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In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung (eBook)

Uigurische Notizen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28239-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung -  Tahir Hamut Izgil
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'Eine essentielle Lektüre' (Ai Weiwei) über eine der systematischsten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit: die Unterdrückung der Uiguren
Tahir Hamut Izgils Freunde verschwanden, einer nach dem anderen. Seit Jahrzehnten werden die Uiguren in China verfolgt, Hunderttausende sind in Lagern interniert, die ersten Staaten sprechen von Völkermord. Izgil schaffte mit seiner Familie das Unmögliche - als erstem führendem Intellektuellen und Schriftsteller gelang es ihm 2017, das Land zu verlassen. In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung ist das bewegende Zeugnis von Haft, Hoffnung und Flucht. Schonungslos und voller Zartheit schreibt Izgil über die uigurische Kultur und das vibrierende Leben in Urumtschi und Kaschgar, über die Zerstörung seiner Heimat und die Macht von Kunst in einer Welt ohne Ausweg. Eine einzigartige literarische Stimme, die auch für all jene spricht, die von der chinesischen Regierung zum Schweigen gebracht wurden.

Tahir Hamut Izgil, geboren 1969 in der Region Xinjiang im westlichen China, ist Filmregisseur, politischer Aktivist und gilt international als einer der prominentesten modernen Lyriker in uigurischer Sprache. Mitte der 1990er Jahre war er für drei Jahre in einem chinesischen Umerziehungslager inhaftiert, weil er angeblich 'sensible Daten' außer Landes hatte schaffen wollen. Wie die meisten uigurischen Intellektuellen sah er sich wachsenden Repressionen durch die chinesische Regierung ausgesetzt. Als die Masseninternierungen von Uiguren begannen, floh er 2017 mit seiner Familie ins Exil. Er lebt heute in Washington.

Einleitung des amerikanischen Übersetzers Joshua L. Freeman*1


Bestellte man sich vor ein paar Jahren in Washington, D. C., ein Uber, war es gut möglich, von einem der größten lebenden Dichter uigurischer Sprache chauffiert zu werden. Tahir Hamut Izgil floh mit seiner Familie 2017 in die Vereinigten Staaten, um der gnadenlosen Verfolgung seines Volks durch die chinesische Regierung zu entkommen. Seine Flucht bewahrte ihn nicht nur vor der beinahe sicheren Internierung in den Lagern, in denen über eine Million Uiguren verschwanden; durch sie konnte er der Welt auch davon berichten, wie er die Katastrophe, die über seine Heimat hereingebrochen war, erlebt hatte. In diesem Bericht aus erster Hand schildert Tahir eine der drängendsten humanitären Krisen, vor die sich die Welt derzeit gestellt sieht, und er erzählt vom Überleben einer Familie.

Ich kannte Tahirs Gedichte, bevor wir uns persönlich begegneten. Auf sie gestoßen bin ich, kurz nachdem ich in Xinjiang, der autonomen uigurischen Region im Westen Chinas, als Übersetzer zu arbeiten begonnen hatte. Ein enger Freund riet mir immer wieder dazu, mich mit Lyrik zu befassen, wenn ich die uigurische Kultur wirklich verstehen wollte. Doch wie viele Amerikaner fühlte ich mich zu dieser literarischen Gattung wenig hingezogen, und so schlug ich den Rat meines Freundes in den Wind. Eines Tages jedoch drückte mir ein anderer Freund einige Blätter mit Tahirs Versen in die Hand. Nie hatte mich Dichtung so berührt.

Bei den Uiguren sind Gedichte nicht ausschließlich die Domäne von Schriftstellern und Intellektuellen. Dichtung ist eng mit dem Alltag verwoben — sie wird in Gespräche eingeflochten, taucht unablässig in den sozialen Medien auf, wird zwischen Liebenden hin und her geschickt. Durch die Lyrik stellen sich die Uiguren als Gemeinschaft Problemen, sei es nun in der Debatte um Geschlechterrollen oder beim Widerstand gegen staatliche Unterdrückung. Auch heute stehe ich nicht selten morgens auf und finde mein Postfach voller neuer Verse vor, die mir weit verstreute Dichter der uigurischen Diaspora zum Übersetzen schickten.

