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Wa(h)re Menschen -  Jo Milou

Wa(h)re Menschen (eBook)

Die Gen-Bibel

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
684 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-6981-6 (ISBN)
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Neo-Belgrad. In der nicht-so-fernen Zukunft. Mithilfe von Galtons Gesetz, einer eugenischen Gen-Prophetie, will die Volksarchitektur die grassierende 'Prophilat'-Drogenepidemie eindämmen. Zum Wohle des Erbguts unterscheidet die Technokratie die Menschen daher in zwei Rassen: die gesunden Bios und die kranken Radiate. Der erfolglose Dissident Lazar Bogumil Augustin wird von den Star-Technokraten Herrmann und Schwermuth Kreisler mit der heiklen Aufgabe betraut, ein Radiat für ein metaphysisches Experiment aufzutreiben. Als Lazar jedoch in Verdacht gerät, das Gesetz gebrochen zu haben, findet er sich plötzlich in einer Besserungsanstalt der Volksarchitektur wieder. Dort trifft er auf Rusalka, ein Radiat. Gefangen zwischen Vorurteilen, Entmenschlichung und Realitätsverlust beginnen sie allmählich gemeinsam die Grenzen der Menschlichkeit zu hinterfragen und kommen einer Verschwörung kosmischen Ausmaßes auf die Schliche ...

Josefina 'Jo' Milou lebt in Wien. Sie ist internationale Indie-Autorin und Religionsdesignerin. Sie hat Sozialanthropologie und Religionsästhetik studiert. Ihre Werke verbinden klassische Science-Fiction und Schauergeschichten mit aktuellen Themen und Philosophien zu Neuen Mythologien.

Josefina "Jo" Milou lebt in Wien. Sie ist Religionsdesignerin. Das heißt: sie hat Religionsethnologie und Religionsästhetik studiert. Mit ihren Geschichten strebt sie neue, innovative mythischen Ausdrucksformen im Zeitalter des Nihilismus und der rasch voranschreitenden Technologisierung an. Dafür sind ihre Werke von den Neuen Medien, allen voran Comics / Mangas, Gaming und Internetkulturen, inspiriert.

Kapitel 2


Der Anfang




Übelkeit im Bauch.

Starrer Hals; tiefsitzender Kopfschmerz.

Verspannter Rücken; elektrisches Inferno.

Abgestandener Atem; desorientierender Schwindel.

Benommen findet sich Rusalka an der Bettkante wieder, das Gesicht im eigenen Schoß begraben. Mit dem ersten matten Gedanken beginnen ihre langen magentafarbenen Haare lebhaft über ihre Füße zu baumeln. Langsam lassen die starken Empfindungsstörungen (das elektrisierte Rückenmark, die taube Hautschicht, der grauenhafte Schwindel) von ihr ab.

Mühsam versucht sie, klare Gedanken zu fassen, als ihr Geist ihre verkrampft-starre Haltung gewissenhaft abtastet. Wie die Zunge über den dicken Zahnbelag reibt und sie das Gemisch aus Nikotin, Speichel und Zahnfleischblut schmeckt, wird sie von Übelkeit befallen, und ihr Körper schießt reflexartig mit einem lauten Würgelaut hoch. Wie Peitschen hageln ihre schweißgetränkten Haarspitzen auf ihre Rückentätowierung nieder. Schlotternd fahren ihre Hände durch den Schopf.

Wie ihre linke Hand sich auf die Matratze legt, schaut sie leicht benommen zum Fenster hinüber. Sie sieht kein Morgenlicht und fühlt sich in ihrer Vermutung bestätigt, dass eine halbe (maximal eine) Stunde vergangen sein muss, bis sich die Wirkung des Prophilats in ihrem Körper stabilisiert hat.

Ihr Blick schweift durchs Apartment: Fort sind die satten Farbkränze, die alle Formen im Raum mit einem besonderen Glanz versahen. – Die abgestumpfte Realität Neo-Belgrads mit ihrer Flut aus kaltem Neonlicht hat sie wieder …

Mit abgestützten Armen wendet sie sich Tarantula zu. – Die runden Augen der tätowierten Spinne erwidern ihren Blick. Rücksichtsvoll rutscht sie von der Bettkante auf die Matratze. Die großen Kulleraugen der Tarantel auf der Haut des Mädchens scheinen sich für den Bruchteil einer Sekunde im Netz zwischen den Schulterblättern zu rühren. – Rusalka vergräbt ihre Wange im zerschlissenen Kissen, während die linke Schulter im versifften Bettlaken versinkt.

Als für einige Augenblicke Stille einkehrt, horcht sie nochmals in sich hinein, um sich zu vergewissern, ob sie die dünne Stimme aus dem Unterbewusstsein wieder in ihren Ohren hört.

