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Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27868-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe - Doris Knecht
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Nach 'Die Nachricht' schreibt Doris Knecht über das Leben einer Frau, die an einem Wendepunkt steht. 'Ein Buch, das beglückt, begeistert, beeindruckt.' (Maria-Christina Piwowarski)
Sie ist die Tochter, die stets unsichtbar war neben ihren braven, blonden Schwestern. Sie ist die alleinerziehende Mutter, die sich stets nach mehr Freiheit und Unterstützung sehnte. Sie ist die Überempfindliche, die stets mehr spürte als andere. Sie ist jemand, der Veränderungen hasst. Doch irgendetwas muss geschehen. Denn ihre Kinder sind im Begriff auszuziehen, und sie muss sich verkleinern, ihr altes Leben ausmisten, herausfinden, was davon sie behalten, wer sie in Zukunft sein will.
Wie ist es, wenn das Leben noch einmal neu anfängt? Doris Knechts neuer Roman ist die zutiefst menschliche und intime Selbstbefragung einer Frau, die an einem Wendepunkt steht. Sie versucht, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden. Und zugleich weiß sie, dass ihr das niemals gelingen wird.

Doris Knecht, geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin (u. a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten) und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, Gruber geht (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen Besser (2013), Wald (2015), Alles über Beziehungen (2017), weg (2019) und Die Nachricht (2021). Die Verfilmung von Wald kommt im Herbst 2023 in die Kinos. Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensburger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Doris Knecht lebt in Wien und im Waldviertel.

WIKINGERINNEN


Ich habe beschlossen, über mein Leben zu schreiben, mein Aufwachsen und mein Fortgehen, und schon ist es ein Krampf. Meine Mutter bekam sofort ihre Sorgenaugen, als ich es erwähnte. Ihre Augenlider werden dann grau, ich weiß nicht, wie sie das macht. Dann fing sie davon an, dass die Erinnerung ein Biest sei. Sie wisse, dass ich mich mitunter falsch erinnere an Ereignisse aus meiner Kindheit, dass ich Dinge krasser in Erinnerung hätte, als sie in Wirklichkeit waren. Ich sei keineswegs ständig benachteiligt worden. Habe ich das behauptet? Wann habe ich das behauptet? Sie sah mir nicht in die Augen. Offenbar erinnerte sie sich an etwas, vielleicht an einen Konflikt über unterschiedliche Auffassungen über eine bestimmte Sache. Ich überlegte, was das sein könnte, kam aber auf nichts. Zwei meiner Schwestern saßen mit am Tisch, als sie das sagte. Ich blickte fragend zu ihnen hinüber, aber sie wiegten nur ihre Köpfe, im Einklang, eine Choreografie der kalkulierten Unentschiedenheit. Sie sahen mir auch nicht in die Augen. Was habe ich erwartet, sie waren schon immer so.

Auch meine Tochter Luzi sagt, ich darf nicht über sie schreiben. Sie will in meinen Texten nicht vorkommen. Sie sagt, dass sie mir das schon seit Jahren sage, aber immer würde ich ihren Wunsch ignorieren. Ich solle das jetzt endlich kapieren. Ich bin mir sicher, dass sie mir vor ein paar Monaten ihr Okay gab, in diesem Buch vorzukommen, aber sie streitet das sehr überzeugend ab.

»Ich habe dir doch erzählt, dass ich über mein Leben schreiben möchte«, sage ich, »und darüber, wie es war, von zuhause wegzugehen. Dass ich es vergleichen will damit, wie ihr auszieht, Mila und du. Also, falls ihr jemals auszieht. Wie völlig anders das jetzt ist, für alle.«

Luzi schaut mich ungerührt an und sagt, sie könne sich nicht erinnern. Ihre Schwester Mila lehnt in der Tür und lauscht unserem Gespräch. Als ich zu ihr hinübersehe, dreht sie sich um und geht in die Küche. Wie meine Schwestern. Auch Mila will nicht hineingezogen werden, auch sie will sich nicht erinnern.