Auch Einfluss und Ansehen in der uigurischen Gemeinschaft sind häufig mit Dichtung verknüpft. Bittet man einen Uiguren, zehn prominente Uiguren zu nennen, wird es sich bei mehreren davon um Dichter handeln. Und bittet man uigurische Intellektuelle, die wichtigsten uigurischen Denker und Schriftsteller aufzuzählen, wird der Name Tahir Hamut Izgil mit großer Wahrscheinlichkeit darunter sein.

Ich lernte Tahir Anfang 2008 kennen, als ich gerade begann, uigurische Lyrik zu übersetzen. Seine Erscheinung ist mir ebenso lebhaft in Erinnerung geblieben wie seine Verse. Der kompakte, energische und gut aussehende Mann hatte einen intensiven Blick, er sprach kraftvoll und mit Präzision. Während wir im Gespräch von der Lyrik zur Politik zur Geschichte zur Religion wanderten, wurde mir rasch klar, wie umfangreich seine Interessen und Erfahrungen waren.

Tahir wuchs als Sohn von Milchbauern in einem Dorf in der Nähe von Kaschgar auf, einer uralten Stadt im Südwesten Xinjiangs; auch heute noch sind die Rhythmen und Bräuche des uigurischen Dorflebens ein Quell, aus dem er für seine Dichtung schöpft. Als er geboren wurde, war die Kulturrevolution in vollem Gange und der radikale Maoismus auf seinem Höhepunkt — volljährig aber wurde er zu einer Zeit, als sich in den 1980er-Jahren eine Ära der ökonomischen und kulturellen Liberalisierung am Horizont abzeichnete. Die eintönige, politisierte Lyrik des Maoismus begann aufblühenden neuen Genres, Stilen und Themen zu weichen. Als Tahir sein erstes Gedicht veröffentlichte — noch in der Schulzeit —, schloss er sich damit einer literarischen Szene an, die brodelte, sich bewegte und neu formierte.

Nach der Schulzeit, die Tahir mit Bravour meisterte, zog er nach Peking, um zu studieren. Da er der Uigurisch sprechenden Welt Kaschgars entstammte, bemühte Tahir sich nun, Mandarin zu lernen, und arbeitete sich durch unzählige Bände chinesischer Avantgarde-Lyrik und chinesische Freud-Übersetzungen. Es dauerte nicht lange, und er las sich großflächig durch die gesamte westliche Literatur; eine Zeit lang traf man ihn fast nie ohne die chinesische Ausgabe ausgewählter Gedichte von Wallace Stevens an. Es war eine aufregende Zeit, in der er und andere uigurische Studenten in Peking sich zu Gruppen zusammenschlossen, um über das, was sie lasen, zu sprechen und eigene literarische Bestrebungen voranzutreiben.

Auch für die Hauptstadt Chinas selbst war es eine Zeit voller Turbulenzen. Eine neue Generation, nicht bereit, das Schneckentempo der Reform hinzunehmen, stellte zunehmend Forderungen nach demokratischen Rechten und einem Ende der Korruption. In seinem zweiten Studienjahr 1989 half Tahir in den Wochen vor den Protesten auf dem Tian’anmen-Platz, dem Platz des Himmlischen Friedens, uigurischen Studenten beim Organisieren von Hungerstreiks und Märschen. Die Studentenbewegung wurde von den Panzern des chinesischen Militärs letztlich gewaltsam niedergeschlagen — Tahirs Interesse an der Politik blieb.

Nach dem Studium arbeitete Tahir eine Zeit lang in Peking, bevor er eine Stelle als Mandarinlehrer in Urumtschi annahm, der Hauptstadt des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang. Er schrieb weiter Gedichte, meist im modernistischen Stil und manchmal über Themen, die in der uigurischen Literatur bislang tabu gewesen waren. In einem viel diskutierten Gedicht von 1994 etwa geht es um Marihuana, Selbstbefriedigung und »eine zum Trinker verkommene Nation«. Schon bald hatte sich Tahir in avantgardistischen Kreisen einen Ruf als begabter junger Dichter erarbeitet.

