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Die Melancholie des Mammuts -  Massimo Sandal

Die Melancholie des Mammuts (eBook)

Ausgestorbene Tierarten und wie sie zu neuem Leben erweckt werden können
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-3227-8 (ISBN)
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Dank Genetik können die Genome längst nicht mehr existierender Lebewesen rekonstruiert werden, - ein titanisches Wissenschaftsprojekt. Mit Hilfe von biotechnologischen Methoden soll diese 'De-extinction' bald Mammuts wieder die Erde besiedeln lassen, die durch Filme wie Ice Age längst zum Teil unserer Popkultur geworden sind. Das Artensterben zwingt uns, Antworten auf Fragen zu der Biodiversität zu finden, und zwar schnell. Massimo Sandal erzählt eine sprachlich exzellente Wissenschaftsgeschichte von den Anfängen des Lebens auf der Erde bis in seine ferne Zukunft, von der Geologie bis zur zeitgenössischen Kunst, von der Geschichte der Wissenschaft bis zur Sciencefiction.

Massimo Sandal ist Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist. Er promovierte in Experimental Biophysics an der Universität Bologna und in Computational Biology in Aachen, wo er noch heute lebt. Er arbeitet mit verschiedenen Publikationen zusammen, darunter Le Scienze und Wired.

Die Entdeckung des Gestern

Historisch betrachtet ist Wissenschaft im Wesentlichen die Einsicht, dass nichts unveränderlich ist. Fixsterne sind nicht fix, die Erde steht nicht starr im Zentrum des Kosmos, die Kontinente waren nicht immer an der Stelle, wo sie heute sind, das Universum hat nicht schon immer existiert, sondern hatte einen Anfang, und so weiter und so fort. Im Nachhinein ist es leicht, anderslautende Vorstellungen für dumm, naiv oder ignorant zu halten. Dabei haben wir es hier mit einem Musterbeispiel für Ockhams Rasiermesser1 zu tun, demzufolge Hypothesen so knapp wie möglich aufzustellen seien: Solange es keine Anzeichen für eine Veränderlichkeit der Welt gab, war die einfachste Hypothese die, dass alles schon immer so war wie damals und auch immer so bleiben würde.

Und genauso hat man lange Zeit auch über das Leben auf der Erde gedacht.

Seltsam eigentlich, wo doch jedes Kind weiß, dass es früher Lebewesen gab, die es heute nicht mehr gibt, das irdische Leben mithin eine Vergangenheit besitzt, die sich von der Gegenwart unterscheidet. Und doch war diese Tatsache bis vor wenigen Jahrhunderten keineswegs für alle offenbar. Dabei waren den Menschen Fossilien seit Urzeiten bekannt. Aus antiken Schriftwerken kennen wir zahlreiche Berichte über gigantische Knochen oder Steine, die Abdrücke von Palmen oder Muscheln trugen. Aber Fossilien sind Zeichen, und Zeichen lassen sich auf alle möglichen Weisen lesen. Das Offensichtliche an sich gibt es nicht.

Bis vor wenigen Jahrhunderten wurden Fossilien von bedeutenden Gelehrten wie Athanasius Kircher oder Georgius Agricola noch als Lusus Naturae abgetan, als Launen der Natur, die in den Felsen heranwachsen und deren erstaunlich organische Form nicht mehr überraschen sollte als die geheimnisvolle Geometrie der Kristalle.2 Um zu erklären, wie die Muscheln ins Hochgebirge gekommen waren, schlussfolgerte man, die Natur habe sich aus unerfindlichem Grunde den Spaß gemacht, unter Einwirkung einer nicht näher bestimmten Schöpferkraft (vis plastica) Gesteine zu erschaffen, die das Lebendige imitierten.3 Andere hielten sie für die Überreste von Lebewesen, die infolge katastrophaler Schwankungen des Meeresspiegels – ein Beispiel wäre die biblische Sintflut – massakriert worden, dabei aber stets die gleichen wie die heutigen gewesen seien. Als ihre Andersartigkeit nicht mehr zu leugnen war, wurden sie flugs zu mythologischen Kreaturen umgedeutet, die zwar »ausgestorben«, von der Substanz her aber nicht anders, nur größer und entstellt oder auch Kombinationen aus mehreren noch lebenden Tieren seien.

