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Stoffwechselpolitik -  Simon Schaupp

Stoffwechselpolitik (eBook)

Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten | Vom kolonialen Dreieckshandel bis zur Care-Krise
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
422 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77934-7 (ISBN)
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Wenn wir die ökologische Krise verstehen wollen, müssen wir die Arbeitswelt verstehen. Denn es ist die Arbeit, durch die Gesellschaften laut Karl Marx ihren Stoffwechsel mit der Natur vollziehen. Arbeitspolitik ist daher für Simon Schaupp stets auch Umweltpolitik - oder »Stoffwechselpolitik«. Dabei spielt die Natur selbst eine aktive Rolle: Je weiter ihre Nutzbarmachung vorangetrieben wird, desto drastischer wirkt sie auf die Arbeitswelt zurück.

Wie produktiv diese Perspektive ist, zeigt der Soziologe an einer Vielzahl historischer Beispiele: Ohne Moskitos sind weder Aufstieg noch Niedergang der Plantagenwirtschaft zu verstehen. Die Durchsetzung der Gewerkschaften wurde unter anderem durch die neuen Machthebel möglich, welche die materiellen Eigenschaften der Steinkohle den Beschäftigten an die Hand gaben. Und auch das Fließband wurde nicht zuletzt deshalb eingeführt, weil sich in frühen Schlachtfabriken infolge von Streiks verwesende Tierkadaver stauten. Soll die Erderwärmung zumindest verlangsamt werden, setzt dies für Schaupp eine Transformation der Arbeitswelt voraus: Wir müssen die Logik der expansiven Nutzbarmachung überwinden und die Autonomie der Natur ernst nehmen.



Simon Schaupp, geboren 1988, ist Oberassistent am Lehrstuhl f&uuml;r Sozialstrukturanalyse der Universit&auml;t Basel. Seine 2021 erschienene Dissertation <em>Technopolitik von unten</em> wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Suhrkamp Verlag gab er zuletzt zusammen mit Tanja Carstensen und Sebastian Sevignani den Band <em>Theorien des digitalen Kapitalismus</em> heraus (stw 2415).

9Einleitung


Es ist noch dunkel, als am frühen Morgen des 1. November 2022 rund hundert Bauarbeiter mit Gewerkschaftsfahnen das Gelände stürmen, auf dem in Aarau das neue Kantonsspital errichtet wird. Sie durchbrechen die Absperrungen, ziehen durch alle Ecken des Areals und fordern die Beschäftigten auf, die Arbeit niederzulegen. Danach fahren sie nach Basel, wo sie auf über tausend weitere Kollegen treffen, von denen viele von ähnlichen Aktionen kommen. Gemeinsam protestieren sie gegen einen Vorstoß der Arbeitgeber, die auf Schweizer Baustellen den Zwölfstundentag und die 58-Stunden-Woche ermöglichen wollen. Die Unternehmen erklären, infolge des Klimawandels habe die Branche zunehmend mit Unsicherheiten zu kämpfen. Insbesondere würden die Projekte immer häufiger durch Extremwetter wie Hitzewellen oder Stürme unterbrochen. Das erfordere eine flexiblere Organisation und vor allem eine Ausweitung der Arbeitszeit an den Tagen, an denen die Baustellen normal betrieben werden können. Der Konflikt dreht sich also darum, wie das Gewerbe auf die Auswirkungen der Erderwärmung reagieren soll. Aus Sicht der Unternehmen sollen die Beschäftigten die Kosten für die Krise tragen, indem sie flexibler und länger arbeiten. Die Beschäftigten wiederum pochen darauf, dass ihnen an Tagen, an denen nicht gearbeitet werden kann, bezahlte Freistellungen zustehen. »Am Schluss geht es um die Frage, wer zahlt den Klimawandel bei uns auf dem Bau: wir oder die Meister«, stellt einer der Demonstrierenden trocken fest.

