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Gewässer im Ziplock (eBook)

Roman | Ein mitreißendes Porträt jüdischen Familienlebens heute | Ein Sommer zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
362 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77764-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gewässer im Ziplock -  Dana Vowinckel
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Von großen und kleinen Lügen, Glücksmomenten und Enttäuschungen, von Zuneigung und Schmerz erzählt Dana Vowinckel in ihrem Debütroman. Gewässer im Ziplock ist eine mitreißende Familiengeschichte zwischen jüdischer Tradition und deutschem »Gedächtnistheater«. Eine Geschichte voller Leben und Menschlichkeit.

»Dana Vowinckels Roman ist von tiefer Weisheit, er kennt das Wanken, die Sehnsüchte und Zerrissenheit des Weltenwanderns.« Julia Franck, Autorin von Die Mittagsfrau

Ein Sommer zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem. Wie jedes Jahr verbringt die fünfzehnjährige Margarita ihre Ferien bei den Großeltern in den USA. Viel lieber will sie aber zurück nach Deutschland, zu ihren Freunden und ihrem Vater, der in einer Synagoge die Gebete leitet. Die Mutter hat die beiden verlassen, als Margarita noch in den Kindergarten ging. Höchste Zeit, beschließt der Familienrat, dass sie einander besser kennenlernen. Und so wird Margarita in ein Flugzeug nach Israel gesetzt, wo ihr Vater aufgewachsen ist und ihre Mutter seit Kurzem lebt. Gleich nach der Ankunft geht alles schief, die gemeinsame Reise von Mutter und Tochter durchs Heilige Land reißt alte und neue Wunden auf, Konflikte eskalieren, während der Vater in Berlin seine Rolle überdenkt. Da müssen sie schon wieder die Koffer packen und zurück nach Chicago, wo sich alle um das Krankenbett der Großmutter versammeln und Margarita eine folgenreiche Entscheidung treffen muss.

»Dana Vowinckel soll bitte weiter und immer weiter erzählen. Ich möchte noch hundert Bücher von ihr lesen.« Daniela Dröscher, Autorin von Lügen über meine Mutter



Dana Vowinckel wurde 1996 in Berlin geboren und studierte Linguistik und Literaturwissenschaft in Berlin, Toulouse und Cambridge. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2021 wurde sie f&uuml;r einen Auszug aus <em>Gew&auml;sser im Ziplock</em> mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet. F&uuml;r ihre Erz&auml;hlung <em>In my Jewish Bag</em> erhielt sie beim Wettbewerb &raquo;L&rsquo;Chaim: Schreib zum j&uuml;dischen Leben in Deutschland!&laquo; den ersten Preis. 2023 wurde ihr ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats zugesprochen. Dana Vowinckel lebt in Berlin.

Einmal war er noch für Kiddusch geblieben, ein großes Abendessen nach dem Gebet am Freitagabend. Sie hatten ihn überreden müssen. Er hatte am Kopfende gesessen, der Raum war völlig überfüllt, kaum genug Stühle für alle. Er hatte gesagt, dann wäre es wohl besser, gleich zu gehen, aber sie wollten, dass er blieb und am Kopfende saß, bei den Gabbaim. Sie hatten ihn beobachtet, dabei, wie er beim ersten angebotenen Wodka nickte, danach aber dankend ablehnte, wie er sorgfältig mit dem Plastikmesser und der Plastikgabel das Essen zerschnitt. Er sah ein bisschen zu groß aus für den Stuhl, auf dem er saß.

Es hatte drei Gänge gegeben: Hummus und Salat, dann etwas mit Curry, dann Kuchen, alles vom koscheren Catering. Das Gemüse schien ihm besonders gut zu schmecken, er nahm sich zweimal.

Er hatte höflich gelacht, wenn jemand etwas Lustiges sagte, und Fragen nicht ein-, aber auch nicht vielsilbig beantwortet. Sie wussten nun, er wohnte in Prenzlauer Berg, schon lange in derselben Wohnung, deswegen war sie weiterhin günstig, ja, es war schlimm mit den Mietpreisen in Berlin, er hatte Glück gehabt. Sie fragten ihn, wo er vorher gewohnt habe, und er antwortete Hannover, dabei wussten sie doch um seinen Akzent.

Sie hatten versucht, mit ihm über den Zentralrat zu lästern, aber er hatte anscheinend keine Probleme mit dem Zentralrat.

Von Nahem sah er müde aus.

