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Ich stelle mich schlafend -  Deniz Ohde

Ich stelle mich schlafend (eBook)

Roman | Das neue Buch der preisgekrönten Bestsellerautorin von »Streulicht«

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
248 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77862-3 (ISBN)
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Ich stelle mich schlafend erzählt von den dunklen Seiten einer Liebe - und die Geschichte einer Befreiung. Ein eindringlicher Roman über den Versuch der Auslöschung einer Frau, und über die Frage, ob es eine Berührung gibt, die den Kern eines Menschen unwiederbringlich verändert.

Das Haus, in dem Yasemin bis vor kurzem gelebt hat, steht nicht mehr. Es musste bis auf die Grundmauern abgerissen werden. Von der Wohnung, die sie zuletzt mit ihrem Freund Vito geteilt hat, sind nur Erinnerungen übrig. Die Geschichte der beiden reicht bis in ihre Jugend zurück: Beide wachsen im selben Hochhauskomplex auf, und Yasemin verliebt sich mit dreizehn in den drei Jahre älteren Nachbarn. Von klein auf fasziniert von Glaubensfragen und Spiritualität, versucht sie durch einen Liebeszauber, Vito für sich zu gewinnen. Doch nach einem Sanatoriumsaufenthalt, wo ihre Skoliose behandelt wird, geht sie auf Distanz. Zu fremd ist ihr der eigene Körper, zu groß die Scham wegen ihres Korsetts. Erst zwanzig Jahre später, als die mühsam aufgerichtete Wirbelsäule droht sich wieder zu stauchen, begegnen sie sich erneut. Yasemin hält dieses späte Aufflammen der Jugendliebe für Schicksal. Aber dann zeigt Vito sein Inneres, das bedrohlich ist und leer.



<p>Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie heute auch lebt. Für ihren Debütroman <em>Streulicht</em>, der 2020 auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet.</p>

9{ }

Brache


Lässt sich an einem Streifen Erde ablesen, was geschehen ist? War etwas zu erkennen auf diesem Grundstück, eingefasst von einem Baustellenzaun, der sich im heißen Sommerwind wiegte? Yasemin versuchte, sehr genau hinzuschauen, ob die Überreste sprachen. Ob die Backsteine sprachen, die da aus dem Sand ragten. Die Disteln und der Giersch, die bereits dazwischen sprossen. Es wirkte fast, als wäre erst vor kurzem ein bauplanerisch vernachlässigter Fleck Totland erschlossen worden, machte nicht der mit grauen Steinplatten verlegte Hinterhof die Trennlinie zum fehlenden Haus sichtbar, zeugten nicht die Spuren an der Wand des links angrenzenden Nachbargebäudes davon, dass sich dort früher eine Treppe befunden hatte. Sie war plötzlich zur Außenmauer geworden. Eine weiße Plastikplane verdeckte notdürftig den abgesprungenen Putz und hob sich im Wind wie ein Rock. Das Wurzelwerk des Götterbaums hatte sich unter die Steinplatten geschoben und verwandelte den Hinterhof in eine Hügellandschaft. Trümmerbaum hat man ihn früher genannt, weil er auf Asche gedieh, weil ihm unwegsame Landschaft und fruchtlose Böden nichts ausmachten, und jetzt wuchsen seine Ableger ungehindert, weil Ante nicht mehr wie in den Jahren zuvor die jungen Triebe aus der lehmigen Erde riss, bevor sie zu tief im Boden wurzelten.

Es war sehr still, sommerstill, nur die Plane raschelte, und Yase kam es vor, als sei es ihr eigener Rock, der da gehoben wurde. Das aschblonde Haar lag ihr als Zopf im Nacken, am 10Morgen hatte sie sich mit letzter Kraft diese früher so gewohnte Frisur geflochten, aber der Strang fühlte sich falsch auf der Haut an, als habe Yasemin sich verkleidet und spiele sich nur selbst, eine wandelnde Tote, die eigentlich irgendwo unter diesem aufgeworfenen Sand verscharrt hätte liegen sollen.