Ich sage: »Gut, okay, dann hat die Hauptfigur halt ein anderes Kind.«

»Eins, das ganz zufällig genau so ist wie ich«, sagt Luzi. Sie wirkt verärgert.

»Nein, ich mache ihr einen Sohn«, sage ich, »einen, der ganz anders ist als du.«

»Wie heißt der Sohn«, fragt Luzi.

»Hmm, warte, Max«, sage ich.

»Gefällt mir nicht«, sagt Luzi.

»Na ja, sorry«, sage ich, »aber dich gibts gar nicht mehr.«

Ich wollte ohnehin nie Mädchen. Ich weiß nicht genau, warum. Nein, es ist falsch, dass ich keine Mädchen wollte, ich konnte mir, bevor ich Kinder hatte, einfach nicht vorstellen, die Mutter eines Mädchens zu sein, eines Wesens in Tutu und rosa Schühchen. Vielleicht, weil ich mit vier jüngeren Schwestern aufgewachsen bin und mit ihnen Beziehungen pflege, die sich, grob vereinfacht, vom erzwungen Idyllischen über das komplett Traumatische erst spät ins einigermaßen Harmonische wandelten. Meine Mutter besteht darauf, dass wir uns alle gut verstehen, also verstehen wir uns alle gut. Wir hinterfragen das nicht.

In meiner Familie hat man keine Wahl, das Wollen wird einem diktiert. Am besten man akzeptiert es einfach, sonst hat man nur Scherereien. Das funktioniert gut, vielleicht auch, weil ich keine Komplizinnen fände in einem Streit, alle andern sind zu zweit, meine Eltern, meine Schwesternpaare, nur ich bin allein. Es funktioniert eigentlich immer besser, jedenfalls auf längere Sicht, obwohl wir so viele sind und so komplett unterschiedlich. Möglicherweise weil wir jetzt alle schon älter sind und zu erschöpft für echten Streit. Vor allem ich, denn letztlich habe ich ja ohnehin keine Chance.

Bei einem Streit sind immer mindestens zwei gegen mich, nicht selten vier, das habe ich im Laufe meines Aufwachsens gelernt.

Vielleicht wünschte ich mir Söhne, weil meine Eltern sich so sehnlichst einen Sohn gewünscht hatten, dass es schon fast beleidigend war. Sie bekamen mich, dann wollten sie noch ein Kind und bekamen Zwillingstöchter, dann dachten sie wohl, probieren wirs nochmal, vielleicht wirds ja ein Bub. Sie bekamen erneut Zwillingstöchter, und danach trauten sie sich wahrscheinlich nicht mehr. Sie streiten die Sache mit dem Wunschsohn ab, und wenn sie es mal nicht abstreiten, entschuldigen sie es damit, dass das logisch sei, bei so vielen Mädchen. Drei meiner Schwestern haben Namen, die sich ganz zufällig problemlos zu Jungennamen umbauen lassen: Alexandra, Paula, Franziska. Zum Missfallen meiner Mutter, die bis heute darauf besteht, dass man Vornamen nicht abkürzt, nannte mein Vater sie Bienchen, Pauli und Franzi. Meinen Namen hat er nie verniedlicht. Ich weiß bis heute nicht, wie ich das finden soll. Er hat auch alle meine Schwestern mit viel Ehrgeiz in verschiedene Hochleistungssportarten hineingezwungen, nur mich nicht. Sabine und Lexi sind Rennradfahrerinnen, die noch vor kurzem erfolgreich an Rennen teilnahmen, Pauli spielte Turnierfußball, Franzi Tennis. Alle haben in ihren Häusern eigene Schaukästen für ihre Pokale und Medaillen.

