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Vom Wahnsinn einer Frau -  Astrid H. Roemer

Vom Wahnsinn einer Frau (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
356 Seiten
Residenz Verlag
978-3-7017-4717-7 (ISBN)
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Die Geschichte einer unerhörten Liebe im Suriname der Fünfzigerjahre: dicht, sinnlich und poetisch erzählt von einer großen Stimme der postkolonialen Literatur. Paramaribo um 1950: Die junge Lehrerin Nunka wird von ihrer Familie mit Louis aus Curaçao verheiratet, doch schon bald wagt sie Unglaubliches: Nach nur neun Tagen flieht sie vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Doch in Suriname gibt es keinen Platz für weibliche Selbstbestimmung: Ihre Eltern schicken sie weg, in ihrem Job wird sie gekündigt. Ihre verzweifelte Suche führt Nunka als Kindermädchen zu einer holländischen Familie, und zwischen ihr und der Hausherrin Gabrielle entbrennt eine fatale, verbotene Leidenschaft. Als wahnsinnig abgestempelt, mit Gefängnis und Irrenanstalt bedroht, müssen Nunka und Gabrielle zu viele Kämpfe führen, um gewinnen zu können. Erstmals 1979 erschienen, gilt 'Vom Wahnsinn einer Frau' als Kultbuch der feministischen postkolonialen Literatur.

Astrid H. Roemer, geboren 1947 in Paramaribo (Suriname), einer ehemaligen niederländischen Kolonie in Südamerika. Sie hat Theaterstücke, Lyrik sowie zahlreiche Romane publiziert, in denen sie Fragen der Heimat, Familie, Identität und postkolonialen Politik verhandelt. 2016 hat sie den renommierten P.C.-Hooft-Preis für ihr Gesamtwerk erhalten, 2021 als erste POC den Prijs der Nederlandse Letteren 2021, den wichtigsten Literaturpreis für Autor*innen niederländischer Sprache. Im Residenz Verlag erschien 2022 'Gebrochen-Weiß', das auf Platz 1 der Litprom-Weltempfänger Bestenliste stand und 'Vom Wahnsinn einer Frau' (2024).

Meine Ehe dauerte genau neun Tage und schlug so hohe Wellen in unserer kleinen Küstenstadt, dass ich ein Leben lang unruhig blieb.

Es begann in meiner Familie, als ich in jener neunten Nacht versuchte, meine Eltern wachzuklopfen.

Der Regen prasselte stark und herrisch, und weil das Dach so flach war, drang das Trommeln meiner Knöchel auf dem Holz nicht bis ins Innere des Hauses: Stattdessen verschmolz es mit dem rhythmisch fallenden Himmelwasser. Tiefe Stille füllte das Haus.

Meine Hände schmerzten, sie schmerzten mehr noch als mein Kopf und mein Bauch, und ich war klatschnass. Und hatte Angst – nicht nur vor dem bedrohlichen Friedhof nebenan, der im Licht der Blitze aussah wie eine geträumte Bühne, sondern vor der Trostlosigkeit der tief schlafenden Stadt, die sich vom Wasser vereinnahmen ließ, und vor dem Haus von Vater und Mutter, das mir den Zutritt verwehrte, als ich zurück zum Geruch von Talkumpuder und Messingreiniger, Tabak und alten Zeitungen fliehen wollte, um den des Blutes loszuwerden, der an mir klebte.

Ich klopfte nicht mehr, sondern hämmerte gegen die Tür und schrie.

Doch Wasser und Wind schlugen mir meine Klage um die Ohren, als wollten sie mich verspotten.

Schmerzen! Schmerzen!

Hinter mir nahte Die Andere Seite.

Verärgert, aber erleichtert, versuchte ich mich kurz darauf in der schwach erleuchteten Küche zu erinnern, wie viel Zeit vergangen war, seit ich durch das schlecht schließende Fenster eingestiegen war, doch der Gedanke wich bald dem dringenden Bedürfnis, mich bei meiner Mutter zu verkriechen, so schnell wie möglich, so tief wie möglich. Mir wurde warm davon, und ich suchte hungrig den Weg zu ihrem Zimmer. Feierlich legte ich die Hand auf den Marmorknauf, drehte, drückte.