Am Abend bevor das Haus verschwand, saßen Yasemin und Lydia hier vor dem KlickKlack auf dem Gehsteig. Ante hatte die wackligen Aluminiumstühle rausgestellt, ihnen Limonade gebracht, die Gläser fingen sofort zu schwitzen an, der Himmel war seltsam bleiern, wie von der brennenden Sonne ausgeblichen. Yasemin war zuletzt übernächtigt gewesen. Die sonst so reine und leuchtende Haut schien fahl, erstmals fielen ihr im Spiegel die feinen Linien um die Augen auf, die für eine Frau von fünfunddreißig Jahren nicht ungewöhnlich waren, in den letzten Wochen aber auf eine Art zutage traten, die anzeigte, dass sie mit etwas beschäftigt war. In sich zusammengefallen saß sie auf diesem Stuhl, sie konnte sich kaum mehr aufrecht halten vor Müdigkeit. Hinter Lydia sah sie die Häuser der Vogesenstraße aufragen. Ein Komplex aus zusammenhängenden Hochhäusern, in Schlangenlinie angeordnet, nachträglich an den Rand des Parks gesetzt, ein Karree Wiese mit Kiesweg drum herum, die in diesem Jahr gelb geworden war, der Kanal floss daneben durch ein Flussbett aus alten Kopfsteinen. An einer Stelle wurde er breiter und bildete einen gefährlichen Strudel. Die Vogesenstraße 45 bis 50 waren die einzigen hohen Häuser in der Gegend. Manche waren sechs, manche zehn Stockwerke hoch, die Blechverschalungen der Balkone reihten sich übereinander, und von ihrem Schlafzimmerfenster über dem weiß erleuchteten KlickKlack-Schild hatte Yase Lydias mit roten Gera11nien bepflanzten Balkon im Erdgeschoss der 45 sehen können, sechs Stockwerke darüber die Balkontür ihrer Kindheit, aber im Wohnzimmer dahinter wohnten längst andere Leute. Die Betonfassade war einmal in einem pastellfarbenen Apricot gestrichen worden, um sie freundlicher wirken zu lassen, aber mit der Zeit hatte sie einen Grauschleier bekommen.

»Eine große Illusion war das, habe ich es dir doch gesagt, Schatz.« Lydias graues Haar rahmte ihr Gesicht in einem geraden Bob-Schnitt, die Lippen lila geschminkt, sie drehte die Limonade in den Händen. Allem, was sie sagte, hätte eine Geste folgen können, bei der sie Asche von einer Zigarettenspitze schnippte, aber Lydia rauchte schon lang nicht mehr, schon mindestens dreißig Jahre. »Das ist nicht gut für die Haut«, mahnte sie ihre Klientinnen, wenn diese sich auf ihren Behandlungsstuhl legten und sie den kalten Rauch in ihren Haaren roch. Es stimmte, von einer Illusion hatte Lydia von Beginn an gesprochen, und noch einige andere Ansprachen hatte sie versucht, aber nichts war zu Yasemin durchgedrungen. Wer rauchte, wollte es ja auch nicht verstehen. Fand immer eine Ausrede, warum es nun doch schön war. Sooft Lydia den Spruch vom Sargnagel im Mund brachte, die Antwort war immer, dass die Kaffeepause mit der Zigarette gemütlicher sei. Genauso gut hätte sie zu einem der Trinker in Antes Kneipe gehen können und ihm erklären, dass er sich seinen Alkoholismus nur einbilde. Der Trinker hätte durch sie hindurchgeschaut und den Schluck Schnaps heruntergewürgt, weil er es musste, nicht weil er es wollte. Es war eine Sucht, kein freudiges Saufen. Er litt darunter, aber er konnte nicht anders. Wie sollte man einem solchen Mann sagen, dass er das Glas einfach nur wieder hinzustellen bräuchte. Sich umdrehen und gehen, weil alles gar nicht echt war.

12So musste Yasemin in der letzten Zeit auf Lydia gewirkt haben. Wie von einem alten Geist berührt, war sie durch die Räume gehastet und hatte alles in Frage gestellt. Ein Einbruch, den sie jetzt, im Rückblick, unerklärlich fand. Sie sah dieses Zerrbild ihrer selbst, wie es Lydia atemlose Vorträge hielt, fast manisch versuchte, ihr die Zeichen zu erklären, die sie gelesen haben wollte, in den Sternen, in Nummernschildern, in diesem heißen Sommer, der denjenigen vor zwanzig Jahren spiegelte, aber das allererste Zeichen las sie natürlich im Mond.

