Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung (eBook)
120 Seiten
C. F. Müller (Verlag)
978-3-8114-8982-0 (ISBN)
§ 1 (Individual-)Verfassungsbeschwerde
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Wesentlich ist, dass man im Obersatz auf die entsprechende Fragestellung im Falltext eingeht. Ist etwa nach den Erfolgsaussichten der von einem Beschwerdeführer (Bf.) eingelegten Verfassungsbeschwerde (VB) gefragt, so empfiehlt sich folgender Obersatz:
Die VB des … (Bf.) hat gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit der VB
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Zunächst müsste die VB zulässig sein.
I. Parteifähigkeit (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG)
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Antragsberechtigung, Beschwerdeberechtigung, Beteiligtenfähigkeit und Beschwerdefähigkeit.
Parteifähig ist gemäß § 90 I BVerfGG „jedermann“, d.h. jeder, der Träger von Grundrechten (oder grundrechtsähnlichen Rechten[1]) ist (Grundrechtsfähigkeit).
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1. Unproblematisch ist die Parteifähigkeit bei natürlichen Personen, welche die deutsche Staatsangehörigkeit (Art. 116 I GG) besitzen, weil derartige Personen Träger sämtlicher Grundrechte sind:
Der … (Bf.) ist als natürliche Person deutscher Staatsangehörigkeit (Art. 116 I GG) Träger sämtlicher Grundrechte, mithin als „jedermann“ parteifähig.
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2. Problematisch ist die Parteifähigkeit hingegen bei Abgeordneten, politischen Parteien, Ausländern und juristischen Personen des privaten und öffentlichen Rechts:
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a) Bei einer Streitigkeit eines Abgeordneten um seinen verfassungsrechtlichen Status (Art. 38 I 2 GG) ist grundsätzlich das Organstreitverfahren die statthafte Verfahrensart[2]. Etwas anderes gilt aber dann, wenn für das Organstreitverfahren kein tauglicher Antragsgegner (Verfassungsorgan oder „anderer Beteiligter“) zur Verfügung steht. In diesem Fall steht dem Abgeordneten die Verfassungsbeschwerde offen[3]. Entsprechendes gilt für politische Parteien hinsichtlich ihrer Rechte aus Art. 3 I (i.V.m. Art. 21) GG[4].
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b) Ausländische natürliche Personen; diese sind lediglich Träger der sog. Menschenrechte (Jedermann-Grundrechte), nicht hingegen der sog. Deutschengrundrechte (Bürgergrundrechte), die allein Deutschen i.S.d. Art. 116 I GG vorbehalten sind.
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Ob sich Bürger aus anderen EU-Staaten unmittelbar auf die Deutschengrundrechte (vgl. Art. 8 I, Art. 12 GG) berufen können, ist umstritten[5]. Während sich die Befürworter auf die im (primären und sekundären) Unionsrecht gewährten Rechte, insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV, berufen[6], weisen die Gegner auf den eindeutigen Wortlaut des GG hin und wenden das Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG dahingehend an, dass es EU-Ausländern einen den Deutschengrundrechten gleichwertigen Schutz verbürgt[7]. Zu beachten ist, dass sich die Frage der Gleichbehandlung von EU-Ausländern nur dann stellt, wenn das Unionsrecht im Gewährleistungsbereich eines Deutschengrundrechts auch tatsächlich ein Diskriminierungsverbot begründet[8]. In diesem Fall verlangt Art. 18 AEUV i.V.m. dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts (Präambel, Art. 23 I GG), den Anwendungsbereich des jeweiligen Deutschengrundrechts zu erweitern. Ebenso wie ausländischen Unternehmen mit Sitz im EU-Ausland im Wege der Anwendungserweiterung des Art. 19 III GG (Rn. 11) der Schutz von (auch materiellen) Grundrechten zukommt, können sich Ausländer mit EU-Staatsangehörigkeit auf den Schutz der Deutschengrundrechte berufen. Die Deutschengrundrechte sind ebenso wie Art. 19 III GG sub specie des Art. 18 AUEV i.V.m. dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts (Präambel, Art. 23 I GG) erweiternd auszulegen. Dieser Anwendungserweiterung steht nicht die Wortlautgrenze der Deutschengrundrechte entgegen[9] ebenso wie dies bei Art. 19 III GG („inländische“) nicht der Fall ist[10]. Der dogmatische Grund für die Anwendungserweiterung der Deutschengrundrechte (und des Art. 19 III GG) ist das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen der grundrechtlichen Bestimmung einerseits und dem ebenfalls im Verfassungsrecht (Präambel, Art. 23 I GG) wurzelnden Grundsatz vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts andererseits (Rn. 8, 43 f.). Nicht das Deutschengrundrecht als solches, sondern das (kollidierende) verfassungsrechtliche Vorrangprinzip erfordert eine Anwendungserweiterung der Deutschengrundrechte. Die verfassungsrechtliche Güterkollision (zur Parallelproblematik des Dispenses von Art. 1 III GG im Fall von unionsrechtlich determinierten innerstaatlichen Hoheitsakten vgl. Rn. 43) ist dahin aufzulösen, dass Ausländer mit EU-Staatsangehörigkeit durch Deutschengrundrechte geschützt sind. Überdies ist es ein „Etikettenschwindel“, EU-Ausländern zwar den Schutz der Deutschengrundrechte abzusprechen, ihnen im Rahmen des Art. 2 I GG dann aber den gleichen Schutz wie Deutschen zukommen zu lassen[11]. Sowohl auf Schutzbereichs- als auch auf Schrankenebene bedürfte Art. 2 I GG einer Interpretation im Lichte des jeweiligen Deutschengrundrechts. Maßstabsbildend bliebe letztlich das Deutschengrundrecht, sodass es nur konsequent erscheint, es direkt als Maßstab heranzuziehen.