Er ging noch vor dem Tischgebet, verabschiedete, bedankte sich, nickte nochmal allen zu, wünschte einen friedlichen Schabbes.

Danach waren sie sich einig, dass er spannend war, der Kantor, freundlich, und die schönste Stimme von allen hatte er.

Sie fragten sich, ob er einsam war, dort, wohin er zurückging. Ob dort jemand wartete. Er trug keinen Ring, aber was bedeutete das schon, es trugen weniger Leute Ringe, als es Leute gab, die einsam waren.

*

Am lautesten war es immer direkt vor dem Gebet. Um 19:03 Uhr begann es im Sommer, 18:03 Uhr im Winter, manchmal 19:07 Uhr, 18:07 Uhr. Auf die Minute genau fünf Minuten vor der vollen Stunde trat er durch die Sicherheitsschleuse, die Kerzen mussten noch gezündet werden, das machte eine Frau, die nicht auf die Uhr schauen musste, ob es Zeit war, sie wusste es, sobald er hereinkam. Er nickte dann höflich und trat an die Bima, lauschte den Nachrichten von Kindern, die geboren wurden, von Partnern, die mitgebracht wurden, von Belanglosem und Belangvollem, von Rezepten, von Tod und von Leben. Das Gerede wurde immer lauter, je später nach der vollen Stunde, desto lauter wurden die Leute, als gelte es, das Gebet, für das sie gekommen waren, zu verhindern. In Ausnahmefällen musste gewartet werden, dass es genug Männer gab. Zehn brauchte man, um ein Gebet zu halten. Während der Pandemie kamen wenige, aus Angst, aus Respekt, die, die kamen, mussten Masken tragen und sich in Listen einschreiben. Es wurde viel gestritten, ob man nicht auch die Frauen zählen sollte, besonders in diesen Zeiten, aber bis heute setzten sich ein paar der Alten durch, der Männer, die wollten, dass die Dinge blieben, wie sie waren, und so machte er es mit und mischte sich nicht ein. Er wurde bezahlt für seine Stimme, für das Aufbrechen des Geschnatters, für das Leiten des Gesangs, nicht für seine Meinung zu kleinpolitischen Fragen. Vielleicht auch zu großpolitischen.

Wenn er das erste Mal an diesem Schabbat tief Luft holte, dann würde es noch keiner hören können, auch er selbst nicht. Die ersten Worte des ersten Liedes würden noch untergehen, und dann, stellte er sich vor, würden hinter seinem Rücken ein paar Besucher langsamer atmen und denken: Jetzt ist Ruhe, jetzt ist Pause. Die erste Strophe sang er noch allein, ab der zweiten gemeinsam mit den Sopranen in den Frauenreihen, die sich Mühe gaben. Wenn er sich zu ihnen umdrehte, könnte er ein schüchternes Lächeln sehen, und jemand würde schief miteinstimmen, weil es so schön war. »Jedid Nefesch«, sang er, »Geliebter meiner Seele, barmherziger Vater, ziehe Deinen Diener zu Deinem Willen, dass er zu Dir hinlaufe wie die Gazelle, niederfallend angesichts Deiner Pracht, Deine Freundschaft sei ihm angenehmer als Honig und alle Köstlichkeiten.« Sein Verhältnis zu Gott war nie so friedlich wie dann, wenn er an ihn dachte als Freund, als Begleiter seiner Stimme, ruhig und sanft. Während er sang, tröpfelten weiter die Beter herein, suchten sich ihre Reihen aus, neben ihren Freunden, ihren Eltern und Geliebten, nickten und blinzelten, signalisierten so: Es ist Schabbat. Er sang ihnen die Ruhe herbei. Es war sein liebster Moment, wenn auch nicht die schönste Melodie oder die poetischste Pijut. Man stellte die Schuhe ab nach einem langen Spaziergang und hielt die Hände an ein Glas warme Milch mit Honig. Am Ende des Liedes waren alle ganz still. Das Gebet konnte beginnen.

*

Im Joghurt schwammen kleine Stückchen von etwas, das mal eine Kirsche gewesen sein sollte. Sie hasste das. Zuhause musste sie nie essen, was ihr nicht schmeckte. Fast alles schmeckte ihr, aber die Stückchen im Joghurt hasste sie. Ihre Wangen wurden wieder heiß vor Heimweh, vor Sehnsucht nach einem Ort, an dem ihr so etwas nie aufgetischt würde, an dem es morgens mal Pfeffermakrele gab, mal den besten, cremigsten Feta vom Markt, mal Müsli mit vielen Nüssen. Rohe Zwiebeln auf Lachs und Frischkäse am Wochenende.

