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Unter Verrückten sagt man du -  Lea De Gregorio

Unter Verrückten sagt man du (eBook)

Eine dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77905-7 (ISBN)
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»Dieses klare und schöne Buch zeigt: Ohne das Verrücktsein wäre unsere Welt ein schlechterer Ort.« Julia von Heinz

An einer Umbruchstelle im Leben wird Lea De Gregorio verrückt. Zu viele Gedanken drehen frei in ihrem Kopf, zu viele Fragen rasen ihr durchs Herz, der Schlaf bleibt aus. Und es folgt, was hierzulande nun mal vorgesehen ist: die Behandlung in der Psychiatrie. Doch geht der Heilung die Entmündigung voraus. Hier bestimmen, entscheiden, sprechen andere für sie. Muss sie sich dieser althergebrachten Ordnung tatsächlich fügen, damit alles besser wird? Oder sie erst recht in Frage stellen? Eine Suche nach grundlegenden Antworten beginnt, sie führt sie an tabuisierte Orte der Geschichte, in unsere Sprache, die Philosophie und schließlich in den Kampf. Gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Verrückten, einer viel zu lange übersehenen Minderheit.

Lea De Gregorio entlarvt die tradierten Ungerechtigkeiten in unserem Denken, Fühlen, Handeln. Unter Verrückten sagt man du leistet dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik. In einer Sprache, die so klar und so klug und so zärtlich ist, dass sie den Blick auf unser Zusammenleben substanziell zu verändern vermag.



Lea De Gregorio wurde 1992 in Hessen geboren. Sie studierte Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaft und schloss einen Master in Europäischer Ethnologie und einen zweiten in Philosophie ab. Sie volontierte beim <em>Amnesty Journal</em>, wo sie später als Redakteurin für Gesellschaftsthemen zuständig war. Bereits während des Studiums begann De Gregorio für überregionale deutsche Zeitungen zu schreiben. Heute arbeitet sie als freie Journalistin u. a. für <em>DIE ZEIT</em>, <em>Deutschlandfunk Kultur</em> und die <em>taz</em>. Sie lebt in Berlin.

1

Mein Großvater,
der Verrückte im Dorf


Wie wir im Alltag über Wahnsinn sprechen

Sprache legt uns fest, sie fängt uns auf oder lässt uns fallen wie ein Netz mit Maschen, die für manche enger und für manche gröber sind. Sie spinnt ihr Netz durch Vergleiche, Verbindungen, Metaphern und bringt darin zusammen, was sich ähnelt, aber auch, was sich völlig fernliegt.

~

Ärzt:innen gehen davon aus, dass Gene zu einem großen Teil schuld seien an den Verrückungen, darum werde ich ganz von vorne beginnen und einen großen Schritt zurückgehen, weg aus Berlin, weit hinter meinen ersten verrückten Zustand. Ich werde von einem Verrückten in meiner eigenen Familie erzählen, oder sagen wir von einem Verrückten, bei dem ich davon ausgehe, dass er ein Verrückter war. Ich werde über Hessen und das Dorf schreiben, in dem ich aufgewachsen bin und wo das Thema diskriminierungssensible Sprache, um die es in diesem Kapitel noch gehen wird, und auch andere Prozesse, die mit Antidiskriminierung und Vergangenheitsbewältigung zusammenhängen, vielleicht länger brauchen als in den Städten.

Erst vor kurzem hörte ich dort noch, wie eine Frau, ohne Irritationen hervorzurufen, sagte, dass sie »bis zur Vergasung« dies und jenes gemacht habe, um zu beschreiben, dass sie sich bei etwas sehr angestrengt hatte. In meiner Kindheit in den 1990er Jahren habe ich dort gelernt, dass man zu einer bestimmten Sorte Feuerwerkskörper »Juddeferz« sage. Vielleicht aber ist die Annahme, dass Menschen auf dem Land rückständiger seien als im Urbanen, auch ein Vorurteil, vielleicht zeigen sich dort die Überreste der NS-Zeit einfach anders. Und zwar bis heute. In der Stadt Hanau, die auch in Hessen liegt, haben sie sich 2020 nicht bloß in Worten, sondern in einem rassistischen Anschlag eines Rechtsextremen ausgedrückt, der neun Menschen sowie seine Mutter ermordet hat. Und auch die NSU-Morde wurden in deutschen Großstädten verübt, zwei davon ebenfalls mit Bezug zu Hessen. Aber das gehört zu einem zwar in Teilen verwandten, aber anderen Thema. Die Tatsache, dass die Gene mit verantwortlich seien an »psychischen Störungen« jedenfalls, bringt mich immer wieder zu der Auseinandersetzung mit meinem Großvater, dem Verrückten im Dorf.

