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Wozu Kunst? (eBook)

Ästhetik nach Darwin
eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
9783518770108 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wozu Kunst? - Winfried Menninghaus
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Die Gesangskünste von Vögeln haben Künstler und Denker vielfach zu Parallelen mit den menschlichen Künsten angeregt. Erst Charles Darwin jedoch hat solchen Parallelen eine Theorie gegeben und sie anhand eines allgemeinen evolutionären Modells ästhetischer Darstellung und Rezeption erklärt. Winfried Menninghaus präsentiert Darwins Überlegungen als einen bedeutenden Ansatz zu einer Theorie der Künste, die neben der Musik auch Rhetorik, Poesie und die visuellen Künste umfaßt. Dabei räumt er mit dem verbreiteten Mißverständnis auf, Darwins Musiktheorie postuliere auch für den Menschen einen direkten Zusammenhang von Singen/Musik und sexuellem Werbungserfolg. Das »singing for sex« bleibt, so Darwin, nur mehr als eine archaische Erinnerungsspur erhalten, die die menschlichen Künste phantasmatisch mit einem breiten Spektrum latent sexueller Affekte auflädt, welche alle Nuancen zwischen »love and war« durchlaufen können. Menninghaus liest Darwins Ausführungen vor dem Hintergrund des heute enorm gewachsenen Wissens in Archäologie und Evolutionstheorie sowie im Lichte der philosophischen und empirischen Ästhetik. Er ergänzt Darwins kühne Analyse, indem er die Rolle von Spielverhalten, Technologie und symbolischen Praktiken für die hypothetische Transformation sexueller Werbungspraktiken in menschliche Künste untersucht. Das Buch entwickelt ein überzeugendes Szenario für das 'Woraus', 'Wie' und 'Wann' der Entstehung der menschlichen Künste und gibt eine komplexe Antwort auf die oft gestellte - und noch öfter vermiedene - Frage: 'Wozu Kunst?'

Winfried Menninghaus, geboren 1952, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der FU Berlin. <b> <p></p> <p></p> </b>

Cover 1
Impressum 5
Vorbemerkung 8
Inhalt 6
I. Werbung, Wettbewerb, Wahl: Darwins Konkurrenzmodell der Künste 32
II. Das Gegenmodell: Die Künste als Agenten 152
III. Sexuelle Werbung, Spiel, Technologie und Symbole: 196
IV. Ästhetische Selbstpraktiken 261
Bibliographie 281
Ausführliches Inhaltsverzeichnis 320

31 I. Werbung, Wettbewerb, Wahl: Darwins Konkurrenzmodell der Künste

1. Die Trajektorie visueller Ästhetik: Natürliche Körperornamente – dekorative Künste – Malerei und Skulptur

Autoren so unterschiedlicher Provenienz wie Platon, Edmund Burke, Charles Darwin, Sigmund Freud und viele andere teilen bei der begrifflichen Bestimmung ästhetischer Wahrnehmung und Wertschätzung ein ganzes Bündel semantischer Zuschreibungs- und sprachlicher Verwendungsregeln:

(1) Als Leitdifferenz für ästhetische Bewertung figuriert der Begriff der Schönheit.1 Gewiss haben Poetiken und Ästhetiken ein historisch wie kulturell variantenreiches Spektrum weiterer Bezeichnungen für ästhetische Qualitäten entwickelt; auch scheinen viele Bereiche der modernen Künste mit der Kategorie des Schönen nicht mehr angemessen erfassbar zu sein. Für das gesamte Gebiet der Ästhetik, das neben den modernen Künsten auch die ästhetische Wahrnehmung von Landschaften, natürlichen Körpern, von Gegenständen des täglichen Gebrauchs und dekorativen Objekten sowie industrielles Design und die älteren Künste umfasst, bewahrt der Begriff aber durchaus eine grundlegende Bedeutung. Sogar Kunstwerke oder Werbungen, die ganz gezielt Schönheits-kompatible Erwartungen verletzen, bleiben vielfach negativ an das gebunden, was sie nicht mehr sein wollen; sie bekräftigen insofern die jeweiligen Schönheitsnormen noch in deren Transgression.

(2) Schönheit wird als eine Auszeichnung der äußeren Er32scheinung verstanden, als ein distinktiver Vorzug, ein übernormaler Reiz.