Erwartungsvoll schauten sie ein Paar Augen an. Sie zwang ihr Gesicht zu einem Lächeln. »Thank you«, hörte sie sich sagen, »yummy.« »Yummy« war ein Wort für Kinder, aber ihre Großmutter dachte schließlich, Margarita wäre eins. Sie trug bereits ihre Uniform: eine weiße, gestärkte Bluse mit Perlenknöpfen und eine Leggins, die am Hintern herunterhing, die Haushose, in der sie auch zum Bäcker und zum Fleischer ging, nicht aber zum Supermarkt und ins Restaurant, dafür war die Draußenhose da, eine schwarze Stoffhose.

»Rita«, sagte ihre Großmutter, »why haven’t you gotten dressed yet?«

Ihr Kopf wurde noch heißer. Die Großeltern lebten in einem Haus im Universitätsviertel auf der South Side von Chicago, das dreimal so groß war wie die Wohnung in Berlin und mindestens dreimal so still. Grandma biss jedes Mal, wenn sie Joghurt zum Mund führte, auf den Löffel. Man hörte nur das Surren des Deckenventilators und das Krachen von Zähnen auf dem Silber. Dass sie sich noch keine Ecke abgeschlagen hatte, in all den Jahren. Margarita fragte sich, ob sich auch ihre Mutter davor geekelt hatte, als sie als Fünfzehnjährige am selben Tisch und vom selben Besteck gegessen hatte. Oder ob sie es nicht wahrgenommen hatte, ob sie womöglich auch auf den Löffel biss, wenn sie Joghurt aß. Vielleicht hatte auch ihre Mutter das Eis, das es manchmal zum Nachtisch gab, gekaut, anstatt es zu schlecken, vielleicht konnte man, wenn sie ein Sandwich aß, das Innere ihres Mundes sehen. Sehen, wie sich der Salat mit dem Käse, dem Weißbrot, den sauren Gurken zu einem Brei vermischte.

Margarita löffelte schneller. Kratzte sorgfältig das Glasschälchen aus und sagte: »I need to go to the bathroom.« Das Bad war ihr Zufluchtsort in diesen Wochen. Meist duschte sie abends, bis das Heißwasser ausging, um sich vor dem Abendprogramm zu drücken und danach behaupten zu können, sie sei so furchtbar müde, sie müsse ins Bett. Sie nahm Bäder, obwohl draußen 35 Grad waren. Sie bekam Blasenentzündungen, weil sie so oft aufs Klo ging.

Nur wenn die Großeltern schon schliefen und sie leise nach Berlin telefonieren konnte, ging sie weniger häufig ins Bad. An schlechten Tagen bettelte sie ihren Vater an, sie nach Hause zu lassen, sie zu holen, drohte, wenn sie zurück in Berlin wäre, kein Wort mehr mit ihm zu sprechen, nie wieder. Er schwieg, manchmal summte er zur Beruhigung die immer gleichen Melodien.

Woher all der Schmerz kam, wusste er nicht. Er wusste um die Umstände, um das Heimweh, das ja, aber er wusste nichts von Nico. Von Nico wusste niemand außer Anna. Manchmal fragte sie sich, ob sie selbst um ihn wusste, wenn sie abends auf ihr Handy starrte, wenn sie, um einschlafen zu können, die Hand in die Unterhose schob und an das dachte, was passiert war. Jeden Morgen klopfte ihr Herz, bevor sie das Telefon anstellte, auf das grüne Symbol tippte, neue Nachrichten empfing, nie aber eine von ihm. Manchmal, wenn sie sich selbst richtig wehtun wollte, stellte sie sich vor, wie...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber
Schlagworte aktuelles Buch • Antisemitismus • Berlin • Booktok • bücher neuerscheinungen • Chicago • Coming of Age • Entwicklungsroman • Familie • Freundschaft • Gedenken • Glaube • Hebräisch • Holocaust • Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb • Israel • Judentum • Liebe • Mutterschaft • Nahostkonflikt • Neuerscheinungen • neues Buch • Romandebüt • Sexualität • Shoah • Sprache • ST 5360 • ST5360 • suhrkamp taschenbuch 5360 • Vaterschaft
ISBN-10 3-518-77764-5 / 3518777645
ISBN-13 978-3-518-77764-0 / 9783518777640
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