Solche Konflikte zeigen, dass die Erderwärmung und die breitere ökologische Krise1 immense Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben. Klimaschutzmaßnahmen spielen hier natürlich ebenfalls eine Rolle. Die Umstellung auf erneuerbare Energien beispielsweise bedeutet zunächst eine Deindustrialisierung: Arbeitsplätze in fossilen 10Branchen wie der Kohleförderung und der herkömmlichen Automobilindustrie sollen aufgegeben und durch neue Jobs in Bereichen wie Elektromobilität oder im Dienstleistungssektor ersetzt werden.

Andersherum ist die Arbeitswelt eine der wichtigsten Ursachen der ökologischen Krise. So sind etwa die sechs Schweizer Zementwerke für über fünf Prozent der nationalen CO2-Emissionen verantwortlich. Weltweit verursacht die Zementproduktion mehr CO2 als der Flugverkehr. In Deutschland entstehen zwei Drittel aller Emissionen in der Arbeitswelt. Aber auch die privat konsumierten Güter und Dienstleistungen, die das letzte Drittel ausmachen, müssen zuvor – durch Arbeit – hergestellt werden.

Über die weithin bekannten umweltschädlichen Auswirkungen der modernen Arbeitswelt hinaus ist das, was wir als »Natur« bezeichnen, wesentlich Produkt unserer Arbeit. Das gilt nicht nur für symmetrisch bepflanzte Parks, sondern auch für fast alle Wälder und Wiesen, die durch land- und forstwirtschaftliche Eingriffe gestaltet und erhalten werden. Es gilt für die Ozeane und ihre Ökosysteme, die wir durch Fischerei, Abfallentsorgung und viele andere Prozesse in ihrer Zusammensetzung radikal verändert haben. Es gilt für all die Pflanzen und Tiere, deren Evolution wir durch Zucht der Verwertbarkeit angepasst oder deren Existenzbedingungen wir durch unsere Arbeit zerstört haben.

In diesem Sinne können wir von ökologischer Arbeit sprechen. Damit ist freilich keine »nachhaltige« Form der Arbeit gemeint, sondern ihr inhärenter Naturbezug und damit ihre umweltpolitische Zentralität. Bei vielen Tätigkeiten geht es unmittelbar um eine Transformation von Natur – nicht nur in der Landwirtschaft, sondern überall da, wo natürliche Rohstoffe verbraucht oder umgewandelt werden. Auch die Arbeit mit Menschen, etwa im Gesundheits- oder Bildungssystem, kann als eine Transformation des menschlichen Körpers und Geistes und damit im weiteren Sinne als eine Transformation von Natur verstanden werden. Sogar die scheinbar »immateriellen« Formen der digitalisierten Büroarbeit sind auf Naturstoffe 11angewiesen, wie jüngst der Mangel an Halbleitern deutlich machte. Und schließlich können alle Menschen ihr Überleben nur mit natürlichen Ressourcen sichern. Beschäftigte greifen mit ihrem Einkommen auf diese Ressourcen zu, etwa beim Kauf von Lebensmitteln. Die Güter und Dienstleistungen, die in den Arbeitsprozess einfließen, verursachen ebenfalls Abfälle oder Emissionen, sowohl bei der Produktion als auch beim Verbrauch. Während ein Teil davon erneut in den Kreislauf von Produktion und Konsum eingespeist wird, wirkt der Rest als »Umweltverschmutzung« auf die Natur zurück. Das löst wiederum unintendierte Folgen aus, die dann Einfluss auf die Arbeitswelt haben. Besonders drastisch zeigt sich dies etwa, wenn die Coronapandemie die Weltwirtschaft lahmlegt oder wenn die Klimakrise kontinuierlich die biophysikalische Ebene der Produktion unterminiert. Arbeit kann dabei mit Karl Marx verstanden werden als der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Natur.2 Arbeit und Natur stehen in einem Verhältnis unauflöslicher Wechselwirkungen zueinander. Damit wird die Arbeit zu einem zentralen Ort für die Entstehung der ökologischen Krise – und möglicherweise auch für ihre Überwindung.