Das hessische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin und in dem mein Großvater fast sein ganzes Leben verbracht hat, ist bis heute ein bäuerlich geprägtes, auch wenn dort kaum noch aktive Bauernhöfe stehen. Es ist ein schönes Dorf mit Fachwerkhäusern, die etwas Romantisches haben. Man könnte sagen, es ist pittoresk. In dem Dorf leben etwa 2 ‌500 Einwohner:innen, außerdem gibt es Storchennester und eine schnuckelige kleine Kirche. Ich mag den Blick über die Felder. Da ist ein Feld mit einem einzigen Nussbaum in der Mitte. Ich liebe diesen Baum, es ist mein Lieblingsbaum. Als Kind mochte ich so gern den kleinen Bach, der an unserem Garten verläuft. Ich soll auch etwas Schönes über das Dorf schreiben, sagt meine Mutter, darum schreibe ich das, und es ist dort wirklich ganz schön.

Wenn meine Mutter hört, dass ich über meinen Großvater als den »Verrückten im Dorf« schreibe, beschwert sie sich. Sie sagt, das würde zwar stimmen, aber ich könne das so eigentlich nicht sagen, weil es nicht alles sei, weil es nicht sicher ist, schließlich habe mein Großvater keine Diagnose gehabt, und weil es nicht das sei, was meinen Opa charakterisiert. Dass es nicht sicher ist, dass er verrückt war, sei doch gerade der springende Punkt, sage ich, und wegen der Gene sei es für das Buch doch wichtig, das zu schreiben. Nein, sagt sie: Die Verrückungen, von denen man nicht mal wisse, ob es welche waren, und auch der Suff, all das sei eine Nebensache gewesen.

Mein Großvater, erzählt meine Mutter dann nicht ohne Stolz, war in seiner Kindheit einer der wenigen im Dorf, die auf ein Gymnasium gingen. Er lief dazu mit einer Ledertasche in der Hand zum Zug und fuhr in die nächstgrößere Stadt. Denn in dem Dorf und in den Nachbardörfern und kleinen Städten rundherum gab es kein Gymnasium. Später hat er in Kassel Kunst studiert und Soziologie im Nebenfach, manchmal ist er nach Frankfurt gefahren und hat sich in den 1950er Jahren Vorlesungen von Theodor W. Adorno angehört, der 1949 aus dem Exil in den USA nach Deutschland zurückgekehrt war. Ende der 50er haben Studierende aller möglichen Fächer in Frankfurt den Vorlesungssaal gestürmt, um sich Adornos berühmte Vorlesungen anzuhören – über die negative Dialektik und seine Kritik an der »verwalteten Welt«, der spätkapitalistischen, neofaschistischen. Frankfurt war neben West-Berlin das intellektuelle Zentrum in der Bundesrepublik – vor allem wegen der dort gelehrten Kritischen Theorie. Es war eine Zeit, in der das Erbe des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft ansonsten lieber verdrängt wurde. Auch die Morde an Menschen mit den Diagnosen »Schizophrenie« oder »manisch-depressivem Irrsein« (heute »bipolare Störung«) und die Zwangssterilisationen arbeitete damals noch kaum jemand auf.