Sekunden verstreichen.

Ne. Ništa! <Nein. Da ist nichts!>”, murmelt sie etwas erleichtert. Wieder trifft ihr Auge auf den stechenden Blick der Spinne auf Tarantulas Haut. Mit ruhigem Gesichtsausdruck blinzelt sie sie für eine kurze Weile an. Als sie mit dem Fingergelenk bemüht, aber letztlich lieblos über die Tätowierung streichelt, ertönt aus dem Nichts ein kräftiger Sog aus Tarantulas Nase, gefolgt von lautem Gähnen und Schmatzen. Dann kehrt wieder eine minutenlange Ruhe ein.

Plötzlich wendet sich ihr der spindeldürre Körper zu. Ein gezwungenes Lächeln erscheint auf Rusalkas Lippen, als sie nach ein paar diffusen Lidschlägen ihre grauen Augen auf sie richtet.

Kako si, darling? <Wie geht es dir, Liebling?>”, fragt sie stimmlos. Ihre Hand schmiegt sich an Tarantulas Wange.

Das Mädchen quittiert die Frage mit einem eiskalten Blick. Ihre stecknadelgroßen Pupillen fixieren stumm die Narbe auf Rusalkas Nasenrücken.

Proklet! Nasmajlešise! <Verflucht! Lächle für mich!>, denkt sie liebeskrank. “Jesam li te probudila? <Habe ich dich aufgeweckt>?”, erkundigt sie sich betont-fürsorglich und rückt ihren Oberkörper näher an Tarantula heran. Wie Blei legt sich ihre Hand auf die Wangenknochen des schmächtigen Mädchens. “Hoćeš liaromu’? Da? <Möchtest du ‘Aroma’?>”

Auf einmal presst sie die Lippen mechanisch auf Rusalkas Mund, als wäre die Frage ein vorher zwischen ihnen vereinbartes Zeichen gewesen. Ihre rosafarbene Silikonhaut schimmert in Rusalkas erregt bebenden Augen, bevor sie hinter den Lidern verschwinden. Der vertraute, nach verbranntem Gummi stinkende Geruch ihrer Haut setzt sich in ihrer Nase fest. – Kakvo jeftini erotični mističe! <Was für ein billiger, erotischer Zauber!>, denkt sie mit klagender Bewunderung, als Tarantulas Zunge ihre Lippen spaltet.

Plump umfassen ihre tätowierten Hände den magentafarbenen Schopf, während sie mit gekonnten, flinken Bewegungen ihren kleinen Körper auf Rusalka schwingt. Mit ihren empfindungslos-kalkulierenden Blicken beaufsichtigt sie jede noch so kleine Regung in der Miene ihrer “Majka”, ihrer mütterlichen Herrin, die sie von der Straße geholt hat. – Tarantula verwaltet ihr Lusterlebnis möglichst effizient, als bestünde es aus einer Reihe komplexer mathematischer Berechnungen.

Wie sich Rusalkas Mund zu einem schmalen Strich verzieht, legen sich ihre Lippen auf ihren Hals. Ein erstes lustvoll-unterdrücktes Seufzen erklingt, und ihr zerbrechlicher Leib drückt sich (die Hüften fest umfasst) gegen ihre schweißbenetzte Haut.

Ein ekstatischer Tanz aneinanderreibender Körper beginnt.

Kreisende Bewegungen.

Nach und nach gibt sich Rusalka dem Takt hin.

Hin und her. Auf und Ab. Rauf und runter.

Immer lauteres Stöhnen und Keuchen dringt aus ihrer Kehle.

Sich drehende Lenden. Zwei Körper im Einklang.

Perfekte Harmonie.

Wie kleine spitze Messer versinken ihre Fingernägel in Rusalkas Flanken, um an der Seite des Körpers hinabzufahren. Wieder und wieder — unaufhörlich.

Unter schwelgendem Jammern packt Rusalka ihren grün-schwarzen Sidecut-Bob und blickt ihr ins plastisch-glänzende Gesicht. Die immer tiefer und tiefer unter die Haut gehenden Kratzer reißen offene Wunden ins Fleisch, während sie unbeirrt weitermacht, bis ihre Finger vollends darin verschwinden. Nach und nach schabt Tarantula das Fleisch vom Knochen. – Von den Achselhöhlen bis zu den Hüften.

Mit erweiterten Pupillen sieht Rusalka panisch dabei zu, wie das Mädchen ihren Leib Schicht für Schicht und Stück für Stück abträgt, bis sie vollkommen paralysiert ihr eigenes Skelett erblickt, aus dem Tarantula die Rippen und Gebeine herausreißt und über die Schulter wirft.

