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Heilpädagogik als personorientierte Disziplin -  Christian Wevelsiep

Heilpädagogik als personorientierte Disziplin (eBook)

Eine Grundlegung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
213 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-044634-2 (ISBN)
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Mit der Idee der Personenförderung kommt ein starkes Motiv zum Ausdruck, dem man in den verschiedenen heilpädagogischen Kontexten begegnet. Diese Maxime scheint auf den ersten Blick nichts anderes als eine überzeugende Strategie der Praxis zu sein, plausibel und lebensdienlich, eine 'humane Technik', mit der man durch die Mühen des pädagogischen Alltags kommt. Doch geht es hier um eine grundlegende Herangehensweise an die Heilpädagogik als Disziplin, als Praxis und als Profession zur Frage, warum sich jeweils der Eigenwert der Person in spezifischer Weise abbilden und entfalten lässt. Im Mittelpunkt der Darstellung steht somit der pädagogische Sinn personenorientierter Beziehungsgestaltung, der bereits in der historischen Dimension zum Ausdruck kommt.

Christian Wevelsiep ist Privatdozent für Politische Soziologie und arbeitet zudem als Lehrer in einer Förderschule mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung.

Einleitung: Der Wert der Person für das heilpädagogische Denken


Heilpädagogik als personbezogene Disziplin – diese Überschrift wird niemanden überraschen, der sich praktisch oder theoretisch mit heilpädagogischen Fragen beschäftigt. Die traditionelle Bezeichnung Heilpädagogik steht bekanntlich als Oberbegriff für eine Praxis mit einem spezifischen »Auftrag«. Auch nach Jahren kritischer Diskussionen ist der Grundgedanke präsent, dass es im Zusammenhang einer heilpädagogischen Profession vor allem um soziale und personale Integration geht. Im Ausdruck des »Heils« ist eine tiefe Ambivalenz enthalten. Von Heilung zu sprechen, ist unter pädagogischen Voraussetzungen schwierig, wenn nicht gar ausgrenzend; doch im Wort »heil« ist eine durchaus wertvolle ganzheitliche Orientierung enthalten, die »einer drohenden personalen und sozialen Desintegration zu begegnen« versucht (Speck 2008, S. 19). Heilpädagogisches Handeln findet, ganz gleich, ob es sich mit psychoanalytischen, humanistischen oder systemischen Prinzipien verbindet, in dem positiven Auftrag, »den Menschen ganz werden zu lassen« (ebd.), eine unverzichtbare Legitimation.

Diese These ist nun keineswegs überraschend oder neuartig. Mit ihr soll keine ideologische Aussage unterstellt werden, sondern eher an ein solides Fundament erinnert werden, das für die Geschichte und die Gegenwart heilpädagogischen Handelns bestimmend ist – die Idee der Personorientierung.

In der Idee der Personenförderung kommt ein Motiv zum Ausdruck, das in den verschiedenen heilpädagogischen Kontexten entfaltet werden soll. Die Maxime der Personorientierung scheint auf den ersten Blick nichts anderes als eine überzeugende Strategie heilpädagogischer Praxis zu sein. Doch geht es hier um eine grundlegende Herangehensweise an die Heilpädagogik als Disziplin, als Praxis und als Profession. Im Mittelpunkt der Reflexionen steht die Frage nach dem pädagogischen Sinn personorientierter Beziehungsgestaltung, der bereits in der historischen Dimension zum Ausdruck kommt. Geschichte und Gegenwart, Praxis und Theorie, professionelle und soziologische Dimensionen sollen in verschiedenen Kapiteln beleuchtet werden, wobei im Hintergrund immer die Frage nach dem Eigenwert der Personorientierung steht.

Die Konzeption erstreckt sich folglich:

  • auf Perspektiven der theoretischen Begründung der Heilpädagogik bzw. der verschiedenen sozialtheoretischen Herangehensweisen,

  • auf die historische Verlaufsform, in der sich die Heilpädagogik als Disziplin bis zur Gegenwart bewegt hatte,

  • auf die konkrete Praxis der heilpädagogischen Beziehungsgestaltung sowie

  • auf Perspektiven der professionellen Selbstreflexion, die heute, vereinfacht gesagt, unter erschwerten, krisenförmigen Bedingungen zum Ausdruck kommt.

Es handelt sich, wie man sieht, um eine ganzheitlich orientierte Sicht auf die Heilpädagogik, die mit Ideen kommunikativer Erfüllungsgestalten zusammengelesen wird. Dieser Blick auf das »System Heilpädagogik« erlaubt es, so steht zu hoffen, die existentialistische Dimension der Profession herauszuarbeiten.

Warum Orientierung an Personen? Was besagt der Titel, wenn er nicht nur etwas Selbstverständliches zum Ausdruck bringen soll? Gefragt, welchem der ethischen Begriffe man die größte Bindungswirkung zuspreche, würde die Antwort eines Zeitgenossen wohl auf ebendiesen Eigenwert der Person zielen. Für diesen Verdacht gibt es reichlich Anhaltspunkte, wobei der naheliegende wahrscheinlich in der Sphäre des Rechts zu verorten wäre. Menschenrechte sind unverfügbare Rechte, für die wir im Allgemeinen alle moralischen Kräfte aufbieten. Menschenrechte wie persönliche Würde oder das Recht auf Unversehrtheit haben nicht nur einen beliebigen Wert für jemanden, sondern sie erscheinen geradezu als sakral.

