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Moral und Politik (eBook)

Gedanken zu einer gerechten Gesellschaft
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491940-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Moral und Politik -  Michael J. Sandel
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Der Philosoph Michael Sandel setzt sich in diesem Buch mit den zentralen moralischen und politischen Themen unserer Zeit auseinander: Er beleuchtet Sterbehilfe und Abtreibung, Homosexuellenrechte wie Stammzellenforschung, »Affirmative Action« sowie die Kluft zwischen Arm und Reich, die Rolle der Märkte und den Platz der Religion im öffentlichen Leben. Inwieweit kann Moral Einfluss auf die Politik nehmen? In seinen wegweisenden Essays argumentiert Michael Sandel für eine gerechte, moralische Gesellschaft und für ein staatsbürgerliches Freiheitsverständnis, das es Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, eigene Wertvorstellungen in die Gemeinschaft einzubringen. »Ein Buch zur Orientierung in schwieriger Zeit.« Morgenpost am Sonntag

Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt.

Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. »Was man für Geld nicht kaufen kann« wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt. Helmut Reuter, geboren 1946, arbeitet seit 1995 als freier Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Neben den Werken Michael J. Sandels hat er u.a. Bücher von John Hands, Lawrence M. Krauss oder Niall Ferguson übersetzt. Er lebt in der Nähe von München.

Marktdenken als moralisches Denken: Warum Ökonomen sich erneut auf politische Philosophie einlassen sollten


Es gibt einiges, was man für Geld nicht kaufen kann – zum Beispiel Freundschaft. Wollte ich mehr Freunde haben, würde der Versuch, welche käuflich zu erwerben, eindeutig scheitern. Ein angeheuerter Freund ist nicht dasselbe wie ein echter Freund. Mit dem Geld, das die Freundschaft erkauft, löst sich das Gut, das ich zu erwerben wünsche, gleichsam auf.

Doch die meisten Güter gehören nicht zu dieser Kategorie. Nehmen wir das Beispiel Nieren. Durch einen Kauf werden sie nicht zerstört. Manche Menschen befürworten einen Markt für menschliche Organe, andere sind dagegen. Doch diejenigen, die sich gegen einen Handel mit Nieren aussprechen, können nicht behaupten, dass ein Nieren-Markt das erstrebte Gut zerstören würde. Eine gekaufte Niere erfüllt ihre Aufgabe, wenn die passenden Voraussetzungen gegeben sind. Einwände gegen einen Handel mit menschlichen Organen müssten daher anderer Natur sein. Nieren lassen sich mit Geld kaufen (der Schwarzmarkt belegt dies); die Frage lautet, ob man das erlauben sollte.

In meinem Buch Was man für Geld nicht kaufen kann versuche ich zu zeigen, dass Marktwert und Marktdenken zunehmend in Lebensbereiche vordringen, die zuvor von Normen beherrscht wurden, die nicht der Marktlogik folgen.[1] Fortpflanzung und Kinderbetreuung, Gesundheit und Erziehung, Sport und Freizeit, Strafjustiz, Umweltschutz, Militärdienst, Wahlkämpfe, öffentliche Bereiche und Gemeindeleben: Überall spielen Geld und Märkte eine immer größere Rolle.

Ich halte diese Tendenz für beunruhigend. Wenn man jeder menschlichen Tätigkeit einen Preis zuweist, zersetzt man bestimmte moralische und staatsbürgerliche Werte, um die man sich sorgen sollte. Aus diesem Grund brauchen wir eine öffentliche Debatte über die Frage, wo Märkte dem Gemeinwohl dienen und wo sie nicht hingehören.

Hier möchte ich ein ähnliches Thema behandeln: Wenn es darum geht, zu entscheiden, ob dieses oder jenes Gut nach Marktprinzipien verteilt werden soll oder aber nach Grundsätzen, die nicht vom Markt bestimmt werden, dann erweist sich die Wirtschaftswissenschaft als schlechter Ratgeber. Auf den ersten Blick mag das merkwürdig erscheinen, denn ein zentrales Thema der Volkswirtschaftslehre ist es, die Mechanismen des Marktes zu erklären. Wieso also ist es der Wirtschaftslehre nicht gelungen, eine überzeugende Grundlage für die Entscheidung zu liefern, was verkäuflich sein soll und was nicht?