1996 jedoch machte er unliebsame Bekanntschaft mit der politischen Realität des uigurischen Lebens in China. In der Hoffnung auf ein Auslandsstudium kehrte Tahir Urumtschi den Rücken zu, wurde jedoch an der chinesischen Grenze bei dem Versuch, das Land zu verlassen, verhaftet. Nachdem er sich unter Folter fadenscheiniger Anklagen, Staatsgeheimnisse verraten zu wollen, schuldig bekannt hatte, wurde er für fast drei Jahre ins Gefängnis gesteckt. Die Bedingungen dort waren hart, am Ende wog Tahir nur noch knapp über fünfundvierzig Kilogramm. 

Nach seiner Freilassung Ende 1998 musste Tahir noch einmal von vorn anfangen, dieses Mal jedoch mit einem brandmarkenden Eintrag in der Parteiakte. Im darauffolgenden Jahr war er erstmals in der Filmproduktion tätig, bald schon als Regisseur von Independent-Filmen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte er sich bereits einen Namen als bedeutender und höchst origineller Regisseur gemacht, am besten bekannt für das wegweisende Drama The Moon Is a Witness. Unterdessen schritt auch seine dichterische Arbeit mit Riesenschritten voran, ebenso wie die umfassende und vielfältige Lektüre.

Es war ein ganz erstaunlicher zweiter Akt für einen Mann, der nur wenige Jahre zuvor ein Arbeitslager überlebt hatte, und dieser Akt spielte sich vor dem Hintergrund sich beständig verschlechternder politischer Bedingungen und ethnischer Beziehungen in der Uigurenregion ab. Im Laufe der ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends löschte die chinesische Regierung das uigurischsprachige Bildungssystem größtenteils aus und zwang uigurische Kinder in chinesischsprachige Internate. Die Diskriminierung der Uiguren durch Mitglieder der Han-Mehrheit in China war nun überall zu spüren, häufig sagten potenzielle Arbeitgeber Uiguren auf der Suche nach Arbeit offen ins Gesicht, sie bräuchten »keine Minderheiten«. Mit dem Hinweis auf das Problem der Arbeitslosigkeit — das sie zumindest teilweise durch ihre eigene Politik geschaffen hatte — drängte die Regierung die Uiguren immer stärker dazu, schlecht bezahlte Stellen an Orten in China anzunehmen, wo sie in überfüllten Wohnheimen unter strikter Überwachung lebten, umgeben von einer unvertrauten und häufig feindseligen Gesellschaft.

Jahr für Jahr schwelte der Groll der Uiguren unter der Oberfläche und fand kein Ventil in den streng kontrollierten Medien. Mitte 2009 schließlich, nachdem Han-Angestellte in einer Spielzeugfabrik im Osten Chinas uigurische Kollegen auf haltlose Gerüchte der Vergewaltigung hin gelyncht hatten, kam es in Urumtschi zu einer Welle von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Uiguren und Han. Die Zahl der Todesopfer stieg in die Hunderte, als Busse in Brand...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2024
Übersetzer Ulrike Kretschmer
Vorwort Joshua L. Freeman
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel WAITING TO BE ARRESTED AT NIGHT
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arbeitslager • Ausbeutung • China • Chinesische Provinz • Entrechtung • Erfahrungsbericht • Flucht • Folter • Genozid • Geopolitik • Islam • Kommunistische Partei • Memoir • Menschenrechte • Menschenrechtsverletzung • Migration • Neue Seidenstraße • Primo Levi • Tibet • Uiguren • Urumchi • Urumqi • Völkermord • Völkerrecht • Westchina • Xinjiang • Zwangsarbeit • Zwangssterilisation
ISBN-10 3-446-28239-4 / 3446282394
ISBN-13 978-3-446-28239-1 / 9783446282391
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