Jahre später begriff ich: Hinter dieser Tür habe ich meine Schmerzgrenze überschritten.

Ich sei ein schönes Kind, sagten sie. Moi misi, riefen sie, die Frauen mit ihren Faltenröcken, und zogen mich so nah an sich, dass mein Kopf auf ihrem Bauch lag. Manche rochen nach frischem Fisch, doch auch Verwesungsgeruch stieg mir in die Nase. Ächzend riss ich mich los.

»Nunka, Nunka«, versuchten sie mich verlegen unterm Bett hervorzulocken, doch ich blieb dort, bis meine Mutter kam und mich mit ihrem Schoß umfing: sauber, warm und sicher. Ein paar Frauen mochte ich auch, allein deshalb, weil sie zu meiner Begrüßung nicht die Schenkel spreizten, sondern die Beine übereinanderschlugen und mich neben sich aufs Sofa zogen.

Ihr Niederländisch hatte einen weichen Klang, und sie trugen einfarbige Kleider mit Samtoberteilen und schmalen Gürteln. Ihre Beine schimmerten seidig unter den Nylonstrümpfen, und ihre dunklen Schuhe knarrten.

Ma empfing diese Damen nicht in der Küche, und sie servierte ihnen Tee in feinen Tassen in Delfter Blau und reichte knusprige, goldbraune Kekse.

Während sie von ihren ehrbaren Töchtern erzählten, ihren klugen Söhnen, den faulen Dienstmädchen und dem Wohltätigkeits-Kränzchen, sog ich das Parfüm ein, das sie bei jeder Bewegung verströmten. Ich hörte von einem Basar zugunsten eines neuen Schreibtischs für den Pfarrer, diesen netten, netten Mann mit seiner entzückenden blonden Gattin, und ob Mevrouw Novar sie, wie immer, beliefern könne mit all den herrlichen, herrlichen Häppchen und dem köstlichen, köstlichen Gebäck vom letzten Mal.

Meine Mutter wurde rot, ich schmiegte mich stolz an sie, und sie sagte »Ja-natürlich-gerne« und ob die Damen nicht Teigtaschen für zu Hause mitnehmen wollten; die wurden umgehend ordentlich verpackt und dem Besuch in einer silbernen Büchse überreicht. Nach der Verabschiedung schickte sie ihnen jedoch einen tjuri hinterher, schüttelte wild die Kissen auf und verschlang, mit meiner Unterstützung, die restlichen Kekse, diese Opfergaben der Höflichkeit.

»Bist du wütend?«, fragte ich mit Krümeln auf der Zunge.

»Nicht wütend, nein«, sagte sie lächelnd und zog mich fest an sich.

Wenn die Sonne so stand, dass ich auf meinen eigenen Schatten trat und Ma die Badetücher hereinholte, kam sie angeschaukelt. Ich rannte zum Tor, verletzte mich wie üblich an dem großen Riegel und nahm überglücklich ihre entgegengestreckte Hand.

Sie duftete nach Bananen, überreifen Sapotillen, und der Geruch des Bitterorangen-Stängels, auf dem sie mechanisch kaute, machte mich niesen. Sie blieb kurz stehen, die Hand auf meinem Scheitel, und stopfte mir seltsame Süßigkeiten aus bunten Vorratsgläsern in den Mund, von dem Holztablett, das sie auf dem Kopf balancierte.

Ich sprang hinter ihr her und stieß mit der Schulter gegen den schweren Beutel unter ihren Röcken, der voller Geldstücke war, für mich ein Vermögen, wie es kein anderer hätte besitzen können.

Auf dem Balkon hinter dem Haus stellte sie ächzend das Tablett ab, unterhielt sich dann mit meiner Mutter in einer melodischen Mundart, die ich kaum verstand. Sie tranken Ingwerbier mit Eiswürfeln und aßen frittierte Fische. Oft war ihr ausgelassenes Lachen zu hören: hoch und rund das von Ma, platt und breit das von Peetje, meiner Patentante.

Und ich wanderte von einem Schoß zum anderen und hoffte, Peetje würde niemals weggehen.