Der Grund dafür liegt darin, dass sich die Wirtschaftslehre als wertneutrale Wissenschaft am menschlichen Verhalten sowie an gesellschaftlichen Entscheidungen orientiert. Ich werde versuchen zu zeigen, dass die Entscheidung darüber, welche gesellschaftlichen Praktiken tatsächlich von Marktmechanismen gesteuert werden sollten, eine Form des ökonomischen Denkens erfordert, die eng mit moralischen Überlegungen verknüpft ist.

Allerdings behauptet der Mainstream des ökonomischen Denkens, vom umstrittenen Terrain der Politischen Philosophie und der Moralphilosophie unabhängig zu sein. Wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher betonen die Unterscheidung zwischen »positiven« und normativen Fragen, zwischen Erklären und Vorschreiben. Das populäre Buch Freakonomics formuliert den Unterschied ganz einfach: »Moral repräsentiert die Art und Weise, wie die Welt (…) funktionieren sollte – während die Ökonomie uns zeigt, wie sie tatsächlich funktioniert.« Die Ökonomie befasse sich einfach nicht mit Moral.[2]

Moralische Verstrickungen


Die Ökonomen haben ihren Gegenstand nicht immer in dieser Weise verstanden. Seit Adam Smith haben die klassischen Ökonomen die Wirtschaftslehre als Zweig der Moralphilosophie und der politischen Philosophie konzipiert. Doch die Art der Wirtschaftswissenschaft, die heute in der Regel gelehrt wird, präsentiert sich als eine autonome Disziplin, die nicht darüber urteilt, wie Einkommen zu verteilen oder dieses oder jenes Gut zu bewerten seien. Die Vorstellung, dass die Wirtschaftswissenschaft eine wertfreie Disziplin sei, war schon immer fragwürdig. Doch je mehr die Märkte ihren Zugriff auf nichtökonomische Lebensbereiche ausdehnen, desto stärker verstricken sie sich in moralische Fragen.

Ich schreibe hier selbstverständlich nicht über die normalen lehrbuchmäßigen Grenzen der Märkte. Ein beträchtlicher Teil der ökonomischen Analyse befasst sich mit dem Aufspüren von Fällen des »Marktversagens« oder von Situationen, in denen die Marktkräfte ohne Unterstützung wahrscheinlich kein effizientes Ergebnis liefern würden, etwa bei Märkten mit unzureichendem Wettbewerb, negativen oder positiven externen Effekten, öffentlichen Gütern, unvollständigen Informationen und dergleichen. Ein weiterer Teil der ökonomischen Literatur behandelt Fragen der Ungleichheit, neigt dabei jedoch dazu, Ursachen und Folgen der Ungleichheit zu analysieren und gleichzeitig zu behaupten, nicht an normative Fragen der Fairness und der Verteilungsgerechtigkeit zu glauben. Die Auslagerung von Urteilen über Gleichheit und Gerechtigkeit ins Feld der Philosophen scheint die Unterscheidung zwischen positiven und normativen Fragen zu festigen.

Diese intellektuelle Arbeitsteilung führt jedoch aus zwei Gründen in die Irre. Erstens »ist die Ökonomie eine moralische Wissenschaft«, wie Atkinson angemerkt hat, auch wenn oft das Gegenteil beteuert wird.[3] Effizienz spielt nur insofern eine Rolle, als sie dazu führt, dass es der Gesellschaft besser geht. Doch was gilt hier als besser? Die Antwort hängt von einigen Vorstellungen zum Gemeinwohl oder zu den öffentlichen Gütern ab. Obwohl »die Wohlfahrtsökonomie« in den letzten Jahrzehnten weitgehend aus der Mainstream-Ökonomie »verschwunden ist«, schreibt Atkinson, »haben die Ökonomen nicht aufgehört, Aussagen zur Wohlfahrt zu machen«. Artikel in Wirtschaftszeitschriften »sind voll mit Aussagen zur Wohlfahrt« und kommen, wie er feststellt, zu »eindeutigen normativen Schlüssen«, obwohl die dahinterstehenden Grundsätze weitgehend ungeprüft bleiben. Zumeist beruhen die Schlussfolgerungen auf utilitaristischen Annahmen. Doch wie Rawls und andere Philosophen dargelegt haben, strebt der Utilitarismus danach, den Wohlstand zu maximieren, ohne dessen Verteilung in Betracht zu ziehen. Atkinson fordert eine Wiederbelebung der Wohlfahrtsökonomie, die die Mängel des Utilitarismus anerkennt und eine größere Spanne von Verteilungsgrundsätzen einbezieht.