Ich habe nur Bücherregale. Du warst einfach nicht sportlich, sagt meine Mutter. Ich frage mich, woran man das erkannt hat. Meine Mutter war eine ambitionierte Turnerin, die es, wie sie gern erzählt, vor allem deshalb nicht in die Profiliga schaffte, weil ihre Familie sich ein professionelles Training nicht leisten konnte. Sie schiebt es auf ihre Herkunft, dass sie keine erfolgreiche Sportlerin geworden ist, und vielleicht stimmt das, aber vielleicht liegt es doch daran, dass sie in ihrem Turnverein meinen Vater kennengelernt hat und dass ihr dann andere Dinge wichtiger waren als das Training.

Sie ist immer noch sportlich genug, um täglich mit meinem Vater Tischtennis zu spielen. Du wolltest keinen Sport machen, es war deine Entscheidung, sagt meine Mutter. Ich kann mich daran nicht erinnern. Alle in meiner Familie sind sportlich, außer mir.

Ich bin die Älteste, äußerlich ähnle ich meinem Vater. Ich habe einmal gelesen, das sei von der Evolution so eingerichtet worden. Die ersten Nachkommen gleichen den Erzeugern, damit die das Weibchen nicht verstoßen. Oder damit sie sich leichter tun beim Identifizieren mit dem Nachwuchs. Ich habe die Begründung vergessen, und ich weiß nicht, ob es stimmt. Bei uns stimmte es. Meine Schwestern sind alle groß und schlank und blond wie meine Mutter. Sie glichen ihr von Geburt an. Ich glaube, das spielt eine Rolle bei der Mutter-Kind-Bindung. Ich aber habe die Augen meines Vaters und seiner Mutter, ihre Nase, ihre helle Haut, die sich in der Sonne sofort rötet, Haare, an deren Farbe man sich nicht erinnert. Auf den Fotos in den Familienalben sieht man mich oft im Hintergrund, manchmal unscharf oder nur zur Hälfte, manchmal gar nicht. Es war keine Absicht, es ist einfach so passiert: Die Zwillinge in ihren süßen Zwillingskleidern und mit den dicken blonden Zöpfen präsentieren ihre Osternester, zwei rosa, zwei rot, und in der Ecke, das Stück weißer Teddyplüsch, das ist mein linker Arm. Man machte ja auch nicht so viele Fotos damals. Man hatte einen Fotoapparat, legte einen Film ein und ging sparsam um mit den zwölf oder vierundzwanzig Bildern, die man damit machen konnte. Man wartete auf einen guten Moment, auf einen Augenblick, den man verewigen wollte, der repräsentativ war für diesen Lebensabschnitt, für diesen Sommer, für das Glück, an das man sich selbst erinnern und das man anderen zeigen wollte. Man sagte cheese und drückte ab. Man wusste nicht genau, was man bekommen würde, wenn man die Bilder später im Fotogeschäft abholte. Manchmal war eine Person, von der man glaubte, man hätte sie auf dem Bild, halb abgeschnitten, manchmal unscharf, und manchmal war sie verschwunden, und relativ oft war ich diese Person, so wie auf den Fotos mit meinen Schwestern mit den spektakulären blonden Zöpfen und den blauen Augen.

Meine Mutter entstammt einem Clan von großgewachsenen, lauten und sehr blonden Menschen. Die Männer sind durchwegs kräftig. Im Alter neigen sie zur Fettleibigkeit, die roten Backen ihrer Jugend werden fleischig und bekommen rote Adern. Die Frauen bleiben schlank und werden mit den Jahren hager, nur zwei der Schwestern meiner Mutter, die Zwillingstanten, tragen auf hohen, dünnen Beinen ausladende Bäuche unter Brüsten herum, die niemals zu wachsen aufzuhören scheinen. Alle sind gesellig und sitzen ständig zusammen herum und...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alleinleben • Älterwerden • autofiktional • Erwachsenwerden • Familie • Frauenleben • Hund • Kinder • Lebensabschnitt • nunez • Schoch • Schwestern • Umziehen • Wien • Wohnung • Zwillinge
ISBN-10 3-446-27868-0 / 3446278680
ISBN-13 978-3-446-27868-4 / 9783446278684
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