Wie ihre Körperteile vor dem Bett landen, hebt sich der Staub vom Boden, und eine Miniaturlandschaft beginnt sich zu bilden:

Aus ihrem Schweiß entstehen Teiche, Seen, Meere und Lagunen. Aus ihrem Brustkorb entspringen Quellen, die die Gewässer als Bäche und Flüsse miteinander verbinden. Die massiven Fleischhaufen werden zu hohen Bergen mit blutroten Gipfeln. Aus den Knochen ihrer Arme werden Gebirgszüge, die Schluchten und Gräten in die Landschaft hineinzeichnen. Jene Knochen, die beim Aufprall zerbersten, werden zu Sand und Kies. Aus den einzelnen Strähnen ihrer Kopfhaare bilden sich Herbstwälder, während ihre Achsel- und Beinbehaarung zu dunklen Tannenwäldern wird. Ihre Körperbehaarung verwandelt sich in immergrüne Haine mit unzähligen Weiden und Wiesen. Aus den tätowierten Hautfetzen wachsen Blumen. Ihre bunt-schillernden Blütenblätter tragen die mannigfaltigen Buchstabenformen der Glagoliza. Das geronnene Blut aus ihren Wunden wird zu Korallenriffen; und der Hauch ihres erregten Stöhnens wird zum Wind, der durch die Täler und Schluchten raunt.

Nur ihre Augäpfel bleiben in den nackten Schädelhöhlen und mustern angespannt Tarantula. Wie ein vom Himmel herabgestiegener Titan thront jetzt die normalerweise um einen Kopf kleinere Frau über ihrem Schädel und erwidert den verstörten Blick mit brutaler Gleichgültigkeit. Alles wird um Rusalka herum schwarz, als Tarantula die Augäpfel aus ihren kahlen Grotten holt.

Als ihre Sehkraft wieder zurückkehrt, sieht sie mit einem Mal die Welt aus Tarantulas Perspektive.

Warme Tränenbäche aus Blut rinnen über ihre schimmernden Wangen und gerinnen knapp über dem Kinn. Flink greift sie mit der linken Hand nach Rusalkas verwaister Wirbelsäule. Das kalkweiße, blutverschmierte Rückgrat mit den Fingern fest umklammert, stapft sie wie ein Koloss durch die psychotische Landschaft, die sich jetzt über das gesamte Apartment erstreckt.

Unter ihren behäbigen Schritten sieht Rusalka eine unbekannte Welt, in der ihr zu Seen und Bächen gewordener Schweiß leise Wellen schlägt – in der ihr zum Wind und Sturm gewordener Atem über die hohen Wipfel der Berge peitscht.

Dann schweift ihr staunender Blick weiter in die Ferne. Am Horizont erkennt sie den weiten Ozean, der in den Farben der einsetzenden Morgendämmerung glitzert. Der scharlachrot-orange-gelbe Glimmer verwandelt das trostlose Zimmer in einen sonderbaren Kontinent, der – fernab von Neo-Belgrad – sogar von Raum und Zeit vergessen wurde.

Als Tarantula das Zentrum dieser fremden Welt erreicht, rammen ihre Hände das Rückgrat in den kiesweißen, sandigen Boden, wodurch jetzt Himmel und Erde verbunden werden. An dem säulenartigen Knochenturm klettert sie dann immer höher und höher hinauf.

Unter ihr tut sich zu Rusalkas verzücktem Staunen eine mythische Landschaft auf, die weit über den fremden Kontinent aus Gebein und Fleisch hinausgeht. Je höher Tarantula gen Himmel steigt, desto klarer sticht das verlorene Wissen aus vergangenen Äonen in der Ferne hervor.

Das, was hier in dieser ewigen Welt zu sehen ist, findet sich vielleicht auch irgendwo anders; das, was hier allerdings nicht zu sehen ist, findet sich hingegen nirgendwo sonst.

Als Tarantula den obersten Halswirbel erreicht hat, sieht Rusalka in der fernsten Ferne “den Anfang”.



***



“Der Anfang” ist eine rohe, ungeteilte Masse, die alles Sein (alle Bestandteile und Aspekte des Kosmos) in sich vereint. Ihre Oberfläche fluoresziert in allen bekannten und unbekannten Farben, und fortwährend zeichnen sich alle...

Erscheint lt. Verlag 10.1.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte Anthropologie • Cyberpunk • Ethnologie • Gene • Horror • Rasse • Rassismus • Satire • Wissenschaft • worldbuilding
ISBN-10 3-7565-6981-0 / 3756569810
ISBN-13 978-3-7565-6981-6 / 9783756569816
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