Es lässt sich noch aus einem weiteren Grund bezweifeln, dass die Wirtschaftswissenschaft eine wertfreie Wissenschaft der gesellschaftlichen Entscheidungen sein kann. Dieser Grund weist über Debatten zur Verteilungsgerechtigkeit hinaus auf Debatten zur Verwandlung aller Dinge in ein Handelsgut. Sollte Sex käuflich sein? Was ist mit Leihmutterschaft oder Schwangerschaft gegen Bezahlung? Sind Söldnerarmeen falsch, und falls ja, wie sollte stattdessen der Wehrdienst zugewiesen werden? Sollten Universitäten eine bestimmte Anzahl an Studienplätzen verkaufen, um Geld für sinnvolle Zwecke aufzutreiben, etwa für eine neue Bibliothek oder Stipendien für begabte Studenten aus benachteiligten Familien? Sollten die USA das Recht auf Einwanderung verkaufen? Was wäre, wenn amerikanische Staatsbürger das Recht bekämen, ihre Staatsbürgerschaft an Ausländer zu verkaufen und mit ihnen den Platz zu tauschen? Sollten wir einen freien Markt für die Adoption von Babys erlauben? Sollte es den Leuten gestattet werden, ihre Wählerstimme zu verkaufen?

Manche dieser umstrittenen Nutzungsmöglichkeiten von Märkten würden die Effizienz erhöhen, weil sie wechselseitig vorteilhafte Tauschoptionen schüfen. In manchen Fällen könnten negative externe Faktoren die Vorteile für Käufer und Verkäufer ausgleichen. Doch selbst bei fehlenden externen Faktoren gibt es Markttransaktionen, die aus moralischen Gründen bedenklich sind.

Einer dieser Gründe ist, dass schwerwiegende Ungleichheit den freiwilligen Charakter eines Tauschvorgangs untergraben kann. Wenn ein hoffnungslos verarmter Bauer eine Niere oder ein Kind verkauft, könnte die Verkaufsentscheidung letztlich von den Notwendigkeiten seiner Lage erzwungen sein. Ein vertrautes Argument zugunsten der Märkte – dass die Parteien den Bedingungen des Handels ohne Zwang zustimmen – wird durch ungleiche Verhandlungspositionen in Frage gestellt. Wenn wir wissen wollen, ob eine Marktentscheidung frei erfolgt, müssen wir fragen, welche Ungleichheiten in den gesellschaftlichen Hintergrundsbedingungen eine sinnvolle Übereinkunft schwächen. Das ist eine normative Frage, die von den verschiedenen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit unterschiedlich beantwortet wird.

Ein zweiter Einwand bezieht sich nicht auf Fairness und beeinflusste Zustimmung, sondern auf die Tendenz marktüblicher Praktiken, nicht marktkonforme Werte, die es wert sind, bewahrt zu werden, zu beschädigen oder zu verdrängen. Beispielsweise würden wir zögern, einen Markt für Kinder zu schaffen, weil weniger betuchte Eltern durch einen solchen Handel aus dem Markt gedrängt würden oder für sie nur die billigsten, am wenigsten erwünschten Kinder übrigblieben (das Fairness-Argument). Doch wir könnten auch deswegen gegen einen solchen Markt sein, weil Kinder, denen man ein Preisschild anheftet, zu Objekten gemacht werden – man missachtet ihre Würde und zersetzt die Norm der bedingungslosen Elternliebe (das...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Übersetzer Helmut Reuter
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abtreibung • Demokratie • Ethik • gesellschaftliche Streitpunkte • Harvard • Kapitalismus • LGBTIQ+ Rechte Schwule Lesben Transgender Bisexuelle Homosexualität • Neoliberalismus • staatbürgerlicher Freiheitsbegriff • Stammzellenforschung • Sterbehilfe • Wertevorstellungen
ISBN-10 3-10-491940-2 / 3104919402
ISBN-13 978-3-10-491940-9 / 9783104919409
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