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Nicht mehr normal (eBook)

Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs
eBook Download: EPUB
2022
160 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27549-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nicht mehr normal - Stephan Lessenich
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Wie geht eine Gesellschaft damit um, dass nichts mehr normal ist? Der Soziologe Stephan Lessenich zeigt, wie die Überwindung einer überholten Normalität gelingen kann.
Die Welt befindet sich im permanenten Ausnahmezustand. Nach der Finanzkrise, der Migrationskrise, der Klimakrise hat die Coronakrise den Alltag jedes Einzelnen erfasst. Und dann gibt es auch noch Krieg in Europa. Es wird immer deutlicher, dass die bewährte Normalität, nach der wir uns sehnen, nicht mehr zurückkehren wird. Stattdessen herrscht allgemeine Verunsicherung. Mit klarem Blick analysiert Stephan Lessenich die Reaktion unserer Gesellschaft auf ihre Krisen und denkt über die Fragen nach, die uns alle umtreiben. Wenn die alte Normalität nicht mehr trägt und auch nicht mehr zu ertragen ist: Was tritt dann an ihre Stelle? Und welche Dynamiken setzen ein, wenn gesellschaftliche Mehrheiten sich an Gewissheiten klammern, die immer drängender in Frage gestellt werden?

Stephan Lessenich, 1965 in Stuttgart geboren, ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und Direktor des Instituts für Sozialforschung. Bei Hanser Berlin erschien von ihm zuletzt 'Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis' (2016). 

Kapitel 1


Der Wille zur Normalität

Was heißt hier eigentlich »normal«?


Das ist doch nicht mehr normal: Im alltäglichen Sprachgebrauch stellt die Anrufung von vermeintlicher »Normalität« eine immer wieder und wie selbstverständlich in Anspruch genommene Ein- und Ausgrenzungskategorie dar. Mit der Zuordnung eines Phänomens oder Problems zur Sphäre wahlweise des Normalen oder aber nicht (mehr) Normalen wird nicht nur eine — gewissermaßen harmlose — Unterscheidung zweier Welten vorgenommen. Vielmehr steckt in der Trennung des einen vom anderen zugleich immer auch ein Urteil über den Charakter beider Welten: Hier die des Gängigen, Geläufigen, Gewohnten — dort die des von all dem Abweichenden. Die beurteilende Scheidung des Gewöhnlichen vom Außergewöhnlichen zieht Grenzen der sozialen Akzeptanz oder, mehr noch, solche der Akzeptierbarkeit: Was auf der Seite des Normalen verortet wird, wird gebilligt oder ist zumindest hinzunehmen; auf der anderen Seite der Unterscheidung hingegen, jener des Anormalen, findet sich all das wieder, was den Urteilenden als unangemessen und inakzeptabel gilt.

Die Rede vom »nicht mehr« Normalen zeigt allerdings gleichzeitig an, dass in Fragen von Normalität keineswegs nur eindeutige, binäre Unterscheidungen gängig sind: so oder so, 1 oder 0, ganz oder gar nicht. Die soziale Konstruktion von Normalität bewegt sich vielmehr in Grauzonen, in den uneindeutigen Zwischenwelten des noch oder aber schon nicht mehr als normal gelten Könnenden. Beispiele hierfür — und für die damit verbundene Verschiebung von Normalitätsstandards über die Zeit — finden sich im gesellschaftlichen Leben zuhauf. Über eine lange Zeit hinweg galt etwa die Konstruktion der biologisch-sozialen Einheit von Vater-Mutter-Kind als »Normalfamilie«, ja als Familie schlechthin, wohingegen andere, von diesem Modell abweichende Formen der intimen Vergemeinschaftung gar nicht erst den Familienstatus für sich reklamieren konnten.

Bekanntermaßen haben sich die Normalitätsstandards in diesem Feld zuletzt deutlich verschoben, als Familie sind mittlerweile auch verschiedenste alternative Sozialkonstellationen akzeptiert, von dem aus aufgelösten Vorgängerbeziehungen neu zusammengestellten Patchwork-Haushalt bis zur adoptionsrechtlich- oder reproduktionstechnisch erweiterten gleichgeschlechtlichen Paarbeziehung. Allerdings verweist gerade dieses Feld auch auf die Trägheit von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen: Ganz normal ist es auch heute noch nicht, wenn nebenan Felix und Tobias mit ihrem kleinen Töchterchen wohnen. Und bei Kaffee und Kuchen ist es eben doch immer noch der Rede wert, wenn Scheidungskinder sechs oder mehr Personen als Opa und Oma bezeichnen können. Bei aller rechtlichen Liberalisierung und sozialen Diversifizierung: normal ist etwas anderes, nach wie vor.

Ganz ähnlich verhält es sich im Feld der Integration — selbst eine der zentralen Normalisierungskategorien unserer Zeit — von Migrant:innen. Was hierzulande in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als das Normalste der Welt gilt, nämlich ein stinknormaler Mittelschichtshaushalt (ganz stereotyp vorgestellt: Ehepaar mit Hund und Kindern, bzw. umgekehrt, beide berufstätig, im gepflegten Reihenhaus lebend, er fährt den Mittelklassewagen, sie den kleinen Kompakten), wird umgehend zur Besonderheit, wenn besagter Haushalt zufällig aus Bosnien oder Portugal stammt. Uğur Şahin und Özlem Türeci, das Gründerpaar der Firma BioNTech, werden in der politisch-medialen Öffentlichkeit nicht nur als das gehandelt, was sie eigentlich sind — ganz normale medizinische Unternehmer:innen, die mit einem äußerst marktgängigen Produkt unverhofft ein Vermögen gemacht haben —, sondern auch und vor allem als Vorzeigeintegrierte ausgestellt, die ihren Millionen türkischen oder türkischstämmigen Mitbürger:innen als Vorbild dafür dienen sollen, was in Deutschland normal sein oder wenigstens werden könnte.