Im Dorf jedenfalls, sagt meine Mutter, sei mein Großvater wegen seiner Bildung bewundert worden. Er hat als Lehrer gearbeitet, als Oberstudienrat. Und er sei »seiner Zeit voraus« gewesen, weil er schon Hippie gewesen sei, bevor es Hippies gab, sagt sie. Mein Großvater hat tolle Kunst gemacht, von der leider nie irgendwer etwas mitbekam, er lebte sehr zurückgezogen. Aber eines seiner Bilder hängt bei mir an der Wand, seit ich von zuhause ausgezogen bin, in jeder Wohnung, die ich seither bewohnt habe. Ich bin bis heute fasziniert von ihm. Auch wenn mir anderes, wovon meine Mutter mir erzählt hat, Angst macht.

Ich denke, dass ich ihm tatsächlich in gewisser Weise nachgeeifert bzw. etwas mit ihm gemeinsam habe – in dem Dorf würde man dazu vielleicht auch sagen, das sei »vererbt«: Wahrscheinlich bin ich auch seinetwegen nach dem Abitur nach Indien gereist, um dort sogenannte Entwicklungszusammenarbeit zu leisten, denn er ist dort selbst oft gewesen. Und meine Studienfachwahl hatte vielleicht ebenso etwas mit ihm zu tun. Mein Großvater, der starb, als ich dreizehn war, interessierte sich als Einziger aus meiner Familie ähnlich stark wie ich für Geisteswissenschaften, nicht nur für Soziologie und Philosophie, sondern auch für Ethnologie.

Genetische Voraussagen


Egal ob Interessen, Charaktereigenschaften oder eben auch die Disposition für das, was man psychische Krankheit nennt: Wir fragen uns im Alltag immer wieder, was davon in den Genen liegt, diesem scheinbar übermächtigen Gewirr an Strängen, die unser Leben prägen und bestimmen sollen. Manche glauben etwas weniger, manche etwas mehr.

Noch heute gehen »Professionelle«1 davon aus, dass die »Veranlagung« zu einer sogenannten bipolaren Störung oder Schizophrenie vererbbar sei, es aber auf äußere Faktoren ankomme, ob sie sich »manifestiert«. Wissenschaftler:innen vermuten, dass Bipolarität und Schizophrenie auf gemeinsamen »Risikogenen«2 liegen. Man spricht nicht mehr von »Erbkrankheiten«, sondern davon, dass sie unter bestimmten Umwelteinflüssen entstehen können. Auch wenn bis heute noch nicht geklärt ist, wie sich diese »Störung« genau vererbt, ist die Vorstellung der Vererbung »psychischer Störungen« fest in unserem Alltagsverständnis verankert, findet sie sich als Hypothese auf diversen Internetseiten von »Professionellen« und spielt auch in klinischen Aufnahmegesprächen eine zentrale Rolle. Manche »Professionelle« äußern sich dazu differenzierter bis skeptisch. Der Neurowissenschaftler Felix Hasler schreibt: »Es gibt nicht das Gen3 und auch nicht das Zusammenspiel einiger weniger Gene, die mit einer Schizophrenie-Erkrankung in Verbindung zu bringen sind. […] Was man hingegen findet, ist eine Vielzahl von schwachen, aber statistisch signifikanten korrelativen Zusammenhängen zwischen häufig auftretenden Genvariationen, die auch bei ganz anderen Merkmalen (ob gesund oder pathologisch) vorkommen.«

Es wäre bei all den Dingen, von denen wir meinen, dass sie vielleicht vererbbar sind, allerdings abwegig, wenn wir die Vererbung nicht auch als mögliche Ursache für Verrückungen in Betracht ziehen...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2024
Reihe/Serie suhrkamp nova
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aktivismus • Antidepressiva • Antipsychotika • Depression • Diskriminierung • Euthanasie • Gesellschaftskritik • Halluzinationen • Klinikaufenthalt • Lea Diehl • Machtverhältnisse • Memoir • Mental Health • Psychiatrie • Psychische Erkrankung • Psychische Krankheit • Psychose • Psychotherapie • Realitätsverlust • Schizophrenie • ST 5430 • ST5430 • Stigma • suhrkamp taschenbuch 5430 • Verrückung • Volkskrankheit • Wahnvorstellungen
ISBN-10 3-518-77905-2 / 3518779052
ISBN-13 978-3-518-77905-7 / 9783518779057
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