(3) Das Wort »schön« hat sehr weit gestreute Anwendungen. Es wird umgangssprachlich als beinahe universeller Signifikant für die Zuschreibung positiver Wertigkeit (Valenz) verwendet, sogar in Verbindung mit negativen Begriffen. Wenn etwas als »ganz schön teuer« bezeichnet wird, ist das nicht identisch mit der unzweideutigen Ablehnung eines übertriebenen Preises. Die große semantische Streuung des Wortes »schön« wird vielfach beklagt; sie ist aber eine hochgradig allgemeine Eigenschaft des Sprachgebrauchs überhaupt und diskreditiert nicht per se die Verwendung des Wortes als Begriff einer ästhetischen Theorie. Im engeren Kontext ästhetischer Bewertung werden zwei Klassen von Objekten besonders häufig mit dem Attribut »schön« belegt: natürliche Körper (vorzugsweise der eigenen Spezies) und Kunstwerke aller Art. In einem weiteren Sinn umfassen Letztere auch die Bemalungen und Schmuckstücke, die menschliche Körper zieren, sowie die vielen von Menschen hergestellten Objekte – Werkzeuge, Häuser, Mobiliar u. a. –, denen auch ein ästhetisches Design zugrunde liegt oder die zumindest regelhaft für ihre ästhetischen Eigenschaften bewertet werden.

(4) Der Zuschreibung von Schönheit wird eine handlungsmotivierende Komponente zugesprochen: Schönheit weckt Begehren – und damit ein Annäherungsverhalten. Bei sexuellen Körpern geht das Ziel der Annäherung oft über die ästhetische Betrachtung hinaus; bei Kunstwerken und anderen schönen Objekten besteht die Handlungskonsequenz darin, schöne Objekte aller Art bevorzugt und länger als andere zu betrachten, wiederholt den Anblick zu suchen, eventuell auch sie zu erwerben.2 Eine Entscheidung für fortgesetzte oder erneute Betrachtung ist im vollen Wortsinn eine Handlungskonsequenz ästhetischen Gefallens.

33(5) Die Wahrnehmung des Schönen hat an sich selbst eine positive Empfindungsqualität. Woran immer Schönheit ›objektiv‹ festgemacht wird, ihre Wahrnehmung hat eine affektive Dimension, die subjektiv als (ästhetische) Lust empfunden wird. Sie ist mithin inhärent selbstbelohnend.

Diese elementaren semantischen Implikationen und Verteilungsregeln des Attributs »schön« – die gewiss nicht sein gesamtes Bedeutungs- und Anwendungsspektrum erschöpfen – finden sich nicht allein bei den eingangs genannten Autoren. Sie gehören vielmehr zum allgemeinen Sprachgebrauch zahlreicher natürlicher Sprachen. Charles Darwins Reflexionen über die mögliche Entstehung der menschlichen Künste haben der sprachlich und theoriegeschichtlich sedimentierten Brücke zwischen der ästhetischen Bewertung sexueller Körper und künstlerischer Hervorbringungen eine evolutionstheoretische Formulierung gegeben. Ein vermittelndes Glied zwischen beiden Phänomenkreisen hat Darwin darin gesehen, dass bei etlichen Vögeln, Insekten, Amphibien und anderen Tieren nicht besser ausgebildete sexuelle Körperornamente, sondern unterschiedliche Gesangs- und Tanzfähigkeiten über sexuelle Attraktivität (mit)-entscheiden.

Darwin glaubte, dass Vögel und Insekten entweder durch Aussehensvorzüge oder durch kunstvolle Darbietungen, nicht aber in beiden Domänen zugleich miteinander konkurrieren (II 56, 226, 352). Er stützte sich dabei auf die vielen unscheinbar aussehenden Vögel, die hervorragend singen können. Heute weiß man, dass Darwin die Gesangs- und sonstigen Vorführkünste hochkolorierter tropischer Vögel weit unterschätzt hat. Viele Vögel scheinen gleichzeitig einer ästhetischen Konkurrenz in Aussehen, Gesang und Bewegungsdisplays zu unterliegen. Der Mensch gehört zu den Spezies, die ebenfalls in einen ästhetischen Mehrkampf verwickelt sind. In Darwins Ausführungen lassen sich gleich fünf Domänen ästhetischer (Selbst-)Präsentation und Rezeption beim Menschen unterscheiden: natürliche Aussehensvorzü34ge, Gesangskünste, Tanz/Selbstbewegungskünste, Praktiken artifizieller Selbstornamentierung sowie visuelle Kunstwerke jenseits des eigenen Körpers.

