden Alu-Nieten an der Tür – das alles scheint zu rufen: Hier schießen die Ereignisse der Welt wie in einem Brennspiegel zusammen, und wir von der Zeit fühlen ihren Puls![4]
Doch viele Zeitgenossen, insbesondere in Österreich und Wien, dessen Entwicklung hinter dem deutschen Nachbarn zurückhing, erleben den Wandel eher als Gefährdung ihrer gewohnten Lebensform denn als Beginn «einer vielversprechenden Zukunft». Das Gefühl, in krisenhaften Zeiten zu leben, wächst zudem unter dem subtilen Eindruck der Rückständigkeit: «Die Wiener Zeitgenossen selbst hatten eher das Gefühl in einer Provinz zu leben, die weder den Vergleich mit Paris noch mit London oder selbst Berlin standhielt.»[5]
Auch die Künstler und Intellektuellen der Residenzstadt, «niemals an den Fortschritt der Zivilisation glaubend», blickten durchaus skeptisch auf die Entfaltung von Kraft und Tempo, die die neuen Mächte der Technik und Wirtschaft vorantrieben.[6] Die Zweifel der Schriftsteller, Maler, Philosophen am Nutzen der industriellen Zivilisation, ihr gesteigerter Sinn für die Werte der Kunst, bündeln sich in Stefan Zweigs Äußerung zum forschen Tatendrang des deutschen Kaiserreichs: «Statt der deutschen ‹Tüchtigkeit›, die schließlich allen andern Völkern die Existenz verbittert und verstört hat, statt dieses gierigen Allen-andern-vorankommen-Wollens und Vorwärtsjagens liebte man in Wien gemütlich zu plaudern.»[7]
Gleichwohl war auch in Wien die Gemütlichkeit nicht mehr dieselbe. Dort geben zwei weitere gesellschaftliche Entwicklungen dem Krisengefühl Nahrung. Da ist einmal jenes Phänomen, das als Frauenemanzipation so manchem Furcht einflößte. «Die ‹emanzipierte Frau› verärgert und beunruhigt selbst in Wien, wo doch die feministische Bewegung weniger militant (…) in Erscheinung tritt als in Deutschland oder England».[8]
Zum anderen sind es die Wellen jüdischer Einwanderer aus den östlichen Gebieten der Monarchie, die Abwehr provozieren, umso mehr, als etliche dieser Zuwanderer in Handel, Industrie und Bankenwesen überaus erfolgreich waren, oder als Künstler, Schriftsteller, Musiker jene kulturelle Blüte schufen, die als «Wiener Moderne» zu den Schätzen der europäischen Kulturgeschichte zählt. Einwanderung und Aufstieg befeuerten zugleich judenfeindliche Reaktionen und trieben mit dem «populistischen rassischen Antisemitismus» eine neue und aggressivere Form der alten Judenfeindschaft hervor.[9]
Für die Generation Friedells, die in den 1860er bis 80er Jahren Geborenen, die die hochgespannte Kunst und Literatur der «Wiener Moderne» gleichsam in die Ewigkeit tragen sollten, war das Klima ihrer Epoche ungemein erregend, in ihrem nervösen Vibrieren und ihrer neurosenblühenden...
| Erscheint lt. Verlag | 11.4.2013 |
|---|---|
| Verlagsort | München |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
| Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
| Schlagworte | 20. Jahrhundert • Biografie • Biographie • Journalist • Jude • Judentum • Kindheit • Konflikt • Krieg • Kulturgeschichte • Literatur • Österreich • Philosophie • Schriftsteller • Selbstmord • Suizid • Theater • Wien |
| ISBN-10 | 3-406-63851-1 / 3406638511 |
| ISBN-13 | 978-3-406-63851-0 / 9783406638510 |
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