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c) Juristische Personen des Privatrechts. Insoweit gilt Art. 19 III GG:
(1) Wichtig: Der Begriff „juristische Person“ ist im untechnischen Sinne zu verstehen; demnach ist keine Rechtsfähigkeit erforderlich, vielmehr reicht eine gewisse binnenorganisatorische Struktur des Gebildes aus, sodass etwa auch nichtrechtsfähige Vereine Grundrechtsträger sein können[12].
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(2) Für die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen kommt es nach Art. 19 III GG darauf an, ob die Grundrechte „ihrem Wesen nach“ auf juristische Personen anwendbar sind[13]. Die Grundrechte sind „ihrem Wesen nach“ Schutz- und Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Im Lichte der dadurch implizierten anthropozentrischen, also der am Menschen orientierten Auslegung des Art. 19 III GG liegen dessen Voraussetzungen bei juristischen Personen des Privatrechts grundsätzlich vor[14], weil ihre Bildung und Betätigung regelmäßig Ausdruck der freien Entfaltung der hinter ihnen stehenden natürlichen Personen ist. Ist hingegen ein solcher teleologischer „Durchblick“ auf natürliche Personen nicht möglich, entfällt die Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person des privaten Rechts. Dementsprechend können sich ausnahmsweise folgende juristische Personen des privaten Rechts nicht auf den Schutz der materiellen Grundrechte berufen:
- | Öffentliche Unternehmen, also Unternehmen, deren Eigenkapital ausschließlich bei der öffentlichen Hand liegt:
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- | Gemischt-wirtschaftliche Unternehmen, also Unternehmen, deren Eigenkapital bei der öffentlichen Hand und bei Privaten liegt, sofern die öffentliche Hand über Möglichkeiten beherrschender Einflussnahme verfügt[16]; |
- | Beliehene juristische – wie auch natürliche – Personen[17], da sie nicht in Wahrnehmung unabgeleiteter natürlicher Freiheiten tätig werden, sondern mit der Ausübung staatlicher Funktionen und Aufgaben betraut sind. |
Im Gegensatz zu öffentlichen Unternehmen, die der deutschen öffentlichen Hand gehören, ist die wesensmäßige Anwendbarkeit der Grundrechte nach Art. 19 III GG öffentlichen Unternehmen mit ausländischer Rechtsträgerschaft nicht grundsätzlich verwehrt. Weder das Konfusionsargument, wonach der Staat nicht zugleich grundrechtsverpflichtet und grundrechtsberechtigt sein kann, noch das Problem, dass einer staatlichen juristischen Person des Privatrechts im Gegensatz zu rein privaten juristischen Personen unmittelbar oder mittelbar innerstaatliche Machtbefugnisse zukommen, greifen insoweit[18]. Zwar fehlt es am personalen Substrat hinter der juristischen Person und auch an der „grundrechtstypischen Gefährdungslage“[19]. Doch kann die insoweit offene Auslegung des Art. 19 III GG mit Blick auf die unionsrechtlich geschützten Grundfreiheiten zugunsten der Anwendbarkeit der Grundrechte auf die juristische Person ausfallen, da Art. 54 II AEUV öffentlich-rechtlich organisierte Unternehmen in den Schutzbereich der Grundfreiheiten...
Erscheint lt. Verlag | 3.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Recht / Steuern ► Öffentliches Recht |
ISBN-10 | 3-8114-8982-8 / 3811489828 |
ISBN-13 | 978-3-8114-8982-0 / 9783811489820 |
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