beziehungsweise (eBook)
700 Seiten
Vandenhoeck & Ruprecht Unipress (Verlag)
978-3-7887-2620-1 (ISBN)
Einleitung
Menschen sind besorgt. Das ist der Anlass zur Seel-Sorge. Die Gemeinde und ihre Seel-Sorger [1] kümmern sich um den be-sorgten Menschen. Sie nehmen seine Sorgen zum Anlass, in besonderer Weise für ihn zu sorgen.
Seelsorge ist darum eine der zentralen Lebensäußerungen der Gemeinde Jesu. Gemeinde übt Seelsorge. Gemeinde ist Seelsorge. Seelsorge braucht Gemeinde. Petra Bosse-Huber nennt Seelsorge darum die »Muttersprache« der Kirche. [2] Das deute ich so: Wenn Kirche seelsorglich spricht, ist sie in ihrem Eigenen, ist sie ihrem Herkommen treu und ganz mit sich identisch. Sie spricht ihre Muttersprache. [3] Darum hat sich auch der EKD-Reformprozess, wenn auch etwas verspätet, mit der Seelsorge befasst. [4] In Anspielung auf das Impulspapier »Kirche der Freiheit« [5] formulierte die EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen im April 2009: »Seelsorge ist ein Leuchtfeuer der evangelischen Kirche inmitten der Gesellschaft.« [6]
Menschen machen sich also Sorgen. Sie sorgen sich, was aus ihnen werden soll. Sie sorgen sich, wenn sie keine Arbeit mehr bekommen, und sie sorgen sich, wenn sie viel zu viel Arbeit aufgebürdet bekommen. Sie sorgen sich wegen ihrer Finanzen. Sie sorgen sich um ihre Gesundheit, um die des Leibes und die der Seele. Sie sind besorgt, weil sie nicht wissen, wie sie dieses oder jenes bewältigen sollen, das ihnen abverlangt wird. Sie sorgen sich um ihre Nächsten, Kinder, Partner und andere, die von besonderer Bedeutung für sie sind. Sie sorgen sich um ihre Bedeutung: Was bedeutet ihr Leben, wem bedeutet es etwas? Was bedeutet es noch, wenn alles schief zu gehen scheint und Brüche im Leben sichtbar werden? Sie sorgen sich, wenn sie Entscheidungen fällen müssen, dass sie ja nicht einen Fehler machen und ihr eines wertvolles Leben verfehlen. Sie sorgen sich um den Frieden und die ungerechten Verhältnisse. Sie sorgen sich, weil sie schmerzhaft mit der Endlichkeit alles Daseins, auch des eigenen, konfrontiert werden.
1. Eine biblische Meditation: Wie für den besorgten Menschen gesorgt wird [7]
Die gerade skizzierten Zusammenhänge sind den Betern der Psalmen nicht fremd. Es ist eine gefahrvolle Welt, in der sie leben. Es ist ein bedrohtes Dasein, das sie bestehen sollen. In Ps 120 werden einige besonders unerfreuliche Beziehungs-Umstände aufgezählt: Lügner in der engsten Umgebung, Mitmenschen, die den Frieden hassen, friedlose Verhältnisse. Da wird es der »Seele lang« (Ps 120,6).
Der Nachbarpsalm 121 steigert die schwierigen Verhältnisse noch. In diesem Zusammenhang ist nicht zu entscheiden, ob es sich z. B. um einen Reisesegen beim Aufbruch zur Wallfahrt [8] oder um einen Reisesegen vor Antritt der gefährlichen Rückreise aus Jerusalem [9] handelt. Es ist am ehesten »ein Selbstgespräch des Beters mit seiner eigenen Seele [10] . In einem gefahrvollen Leben tröstet ein Beter seine Seele mit Blick auf die Hilfe Gottes. Er sagt:
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen« (Ps 121,1). [11]
In der Auslegung wird erwogen, ob die Berge ein Sinnbild für die Gefahren sein sollen, denen sich der Mensch gegenübersieht, etwa die etwas unheimliche Bergwelt östlich von Jerusalem, einem Schlupfort für Banditen (Lk 10,30!) und Raubtiere. [12] Dann stünden Berge durchaus nicht für die schönen und erhebenden Anblicke, die sich dem Auge bieten. Berge sind in dieser Hinsicht Hindernisse, die das Fortkommen erschweren. Probleme können einem ja wie Berge vor Augen stehen. Und Berge sind nur mit Mühe zu überwinden. In der prophetischen Ankündigung einer heilvollen Zukunft werden Berge darum eingeebnet werden:
»In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben, soll gerade, und was hügelig, soll eben werden« (Jes 40,3f).