Yasemin fragte sich, ob einer der Backsteine, die da aus der Erde ragten, Teil der Einfahrt gewesen war, durch die sie täglich getreten war. Ein offener Gang, gerade breit genug für ein Auto, der auf den Hinterhof führte, wo jetzt die Mülltonnenverschläge still dalagen und der Baum seine Zweige in die Luft reckte, gebogen wie knochige Rutschen. Hier hatte sich früher die schwarze Nachbarskatze im schmalen Beet nah der Grundstücksmauer ausgestreckt, weil die Erde kühler war als die Steinplatten, der Baum warf seine Blüten ab, und die kleinen gelblichen, fast giftgrünen Dolden rieselten wie schwerer Schnee zu Boden und bedeckten ihr Fell. Die Katze hatte die Augen geschlossen, nur manchmal zuckte die Haut, wenn eine Blüte die Haarspitzen berührte, aber sie war nicht besorgt.

Das war die letzte Ruhe.

Yasemin sah sich an die Rückseite des Hauses treten, wo neben dem angebauten Schuppen der Eingang gelegen hatte. Hier führte eine Treppe am Hinterausgang des KlickKlack vorbei zu ihrer Wohnung im Dachgeschoss, das gleichzeitig der erste Stock war. Sie sah sich ihre Tür aufschließen, die über die Jahre auch Hermanns Tür geworden war, aus 13dickem Holz, das sich in der Sommerhitze ausdehnte, sie musste sie mit mehr Kraft ins Schloss drücken als gewöhnlich. Diese Tür war ihre Sicherheit. Es störte sie nie, sie mit Hermann zu teilen, es war ganz selbstverständlich, er wuchs in ihr Leben hinein, und ihre Tür wurde zu seiner, ihr Bett zu seinem, ihre karge Einrichtung – weil sie es ruhig brauchte, weil ihre Augen sonst so rasten, weil ihre Gedanken mit ihr durchgingen – wurde zu seiner, auch die Wände, leer bis auf die Lichterkette über dem Bett, aber nicht so, dass er ihr Gebiet feindlich besetzte und unter seine Kontrolle bringen wollte. Er fügte den Gegenständen sanft welche hinzu.

Als Yasemin nach einem langen Tag nach Hause kam, stand er an der Spüle und trocknete Teller ab. »Ich brauche einen Tee«, sagte sie erschöpft, und Hermann sagte beiläufig: »Nimm doch meine neue Teekanne.« Es war die Kanne aus Glas, die sie gesehen hatten, als er sie anderntags von der Arbeit abgeholt hatte und sie über die Verkaufsflächen des Kaufhofs gegangen waren. »Komm, wir fahren noch in die Haushaltsabteilung«, hatte Hermann gesagt, weil er wusste, dass die sauberen Handtücher sie beruhigten, und sie hatten sich auf der Rolltreppe gegenübergestanden, Yase eine Stufe über ihm, sodass sie fast gleich groß waren. Sie umarmten sich nach zehn Jahren als innige Vertraute, während der schwarze Handlauf neben ihnen herglitt, etwas schneller als die Stufen, weil die Mechanik es unmöglich machte, sie exakt aufeinander abzustimmen. »Diese Kanne ist schön«, hatte Yase gesagt und übers Glas gestrichen. Sie fand sie schön, weil man hindurchsehen konnte. Stünde...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Antje Rávik Strubel • Beziehungsgewalt • Blaue Frau • Coming-of-age • Deutscher Buchpreis • Erste Liebe • Femizid • Gaslighting • Gewaltbeziehung • Gewalt gegen Frauen • Häusliche Gewalt • Me too • Muna oder Die Hälfte des Lebens • Narzißmus • Okkultismus • Sexualisierte Gewalt • Skoliose • Spiegel-Bestseller-Liste • Spiritualität • Streulicht • Suizid • Tarot • Terezia Mora • toxische Beziehung
ISBN-10 3-518-77862-5 / 3518778625
ISBN-13 978-3-518-77862-3 / 9783518778623
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