Auf besondere Weise aufschlussreich für die soziale Praxis der Konstruktion von Normalität ist eine im Jahr 2016, auf dem Höhepunkt der sogenannten »Flüchtlingskrise«, von dem damaligen CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer öffentlich getätigte Aussage: »Das Schlimmste« für die deutsche Ausländerpolitik sei »ein fußballspielender ministrierender Senegalese« — denn nach drei Jahren im Land »wirst Du [den] nie wieder abschieben«. Interessant an dieser Sentenz ist weniger die offenherzige Enttarnung der offiziellen Integrationsrhetorik durch den skandalumwitterten späteren Bundesverkehrsminister: Abgelehnte Asylbewerber werden nicht geduldet, selbst wenn sie so tun, als seien sie »einer von uns«.1 Bemerkenswert ist aber vor allem die rhetorische Doppelbewegung: Mit nur zwei Worten kann das Bild der jedenfalls in Scheuers niederbayerischen Heimat normalen Lebensführung männlicher Jugendlicher gezeichnet werden — nur um diese idyllisch anmutende Normalitätsvorstellung wiederum durch den Verweis auf ein einziges Merkmal, nämlich das der nicht-deutschen (oder hier wohl maßgeblich: afrikanischen) Herkunft des jungen Mannes, wirkungsvoll zu durchkreuzen. Insofern darf — oder muss — man vermuten, dass aus des CSU-Politikers Mund irgendwie auch Volkes Stimme sprach. Ob integriert oder nicht, ob Asylbewerber, Arbeitsmigrant oder Staatsbürgerin: Schwarze in Deutschland, schwarze Deutsche (ein Oxymoron!) gar — das ist doch nicht mehr normal!?

Die so reformulierte Redewendung, mit Ausrufe- und Fragezeichen versehen, führt zu einer weiteren Dimension der gesellschaftlich gepflegten Normalitätssemantik. Denn der fragende Ausruf ist als Ausdruck von Irritation und Vergewisserungsbedarf zu verstehen, als mehr oder weniger händeringende Suche nach identitärer Bestätigung, zumindest aber nach argumentativer Bestärkung — in diesem Falle all jener, die sich selbst als »normale Deutsche« begreifen. Ganz allgemein aber ist damit eine wesentliche soziale Funktion des Anormalitätsurteils (oder auch nur -verdachts) angesprochen: Hier soll Ungewissheit bearbeitet, Verunsicherung abgebaut werden. Plötzlich begegnen wir Senegalesen, die ministrieren, und Türkinnen, die reüssieren? Auf einmal werden Lesben Mütter und Schwule Gesundheitsminister? Was, bitte schön, soll daran denn normal sein? Wo in Herrgottsnamen leben wir eigentlich?

»Normalität« zwischen Regel und Regelmäßigkeit


Genau: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Diese Frage, die »ganz normale« Leute ganz alltäglich umtreibt, und zwar in aller Regel ohne jeden definitorischen oder gar wissenschaftlichen Anspruch, ist eine — vielleicht sogar die — zentrale Frage der Soziologie. Und jenseits der zahlreich kursierenden, historisch-konkreten Begriffsbestimmungen (»Risikogesellschaft«, »Wissensgesellschaft«, »Externalisierungsgesellschaft« u. v.a. m.) einerseits, unterschiedlicher soziologischer Glaubensbekenntnisse andererseits, wird man ganz generell sagen können: Wir leben in einer Gesellschaft der Regeln und Regelmäßigkeiten, des Normierten und Normalen.

Die beiden damit benannten Dimensionen des Normalitätsbegriffs gilt es hier von Anfang an analytisch auseinanderzuhalten: »Normal« im soziologischen Sinne ist das, was von einem bestehenden Regelsystem als Richtschnur des sozialen Handelns vorgegeben, mithin als Norm gesetzt wird; »normal« ist zugleich aber auch das, was sich in einem sozialen Zusammenhang faktisch als regelmäßige Gestalt des Handelns etabliert hat, sei es nun aufgrund der Wirksamkeit besagten Regelsystems oder aber gerade auch in Opposition zu ihm. Das gesellschaftlich Normale hat folglich immer eine normative und eine empirische Seite: Was die Leute tun sollen ist das eine, was sie tatsächlich tun das andere.

Beides kann durchaus übereinstimmen: Wenn sich die Handelnden an die vorgegebene Norm halten, dann »gilt« diese faktisch erst und bestimmt die Normalität des Handelns, dann haben die z.B. gesetzlich etablierten Regeln tatsächlich eine normative,...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Affektpolitik • Ausnahmezustand • back to normal • Bundesrepublik • Corona • Coronapandemie • Covid • Deutschland • Einwanderungsgesellschaft • Erregung • Finanzkrise • Gesellschaft • Gewissheit • Gewohnheit • Habitus • Identitätspolitik • Klassismus • Klimakrise • Krieg • Krise • Krisenbewältigung • Lebensrealität • Lohnarbeit • Mehrheit • Mentalitäten • migrationskrise • Mittelschicht • Neben uns die Sintflut • Norm • Normal • Normalisierung • Normalität • Pandemie • Politmarketing • postpandemisch • Prekarisierung • Reaktion • Ressentiments • Selbstverständlichkeit • Soziale Gerechtigkeit • Soziale Ordnung • Sozialmilieu • Soziologie • Stabilität • Standard • Status • Ukrainekrieg • Verunsicherung
ISBN-10 3-446-27549-5 / 3446275495
ISBN-13 978-3-446-27549-2 / 9783446275492
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