Pausanias berichtet in seiner »Beschreibung Griechenlands« von der Entdeckung eines riesigen Schulterblatts und anderer Knochen, über deren Beschaffenheit wir keine Kenntnis haben, deren Beschreibung aber auf die Überreste eines prähistorischen Dickhäuters passen könnte. Auf die Idee, dass sie zu einer verschwundenen Tierart gehören könnten, kamen Pausanias und andere Griechen nie. Sie deuteten die Knochen als Überreste des Riesen Pelops, des Großvaters von Herakles, und bewahrten sie als heilige Reliquien im Tempel der Artemis in Olympia auf.4 Dem griechischen Historiker Phlegon von Tralleis zufolge waren die Riesenknochen, die sich im ägyptischen Nitria fanden, ein Beweis für ein weit zurückliegendes Zeitalter von Riesen sowie dafür, dass die Lebewesen mit den Generationen unvermeidlich schrumpfen. Chinesische Reisende fürchteten sich davor, die »Felder weißer Knochen« in den Wüsten Taklamakan und Kumtag zwischen Turfan und Lop Nur in der heutigen Provinz Xinjiang zu durchqueren; »Drachen auf den Feldern zu finden« war, dem Yijing zufolge, für den Bauern ein schlechtes Omen. Als das Christentum die Mythologie ablöste, erschien die Vorstellung, ganze Arten könnten verschwunden sein, selbst aus philosophischer Sicht widersinnig. Wozu einen verschwenderischen Gott annehmen, der Pflanzen- und Tierarten schuf, nur um sie wieder zu vernichten? So verwundert es nicht, dass zur Deutung von Fossilien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Hypothesen aufgestellt wurden, die aus heutiger Warte von einer durchaus komischen Unwahrscheinlichkeit sind. Der Schweizer Gelehrte Johann Jakob Scheuchzer ist bis heute nicht für seine monumentalen Werke zur Geschichte und Naturgeschichte berühmt, sondern dafür, dass er im Skelett eines versteinerten Salamanders die Knochen eines in der Sintflut ertrunkenen Menschen zu erkennen meinte5 – wodurch bewiesen wäre, dass es leichter ist, durch einen großen Irrtum Unsterblichkeit zu erlangen als durch lebenslange edelste Gelehrsamkeit.

Abb. 1 Versteinerte Ammoniten, Abbildung aus »Discourse of Earthquakes« von Robert Hooke.

Gleichwohl jedoch begann sich im 17. und 18. Jahrhundert angesichts der zahlreichen Fossilien in den europäischen Wunderkammern, die allzu offenkundig keinem bekannten Lebewesen ähnelten, eine gewisse Verlegenheit zu regen. Im späten 17. Jahrhundert sprach der Naturphilosoph Robert Hooke in seinen Abhandlungen über fossile Ammoniten als einer der ersten offen die Möglichkeit aus, es könne sich um ausgestorbene Lebewesen handeln. Die spiralförmigen Muscheln erinnerten ihn zwar an das heutige Perlboot (Nautilus)6, aber nicht so sehr, um in ihnen ein und dasselbe zu sehen. Daraus schlussfolgerte er:

In früheren Zeitaltern hat es viele Arten von Lebewesen gegeben, die wir heute nicht mehr finden können; es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass es heutzutage zahlreiche neue Arten gibt, die zu Anbeginn der Zeiten noch nicht existiert haben.7

Allerdings konnte Hooke nicht beweisen, dass es in den unerreichbaren Tiefen des Ozeans nicht doch von Ammoniten wimmelte. Wie hätte man in der damals noch weitgehend unerforschten Welt auch belegen sollen, dass derartige Geschöpfe nicht doch in irgendeinem Winkel der Erde weiterlebten?8 Oder, wie Gottfried Leibniz in den »Protogaea« schrieb:

Es heißt, dass Ammoniten, die zu den Nautilussen gerechnet werden können, sich überall in Form und Größe (manche haben sogar einen Durchmesser von einem Fuß) von allen heute in den Meeren lebenden Arten unterscheiden. Aber wer hat je all ihre verborgenen Nischen oder die unterirdischen Abgründe erforscht? Wie viele bislang unbekannte Tiere bietet uns die neue Welt?9

Aber auch die Knochen der »Riesen« wurden zu einem Problem. Viele sahen nämlich eher aus wie Knochen von Elefanten, was die Frage aufwarf, wie das exotische afrikanische Ungetüm nach Europa gelangt war. Häufig wurde auf Hannibals Alpenüberquerung verwiesen, doch schon der deutsche Gelehrte Wilhelm Ernst Tentzel merkte an, es wäre doch reichlich seltsam gewesen, hätten die Römer das wertvolle Elfenbein der Stoßzähne nicht genutzt. Hinzu kam, dass die Überreste denen von Elefanten oft gar nicht ähnlich sahen. Bernard Fontenelle, ein bedeutender Frühaufklärer, fragte sich:

Es wird vermutet, bei diesem Knochen handele es sich womöglich um das untere Ende des Oberarmknochens eines großen Tieres, das sich vom Elefanten unterscheidet. Aber welchen Tiers? Die Antwort auf diese Frage hätte bedeutende Konsequenzen, man müsste sie nur eingehend genug erforschen.10

Letztendlich liegt die Lösung also wie so oft darin, sich ganz genau anzuschauen, was man bereits vor Augen hat. Zu jenen, die Fontenelles Aufruf aufgriffen, gehörte der junge Baron Georges Léopold Chrétien Frédéric Dagobert de Cuvier, bekannt als Georges Cuvier. Am fünfzehnten Germinal des vierten Jahrs der Französischen Revolution, also am 4. April 1796, legte Cuvier am Institut de France einen 30-seitigen Bericht mit dem Titel »Mémoires sur les especes d’éléphants vivants et fossiles« (Abhandlung über lebende und fossile Elefantenarten) vor.11 Der Titel mag wenig spektakulär erscheinen, der Zurückhaltung geschuldet, doch er entpuppte sich als eine mit Anmut geworfene Granate: Indem er durch das Wörtchen »und« die »lebenden« von den »fossilen« Arten unterschied, manifestierte er das Konzept, dass gewisse Arten eben nicht mehr existieren, und Cuvier lieferte den Nachweis, dass es eine Urgeschichte gab. Aber wie war ihm das gelungen?

Als Junge hatte Georges Cuvier die Werke von Carl von Linné verschlungen und wieder und wieder die monumentale »Histoire Naturelle« von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon gelesen, ein in einer gestelzten Prosa verfasstes, gleichwohl äußerst populäres enzyklopädisches Kompendium über die damals bekannte Natur. Nach einem Studium der Naturgeschichte und vergleichenden Anatomie an der Hohen Karlsschule in Stuttgart wurde er mit neunzehn Hauslehrer bei einer Aristokratenfamilie in der Normandie, durch deren Vermittlung er 1795 eine Anstellung als Assistent am Pariser Naturkundemuseum ergatterte. Dort bekam Cuvier Zugang zu Exponaten und die nötigen Kontakte, um sein großes Talent als Beobachter insbesondere auf dem Gebiet der vergleichenden Anatomie zu entfalten.

Es verwundert nicht, dass der »Bürger« Cuvier zu seinen Schlussfolgerungen nicht durch einen spektakulären Geistesblitz gelangte, sondern indem er Schädel und Kiefer moderner Elefanten akribisch analysierte und mit denen fossiler Elefanten verglich: sibirischen Mammuts sowie einem amerikanischen Fossil, das als »Bestie von Ohio« bekannt ist und dem er später den Namen Mastodon gab. Die Analyse alter und moderner Knochen ergab erstens, dass es zwei verschiedene lebende Elefantenarten gab, die afrikanische und...

Erscheint lt. Verlag 6.10.2023
Übersetzer Peter Klöss
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Anthropozän • Archäologie • Artenschwund • Artensterben • Artenvielfalt • Auerochse • Auferstehung • ausgestorbene Arten • Aussterben von Arten • Biodiversität • Biologie • DANN-Sequenz • de-extinction • Dekade biologische Vielfalt • Dinosaurier • Dystopie • Erbgut • Erhaltung stark bedrohter Tierarten • Ethik • Evolution • Faszination • Fighting Extinction • Fridays For Future • Genetik • Genome engineering • Gentechnik • Geoengineering • Geschichte • Gewebeproben • Harald Lesch • Insektensterben • Jurassic Park • Klimawandel • Klon • Klonen • Lazarus-Projekt • Lebendes Fossil • Lebensraumvernichtung • Mage • Mammut • Melancholie • Multiplex automated genome engineering • Mytholgie • mythologischen Bestiarien • Naturgeschichte • Naturzerstörung • Ökosystemleistung • Paläontologie • prähistorische Kreaturen • Pyrenäensteinbock • quagga • Recht der Natur • Rekonstruktion ausgestorbener Arten • resurrection biology • Rückzüchtung • Sachbuch • Südlicher Magenbrüterfrosch • Terra-X • Umweltzerstörung • Urwelten • Wandertaube • Wiederbelebung ausgestorbener Tierarten • Wiederherstellung Ökosysteme • wissenschaftliche Debatte • wollhaarmammut • Zeitreise
ISBN-10 3-7776-3227-9 / 3777632279
ISBN-13 978-3-7776-3227-8 / 9783777632278
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