Das vorliegende Kapitel skizziert in Abschnitt 1.1 zunächst die theoretische Basis für Darwins Hypothesen zu den menschlichen Künsten: sein Modell der Evolution ästhetischer Präferenzen für körperliche Aussehensmerkmale und ihrer Rückkopplung mit sexueller Wahl. Darwin selbst hat dieses Modell – was in dessen Wiedergabe fast immer vernachlässigt wird – in Begriffen entwickelt, die weithin der philosophischen Ästhetik entnommen sind. Abschnitt 1.2 erörtert das nach Darwin kardinale Aussehens-»Ornament« des Menschen: die nackte Haut. Abschnitt 1.3 untersucht die Bedeutung dieses sehr besonderen Ornaments für die Entwicklung der visuellen Künste der Selbstbemalung und sonstigen Selbstdekoration. Abschnitt 1.4 schließlich zeigt die Bedeutung der nackten Haut für die Entstehung einer visuellen »Imagination« und für die relative Ablösung ästhetischer Wertschätzung von direkt sexuellen Implikationen.

Neuheit, Übertreibung, Variation um der Variation willen, Symmetrie/Rhythmus, friedliche Konkurrenz

Darwin hat vor allem deshalb mehrere Jahrzehnte über »beauty« nachgedacht, weil sie ein Problem für seine Theorie der natürlichen Selektion darstellt. Schmückende Federn, Hörner und Geweihe haben bei etlichen Tierarten »staunenswerte Extreme« erreicht. Sie haben eine solche Größe bzw. eine solche Form angenommen, dass sie in den »in den allgemeinen Lebensbedingungen« eher hinderlich und als Waffen nur noch wenig tauglich sind (I 279). Ein kardinaler Text der philosophischen Ästhetik, den Darwin auch mehrfach explizit zitiert hat, scheint ganz direkt sein Fragen nach »beauty« und »taste« angeleitet zu haben: Edmund Burkes 35Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Schönen und Erhabenen (1756). Burke behandelt bereits die »extreme Schönheit« des Pfauenschmucks in Darwins Begriffen eines Konflikts mit natürlicher »Fitness« und »guter Angepaßtheit«.3 Wie konnte es zu Phänomenen wie dem Pfauenrad kommen ?

Den ersten Schritt in Richtung bevorzugter Körperornamente hält Darwin für grundsätzlich arbiträr. Irgendein gegebenes Merkmal wird durch (genetische) Variation geringfügig verstärkt. Die bloße »Neuheit«, relative »Seltenheit« und »Verschiedenheit« dieser »Übertreibung« kann verstärkt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auf welche konkreten Merkmale sich solche Präferenzen für unwahrscheinliche Differenzqualitäten im Einzelnen verlegen, kann Darwins Theorie nicht vorhersagen, ja sie verneint eine entsprechende Erwartung. Eine Schnabelform etwa kann durch natürliche Selektion zugunsten der Erschließung neuer Nahrungsressourcen adaptiv modifiziert werden; daraus folgt recht genau, wie die Modifikation ausfallen muss. Sexuelle Ornamente dagegen entbehren einer solchen pragmatischen Funktion weitgehend. Sie müssen vor allem an sich selbst beeindrucken und gefallen – und das können sie grundsätzlich auf mehr als eine Weise. Deshalb postuliert Darwins Modell eine große Varianz und auch Arbitrarität der für ihre »Schönheit« bevorzugten Merkmale. Die »Capricen der Mode« (II 339) sind dafür das kulturelle Vorbild.

Um Aufmerksamkeit und potenziell Begehren auf sich zu ziehen, muss die Überausprägung ornamentaler Merkmale keineswegs groß sein; es genügen vielmehr kleine, ja minimale Gradunterschiede. Deshalb ergibt sich auch kein Konflikt zwischen den Präferenzen für »bloße Neuheit« (»mere novelty«), »Veränderung um der Veränderung willen« (»change for the sake of change«) und »bloße Vielfalt« (»mere...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2011
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Schlagworte Ästhetik • Charles • Darwin • Darwin Charles • Darwin, Charles • Darwinismus • Künste
ISBN-13 9783518770108 / 9783518770108
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