Die Philosophie von Hans Joas hat diesen Gedanken philosophisch durchbuchstabiert. Die Menschenrechte haben, so Joas, heute einen Stellenwert, der den Vergleich zur Religion nahelegt. Sie ermöglichen die Wahrnehmung des Sakralen und gleichen somit den ältesten Quellen menschlicher Erfahrung – Erfahrungen, bei denen wir die Grenzen unserer selbst überschreiten, die uns mit »affektiver Intensität« ergreifen (Joas 2013). Und man könnte durchaus den Schluss ziehen: dass zur Kultur der Gegenwart eben jenes Gespür für den Wert der Person zählte, für die Gestalt des Lebens, das uns als eine Totalität in aller Verletzbarkeit begegnet.

Menschenrechte ermöglichen die Erfahrung des Sakralen, die jedoch keineswegs selbstverständlich ist. Der Wert der Person, so wie wir ihn heute verstehen wollen, ist historisch gewachsen und somit als Ergebnis langwieriger Kämpfe um Anerkennung zu betrachten. Er hat somit zugleich einen normativen Geltungsanspruch und eine spezifische Geschichte in seinem Rücken. Er kann philosophisch begründet werden – dann erfährt er eine universalistische Interpretation; er kann darüber hinaus aber auch geschichtlich reflektiert werden – dann wird seine historische Dimension deutlich. Zum Wert der Person zählt insofern die Gewissheit, die sich aus der philosophischen Begründung ergibt; aber ebenso das Fragen nach der historischen Entstehung und somit auch seiner Begrenzung (Joas 2015).

Von dieser Philosophie des Menschenrechts lassen sich auch pädagogische Schlussfolgerungen ziehen, was aufs Ganze gesehen das Interesse der vorliegenden Reflexion zum Ausdruck bringt. Die Überlegungen zielen zuerst auf die Gestalt der Person, die gewissermaßen das Zentrum, die Mitte und den Anker pädagogischer Bemühungen bilden könnte oder sollte. Diese Orientierung an der Person ist nun keineswegs selbstverständlich – und genauer zu definieren. Denn: An wen sollte sich die Pädagogik sonst richten, wen sollte sie adressieren, wenn nicht »Personen«? Doch legt der alltagsweltliche Verstand hier vielleicht falsche Prämissen zugrunde.

Der Wert der Person unterliegt – in gewisser Vergleichbarkeit zur Genealogie der Menschenrechte – einer diffusen Wunsch-Gestalt. Warum hat der Begriff so eine starke Wirkung und worauf gründet er tatsächlich? Vermutungen verweisen uns in die Richtung der Berufsethik der helfenden Professionen. Hier hat die Orientierung an Personen naturgemäß einen guten Klang; sie gehört gewissermaßen zum guten Ton. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Wer von Personen spricht, möchte sich von den Fallstricken der Administration distanzieren. Ihm geht es vermutlich darum, den Anderen nicht als ein Objekt der verwalteten Welt zu behandeln, ihm bürokratische Prozesse aufzubürden, sondern vielleicht eher: ermutigen, stärken, fördern, jemanden empathisch begleiten. Der Unterschied liegt so deutlich vor Augen: Jenseits einer Welt der Objekte und Relationen, der abstrakten Systemprobleme und der kalten Verfahren ist die Beziehung zu Anderen primär und lebensdienlich. Sich unmittelbar, unverstellt und authentisch an Personen zu wenden, darin kommt ein Grundzug zum Ausdruck, der den festen Kern der Berufsethik auszeichnet.

Es handelt sich hier um mehr als ein bloßes Gefühl oder eine beliebige Haltung. Der Wert der Person ist zu verteidigen, gerade weil wir in Zeiten leben, die die erhöhte Verletzbarkeit des Menschen sichtbar werden lassen (Dziabel 2017). Über Vulnerabilität im weitesten Sinne wird viel geschrieben, doch steht in Frage, welcher Weltbezug sich als tragend erweisen kann und worauf sich die ethische Reflexion gründen könnte.

Leben wir demgemäß in einem Zeitalter der erhöhten Verletzbarkeit, wie die zeitgenössische Philosophie dies nahelegt? Allein durch die Tatsache der »Geografien der Verletzbarkeit«, so Marc Crepon stellvertretend, steigt unser Bewusstsein für die allen gemeinsame Verletzbarkeit, die die Menschen »über kulturelle oder religiöse Differenzen hinweg verbindet« (Crepon 2014, S. 271). Die Verwundbarkeit zeigt auf den Spalt inmitten einer globalisierten Welt und somit auf die wechselseitige Abhängigkeit, die mit jeder weiteren Gewalt »vergrößert, ausgeweitet und schließlich universalisiert« (ebd.) werde.

Wer von Personen spricht, hat somit immer mehr als nur das bloße, nackte Leben im Sinn. Die Philosophie des verletzbaren Lebens erzeugt vielmehr einen spezifischen Druck, der überall, auch in der Sphäre der pädagogischen Professionen, spürbar wird. Denn es reicht wohl nicht hin, die Würde des Einzelnen zu betonen, wenn dieser bereits in der Sprache oder durch die geografische Lage ausgesetzt wurde. Hier macht die neuzeitliche Philosophie darauf aufmerksam, dass gegen die vielfältigen Gesichter der Gewalt letztlich nur die »Rückbindung an die Singularität des Opfers hilft« (Kapust 2014, S. 51). Eine Erinnerung an das unverfügbare Maß, an das jede ethische Reflexion gebunden ist.

Indes: Können wir diese Aussagen auf der Höhe der zeitgenössischen Philosophie auf konstruktive pädagogische Ebenen übertragen? Können wir also in gleichem Maße von Unverfügbarkeit und Einzigartigkeit in pädagogischen Sinnzusammenhängen sprechen? Dies soll in den...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-17-044634-7 / 3170446347
ISBN-13 978-3-17-044634-2 / 9783170446342
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