Oder schaut der Mensch auf die Berge, weil von den Bergen Zions Gottes Hilfe erwartet werden darf? [13] In jedem Fall schaut er nach Hilfe für seine bedrohte und gefährdete Seele aus. Wohin blickt er in seiner Sorge, wenn er sich fragt:
»Woher kommt mir Hilfe?« (Ps 121,1)
Seelsorge hat mit der Blickrichtung zu tun, die der besorgte Mensch wählt. Er kann sich nicht aussuchen, welche Berge ihm den Weg verstellen, aber er kann sich durchaus entscheiden, wohin er Hilfe suchend schaut. Darum ist Seelsorge auch eine Seh-Schule, die dem Menschen beisteht, wenn er sich fragt, wohin er sich Hilfe suchend in seiner Sorge wenden kann. Seelsorge hilft dem besorgten Menschen nicht zuletzt dadurch, dass sie ihn ermutigt, mit dem Psalm zu sagen:
»Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2).
Wir werden noch sehen, wie vielfältig diese Hilfe »vom Herrn« aussieht. An dieser Stelle geschieht die entscheidende Weichenstellung in der Seelsorge. Hier und nirgends anders kommt es auch zu den wirklich wichtigen Auseinandersetzungen. Darum beginnt dieser Entwurf einer evangelischen Seelsorge auch mit der Erinnerung an den Psalm. Der sich sorgende, nach Hilfe ausschauende Mensch findet, was er sucht, indem er auf die Hilfe des Herrn hoffen lernt. Er findet die Hilfe nicht in sich selbst, in den eigenen Ressourcen, und seien es auch die besten, gar spirituellen Ressourcen. Er findet die Hilfe nicht in anderen Menschen, und seien sie auch noch so fürsorglich, bedingungslos annehmend oder therapeutisch kompetent. Er findet Hilfe, in dem er lernt:
»Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2).
Wir werden noch sehen, dass diese Aussage sehr zugespitzt ist, und wie die Hilfe »vom Herrn« wiederum zusammenhängt mit persönlichem Bemühen unter Einsatz der eigenen Ressourcen und mit dem Beistand und der Begleitung durch andere, die hoffentlich fürsorglich, bedingungslos annehmend und therapeutisch kompetent sind. Hier aber ist die Weichenstellung entscheidend: Wir sind als besorgte Menschen und als solche, die besorgten Menschen seelsorglich beistehen, nicht mit uns allein.
Wir würden uns auch hoffnungslos übernehmen. Wir dürfen auch nicht so tun, als kämen wir allein auch schon irgendwie klar. Der Irrtum wäre verhängnisvoll. Es gilt sich einzugestehen, dass wir in den wirklich wichtigen Dingen nicht die Kontrolle haben. Wir können vieles tun; wir werden noch sehen, welche »Kontrollüberzeugung« gesund ist. Aber am Ende des Tages müssen wir uns doch eingestehen: Bei allem, was wir tun können, haben wir nicht die letzte Kontrolle über unser Leben: unsere Gesundheit, die Entscheidungen unserer Kinder, den Lauf der Welt. Es bleibt aber nicht bei diesem Eingeständnis. Bliebe es dabei, so müssten wir jetzt von Schicksal oder Zufall reden. Der Beter redet von Hilfe und von Gott, der als Schöpfer von Himmel und Erde vorgestellt wird.
Ich bin davon überzeugt, dass es für die Seelsorge eine entscheidende, nochmals: eine Weichen stellende Frage ist, ob wir zuerst von uns, unseren Ressourcen, Kompetenzen und Beziehungen reden. Alternativ: ob wir zuerst von unseren Grenzen, Abhängigkeiten und Gefühlen des Ausgeliefertseins reden. Oder ob wir weder das eine noch das andere zuerst sagen, sondern bekennen:
»Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2).
Es gibt so etwas wie einen »christlichen Atheismus«, der mitten in der Kirche, mitten in der Theologie, mitten im Herzen von Menschen, die Christen sind, haust. Der »christliche Atheismus« hat vielleicht ein durchaus orthodoxes Bekenntnis, aber er hat aufgehört, mit Gott als dem »Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat«, zu rechnen. Im wirklichen Leben spielt die Erwartung seiner Gegenwart, seines Redens oder gar Eingreifens keine Rolle mehr. Von einer Hilfe »vom Herrn« zu reden, hat aber nur Sinn, wenn es einen Herrn, »der Himmel und Erde gemacht hat«, gibt, und wenn dieser Herr zugänglich ist, ja wenn er offenbar bereit ist, sich um den besorgten Menschen und die, die für ihn sorgen, zu kümmern. Anders gesagt: wenn Gott selbst ein seelsorglicher Gott ist. Wir werden sehen, dass diese Erwartung in vielen Konzeptionen der Seelsorge abgestorben ist und in einigen auch ausdrücklich verabschiedet...
| Erscheint lt. Verlag | 25.7.2012 |
|---|---|
| Verlagsort | Göttingen |
| Sprache | deutsch |
| Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
| Schlagworte | BeziehungsWeise • Gemeinde • Herbst • Kirche • Kirche; Mission; Seelsorge; Gemeinde; beziehungsweise; Herbst; • Mission • Seelsorge |
| ISBN-10 | 3-7887-2620-2 / 3788726202 |
| ISBN-13 | 978-3-7887-2620-1 / 9783788726201 |
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