Das ist ein im doppelten Wortsinne unmoderner Zugang zur ökologischen Krise. Natur gilt im modernen Denken als das Gegenteil von Arbeit. Natur, das ist unberührte grüne Landschaft. Natur ist dort, wo nichts gebaut wurde. Natur ist, wo wir hingehen, um uns von unserer Arbeit zu erholen.3 Im zweiten Sinne unmodern ist der Zugang, weil er die Ursachen der ökologischen Krise nicht in der Sphäre des Konsums verortet, über die wir bei diesem Thema meist sprechen: Wir reden über die Abholzung von Regenwäldern infolge unserer Vorliebe für Fleisch oder für Süßigkeiten auf der Basis von Palmöl. Wir reden über die Umweltsiegel der Produkte in Bio- und Eine-Welt-Läden. Wir reden über die CO2-Emissionen unserer Autos und unserer Flüge. Auch die populären Metriken spiegeln die Gleichsetzung von Umweltzerstörung und Konsum wider: Der »ökologische Fußabdruck« rechnet jede Form der Umweltzerstö12rung in individuelle Konsumakte um. Für jede Flächenversiegelung, jeden gerodeten Baum und jede Tonne CO2 können mittels dieser Darstellung bestimmte Konsumentinnen verantwortlich gemacht werden.

Das hat entscheidende Vorteile, zeigen diese Metriken doch sehr anschaulich auf, wie ungleich die Verantwortung für die Umweltzerstörung ausfällt. Dem »ökologischen Fußabdruck« etwa liegt die Maßeinheit des »globalen Hektars« zugrunde. Ausgangspunkt ist die natürliche Biokapazität der Erde, also ihre Fähigkeit, biologisch nutzbringendes Material hervorzubringen und von Menschen produzierten Abfall aufzunehmen. Diese Kapazität umfasst Produktionsflächen wie Acker- und Weideland, Fischgründe, bebautes Terrain, aber auch Wälder oder Moore, die CO2-Emissionen binden. In Deutschland liegt der durchschnittliche Flächenverbrauch pro Kopf bei knapp fünf globalen Hektar, in Eritrea bei 0,4. Würden alle Menschen so leben wie die Deutschen, bräuchten wir drei Erden. Berechnungen auf Grundlage des CO2-Fußabdrucks zeigen, dass die zehn reichsten Prozent der Weltbevölkerung für die Hälfte der Emissionen verantwortlich sind. Solche Zahlen relativieren die Ansicht, dass »die Menschheit« die ökologische Krise verschuldet hat, und unterstreichen, dass sich die Verantwortung auf eine vergleichsweise kleine Gruppe konzentriert. Die Berechnungen machen außerdem sichtbar, dass ein kleiner ökologischer Fußabdruck nur wenig mit dem zu tun hat, was wir uns üblicherweise unter einem nachhaltigen Lebensstil vorstellen. So würde uns der Lebenswandel einer Person, die sich kein Auto leisten kann und sich mit anderen eine kleine Wohnung teilt, nicht unbedingt als besonders nachhaltig auffallen. Dabei sind es genau diese Faktoren – und nicht etwa der Kauf biozertifizierter Kleidung –, die den Abdruck klein halten.

Allerdings verstellt die enge Verknüpfung von Umweltzerstörung und Konsum auch den Blick auf einige überaus wichtige Aspekte. Tatsächlich stammt der Großteil des Treibhausgas-Ausstoßes nicht von Privathaushalten, sondern von Unternehmen – und zwar von 13überraschend wenigen: 100 Unternehmen sind für 71 Prozent der Emissionen seit 1988 verantwortlich.4 In Bezug auf Einzelpersonen hat der französische Ökonom Lucas Chancel herausgearbeitet, dass 70 Prozent der Emissionen des reichsten Prozents der Menschheit...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Anthropozän • Arbeitsbedingungen • Arbeitskampf • Ausbeutung • Bruno Latour • Elizabeth Kolbert • Industrialisierung • Karl Marx • Klimawandel • kohei saito • Natur • Plantagen • post growth • Sklaverei • Streik • Umwelt • Wertschöpfung
ISBN-10 3-518-77934-6 / 3518779346
ISBN-13 978-3-518-77934-7 / 9783518779347
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