Doch sie ging immer weg – meckernd, das Tablett auf dem Kopf, die üppigen Rockfalten des koto steif und weit um ihren drahtigen Leib. Ich sah ihr nach, winkte, bis mir die Sonne in den Augen brannte und ein Wirbelsturm von Schulkindern mich erschreckt ins Haus scheuchte.

Äpfel. Nichts als Äpfel, hellrosa Äpfel mit weißen Bäckchen, die zu nichts gut waren, als den Durst zu löschen, es sei denn, man tunkte sie in Salz; tiefrote Äpfel, die an die wütenden Schmollmünder mürrischer alter Weiber erinnerten, aber zuckersüß schmeckten, und farblose Äpfel, die so köstlich waren, dass Kolonnen schwarzer Ameisen den endlosen Weg von ihren Nestern zu den hohen Ästen antraten und sich in ihre Risse drängten.

Die Äpfel wurden alle gleichzeitig reif. Jeden Morgen lagen Hunderte im dunklen Garten und fielen und fielen immer weiter, bis zum Abend.

Es war Mitte Mai.

Jeden Tag wurde der sonst stets blassblaue Himmel von formlosen Regenwolken verschandelt, die von Osten herandrängten. Dann ging ein Zittern durchs Grün, der Wind wurde feucht, und in kürzester Zeit war alles voller Wasser. Und Äpfel. Bebend hingen sie zwischen den glänzenden Blättern, in dichten Trauben, bis sie herunterfielen und wie Knallfrösche zerplatzten.

Ich übernachtete bei Peetje, der meine Mutter mich geliehen hatte, um beim Lindern der Apfelnot zu helfen. Von morgens bis abends las ich Äpfel auf, befreite sie mit einem kräftigen Wasserstrahl von Schlamm und Ameisen und stapelte sie zu einem fabelhaften Haufen. Eine eindrucksvolle Aufgabe, wenn man sechs ist und versessen auf alles Bunte und Süße.

Emely, Peetjes einziges Kind, stand in der Küche und rührte mit Holzlöffeln in verschiedenen Töpfen.

Nach ein paar Tagen hatte sie eine solche Sammlung von bunt gefüllten Gläsern beisammen, dass selbst der bestsortierte Chinese nicht mithalten konnte. Ich half, die Gläser zu Onkel Dolfi zu bringen, der in einem Unterstand so gut wie alles verkaufte, was gewöhnliche Leute in kleinen Mengen brauchten. Zwei neue Regalbretter kamen dazu, und sein Sortiment erweiterte sich um Apfelmarmelade, Apfelkompott, Apfelsäure, Apfeldies und Apfeldas.

Am meisten Spaß machte es mir aber, die kleinen Käufer anzukündigen, die Peetje ihre rostigen Münzen brachten und mir Spiele, Süßigkeiten und bunte Glasscherben.

Trotzdem verschenkte ich nicht einen Apfel heimlich: Mit meiner Hilfe sollte Peetjes Geldbeutel noch schwerer werden. Müde vom Äpfel-Auflesen schlief ich noch vor der Dämmerung in ihren Armen ein.

Eines Nachts wachte ich auf, weil der Regen plötzlich aufhörte und eine atemlose Stille hinterließ. Ich merkte, dass ich auf dem Boden lag statt im Bett. Verwirrt stand ich auf. Irgendwo brannte Licht. Im Halbdunkel tastete ich mich nach unten ins Erdgeschoss – Wohnzimmer, Küche, Peetjes Schlafzimmer. Die Finger im Schlafanzug vergraben, ging ich ins Bad, um auf den kalten Zementboden zu pinkeln, als die Tür aufflog und Emely hereingestürmt kam.

Es ging alles sehr schnell: Licht aus, ich in ihren kühlen Armen, und mein Schauder wegen eines feindseligen Geruchs, der sich wie eine hässliche Narbe irgendwo in mir festsetzte.

Psst, leise, ganz leise wurde ich zugedeckt. In dieser Nacht machte ich zum ersten Mal ins Bett.

Aasgeier rund ums Haus. Auf dem Dach, dem Brunnenrand, oben auf dem Zaun. Ihre breiten schwarzen Flügel dicht an den Körper gepresst, die...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7017-4717-2 / 3701747172
ISBN-13 978-3-7017-4717-7 / 9783701747177
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