Kraniomandibuläre Dysfunktionen (eBook)
280 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-241475-4 (ISBN)
1 Was sind kraniomandibuläre Dysfunktionen?
S. Hahnel
Steckbrief
Der Begriff der kraniomandibulären Dysfunktionen (engl.: craniomandibular dysfunction; CMD) ist nach wie vor nicht eindeutig definiert. Er umfasst primär Störungen der Okklusion, am Kaumechanismus beteiligter Muskeln und des Kiefergelenks. In den letzten Jahren rückten auch die benachbarten Strukturen der Wirbelsäule und der Extremitäten in den Fokus, sodass die Zahnmedizin von einer rein auf das stomatognathe System beschränkten Sichtweise auf eine ganzheitliche somatische wie auch psychosomatische sowie funktionelle Betrachtung von CMD übergegangen ist.
1.1 Einleitung
Merke
Unter CMD verstehen wir einen Komplex von funktionellen Erkrankungsmustern, welche kein einheitliches Krankheitsbild darstellen. Einzelne oder eine Kombination verschiedener Faktoren können CMD auslösen.
Zu diesen Faktoren gehören im Wesentlichen (in alphabetischer Reihenfolge):
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embryonale Anomalien (Kap. ▶ 3)
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Fehlstellungen des Discus articularis im Kiefergelenk (Kap. ▶ 9)
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komplizierte topografisch-anatomische Verhältnisse (Kap. ▶ 4, Kap. ▶ 5)
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Muskelspasmen (Kap. ▶ 29)
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neurogene Dysphagien (Kap. ▶ 11)
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orale Gewohnheiten (Kap. ▶ 12)
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Schmerzsensationen (Kap. ▶ 11)
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soziale Inkompetenz (Kap. ▶ 14)
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Stress in Beruf und Familie (Kap. ▶ 14)
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unphysiologische Körperhaltung im Alltag (Kap. ▶ 29)
Wie in den Kapiteln zur Morphologie deutlich wird, ist es sicherlich der Komplexität der Strukturen im Kopf zuzuschreiben ( ▶ Abb. 1.1), dass eher entwicklungsgeschichtlich ältere Funktionen des stomatognathen Systems wie das „Kauen“ mit entwicklungsgeschichtlich neueren Funktionen dem „Kommunizieren/Sprechen“ auf engsten Raum realisiert und verknüpft werden müssen, und dass dadurch das gesamte stomatognathe System „anfälliger“ für Störungen ist.
Schema der unterschiedlichen Funktionen des stomatognathen Systems im Verlaufe der Evolution.
Abb. 1.1
1.2 Definition
Merke
Unter CMD werden von der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) „eine Reihe klinischer Symptome der Kaumuskulatur und/oder des Kiefergelenks sowie der dazugehörigen Strukturen im Mund- und Kopfbereich“ verstanden ▶ [1].
Diese breitgefasste Definition mag lediglich als erste Annäherung an die Thematik CMD verstanden werden; allerdings legt sie auch den Schluss nahe, dass dem Begriff CMD eine gewisse Unschärfe anhaftet, da nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, welcher klinische Befund eigentlich das Vorliegen einer CMD anzeigt. Nichtsdestoweniger hat der Begriff CMD in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum eine erhebliche Verbreitung gefunden. Mehr als 140000 Treffer bei einschlägigen Internet-Suchmaschinen und detaillierte Einträge in Online-Enzyklopädien zeigen eindrücklich, dass dem Krankheitsbild ein erhebliches öffentliches und fachliches Interesse zukommt.
Dieses Phänomen wird nicht zuletzt auch in – aus wissenschaftlicher Sicht – zweifelhaften Foren und Verbänden zum Thema CMD getragen, und es zeigt sich oft bei Patienten, welche schon bei der Erstuntersuchung mit der „Diagnose“ nach eigener Recherche im Internet aufwarten. Darüber hinaus trugen in Medien geführte laizistische Diskussionen dazu bei, den Anschein einer wissenschaftlichen Grundlage zu vermitteln, und gaben dem Thema CMD eine gewisse mediale Plattform.
Merke
Im Bereich der CMD sind evidenzbasierte Konzepte zur Diagnose und Therapie häufig nicht vorhanden.
1.3 Historischer Rückblick zur Entstehung der Begriffsvielfalt
Zusatzinfo
Die mangelnde Präzision des Begriffes CMD ist leicht zu erklären, wenn wir uns die historische Entwicklung der Begrifflichkeiten in der Funktionsdiagnostik und -therapie sowie die historischen ätiologischen Modelle für Erkrankungen im Bereich der Kiefergelenke und auch der Kaumuskulatur vor Augen führen.
Letztlich haben diese ihren Ausgang in den Veröffentlichungen des Hals-, Nasen- und Ohrenarztes James Bray Costen, der im Jahr 1934 ein später als sog. Costen-Syndrom bezeichnetes Krankheitsbild beschrieb ▶ [2], ( ▶ Abb. 1.2), bei welchem klinische Symptome im Bereich der Nebenhöhlen, Ohren sowie Probleme im Kiefergelenkbereich mit der Okklusion korrelierten. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt wurde deutlich, dass das Krankheitsbild der CMD in seiner initialen Beschreibung nicht auf einzelne oder isolierte morphologische Strukturen gefasst werden konnte und verschiedene morphologische Areale im Kopf-, Kiefer- Gesichts- sowie im gesamten Körperbereich einschloss. Damit wohnte bereits schon dem Begriff Costen-Syndrom eine gewisse Unschärfe inne. Während die von Costen ▶ [3] beschriebenen Ansichten und Zusammenhänge gegenwärtig als überholt und wissenschaftlich nicht begründet gelten ▶ [4], ▶ [5], entstand nicht zuletzt auf der Basis seiner Ausführungen die Einschätzung, dass das Auftreten von Beschwerden im Kopf- Kiefer- und Gesichtsbereich nahezu ausnahmslos mit einer nach zahnärztlichen Maßstäben fehlerhaften Okklusion korreliert sei ▶ [6], ▶ [7], ▶ [8]. (Der Begriff hält sich aber bis heute hartnäckig in der Allgemeinmedizin!)
Abbildung nach einer Publikation von James Bray Costen aus dem Jahr 1936 ▶ [12].
Abb. 1.2 Gezeigt wird die damalige Vorstellung der möglichen Entlastung von Teilen des Bandapparates des Kiefergelenkes (links) und der rund um das Kiefergelenk liegenden Nerven durch einen Aufbissbehelf in Form einer Testscheibe (5). Durch den Aufbissbehelf wird die okklusale Höhe zwischen Oberkiefer und Unterkiefer vergrößert (3), wodurch eine Kompression des Kiefergelenkes nach kranial verhindert werden soll und anatomische Strukturen wie die Chorda tympani (4) und der N. auriculotemporalis (1) sowie Bandstrukturen wie das Ligamentum stylomandibulare oder das Ligamentum sphenomandibulare (2) entlastet werden sollen. Durch die Entlastung mittels Aufbissbehelf wird einer den Schmerz erzeugenden Kompression der der o. g. Strukturen entgegengewirkt; so die damalige These von Costen.
Neben dem Begriff CMD existieren einige weitere Begriffe, welche nicht selten und fälschlicherweise als Synonyma für den Terminus CMD benutzt werden. Dazu gehört insbesondere die Myoarthropathie, die gemäß Definition der DGFDT Beschwerden und Befunde beschreibt, „die die Kaumuskulatur, die Kiefergelenke bzw. damit in Verbindung stehende Gewebestrukturen betreffen“ ▶ [9]. Damit stellen Myoarthropathien eine Art Untergruppe der CMD dar und schließen die Okklusion explizit nicht mit ein ▶ [9]. Weiterhin wird der Begriff Bruxismus gelegentlich in Analogie zum Begriff CMD verwendet. Dieser Sachverhalt erscheint vor dem Hintergrund, dass Bruxismus „als sich wiederholende Aktivität der Kaumuskulatur, die sich durch Pressen oder Knirschen mit den Zähnen und/oder Anspannen oder Pressen mit dem Unterkiefer darstellt“ definiert wird ▶ [10], als nicht korrekt.
1.4 Gegenwärtige Auffassungen zum Begriff kraniomandibuläre Dysfunktion
Während diese z.T. irreführenden Begriffe zu CMD in den letzten Jahrzehnten korrigiert wurden, sind wir gegenwärtig der Auffassung, dass die Rolle der Okklusion bei der Genese von CMD in der Vergangenheit deutlich überschätzt worden ist. Dennoch hält sich diese Ansicht zur Rolle der Okklusion hartnäckig ▶ [11]. Nicht zuletzt mit...
Erscheint lt. Verlag | 20.11.2019 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Zahnmedizin |
Schlagworte | Arthropathien • CMD • Craniomandibuläre Dysfunktion • Funktionsdiagnostik • Funktionstherapie • Kiefergelenk • Kiefergelenksbeschwerden • Kiefergelenkserkrankung • Kraniomandibuläre Dysfunktion • Schienentherapie |
ISBN-10 | 3-13-241475-1 / 3132414751 |
ISBN-13 | 978-3-13-241475-4 / 9783132414754 |
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