Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Bittere Brunnen (eBook)

Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution - Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
704 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-28051-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bittere Brunnen -  Regina Scheer
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
(CHF 21,45)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023
Die Lebensgeschichte einer außergewöhnlichen Frau

Eine Alternative zum Kapitalismus ist möglich, eine Welt ohne Krieg, Armut und Ausbeutung: davon ist die junge Jüdin Hertha Gordon, später Walcher, überzeugt, als sie sich in den 1910er-Jahren den Sozialisten anschließt und in den Kampf stürzt. Hautnah erlebt sie den großen Traum von der Revolution, aber auch das Scheitern und schmerzhafte Ende der Illusionen mit. Die Geschichte ihres Jahrhundertlebens ist das Panorama einer Epoche.

Mitreißend erzählt Regina Scheer von einer außergewöhnlichen Frau in unruhigen Zeitläuften, von existenziellen Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Demokratie, vom Widerstand gegen die Nationalsozialisten, von einer dramatischen Flucht über Marseille in die USA, vom Exil in New York und von der Hoffnung auf den Aufbau eines anderen Deutschland nach dem Krieg.

Regina Scheer kannte Hertha Walcher (1894-1990) seit ihrer Kindheit und führte über viele Jahre Gespräche mit ihr. Sie bietet einen außergewöhnlichen, sehr privaten Blick auf eine beeindruckende Frau, die klandestin nach Moskau reiste, um Dokumente zu überbringen, und dort Lenin und Stalin begegnete; die Spezialistin in der Herstellung von Geheimtinte war, deren Weggefährten Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck, Bertolt Brecht, Willy Brandt hießen. Voller Empathie erzählt Scheer von einem entbehrungsreichen Leben im Dienst einer großen Idee, von unzerstörbarer Hoffnung, von Verbundenheit und Hilfsbereitschaft, aber auch von erbittertem Streit unter Menschen, die doch das gleiche Ziel verfolgen.

»Mit 'Bittere Brunnen' zeichnet Regina Scheer das außergewöhnliche wie exemplarische Leben von Hertha Gordon-Walcher nach und erzählt damit gleichzeitig eine Chronik der sozialistischen und feministischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. 'Bittere Brunnen' geht dabei weit über eine gewöhnliche Biographie hinaus: Meisterlich und transparent verwebt die Autorin historische Recherchen mit persönlichen Erinnerungen. Geholfen hat ihr dabei ihr meisterliches Gedächtnis, mit dem sie Stück für Stück eine Sammlung erstellte. Dieses erzählende Sachbuch steht für große Offenheit im Umgang mit Brüchen, Ungereimtheiten und Leerstellen unseres Wissens um Lebensläufe - und ist eine genaue Dokumentation politischer Zusammenhänge, deren Spuren die Gegenwart prägen.« (Begründung der Jury zum Preis der Lepziger Buchmesse 2023)

Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972 bis 1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift «Forum». Danach war sie freie Autorin und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift «Temperamente». Nach 1990 wirkte sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte, u.a. «Im Schatten der Sterne» (2004). Ihre ersten beiden Romane, «Machandel» (2014) und «Gott wohnt im Wedding» (2019), waren große Publikumserfolge. Ihr neuestes Buch, «Bittere Brunnen», wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Tante Hertha


Als ich zur Schule kam, 1956, heiratete meine schöne Mutter einen fremden Mann, zu dem ich fortan Papa sagen sollte. Ich fand, er sah dem Präsidenten Wilhelm Pieck ähnlich, dessen Bild in unserem Klassenzimmer hing. Er war über sechzig, meine Mutter noch nicht dreißig. Manchmal sprach er im Fernsehen, jedoch besaßen wir damals noch keinen Fernsehapparat. Ich lernte das Wort Emigration, mein neuer Papa war in der Emigration gewesen, in Paris und New York. Das war etwas Besonderes, die anderen Väter waren im Krieg Soldaten gewesen. Der Mann meiner Mutter fuhr immer noch in der Welt herum, nach Afrika oder Kuba, in den Iran und nach Algerien, aber er erzählte mir nichts über seine Reisen, und ich fragte ihn auch nichts. Zu ihm kamen oft Leute, dann hatte ich in meinem Zimmer zu bleiben. Die Besucher interessierten sich nicht für mich, doch ich beobachtete sie durch die Türritzen und lauschte an der Wohnzimmertür, oft verstand ich ihre Sprache nicht, es war wohl Englisch oder Französisch. Andere redeten deutsch, aber was sie sagten, verstand ich trotzdem nicht, die Gespräche kamen mir langweilig vor. Umso seltsamer war, wie erregt die Gäste und meine Eltern oft durcheinanderredeten, wie sie manchmal laut wurden, als würden sie streiten, und manchmal ganz leise, beinahe flüsternd weitersprachen, als sollte sie niemand hören.

Zwei Ehepaare gab es, die einfach in mein Kinderzimmer kamen und mir Geschenke gaben, die manchmal darauf bestanden, dass ich mit am Tisch saß, mich nach meinen Dingen fragten und aufmerksam zuhörten, als sei ich ihnen wichtig. Das waren der Schriftsteller Wolodja und seine Frau Ida aus Paris. Sie reisten wohl auch viel, denn sie brachten mir im Laufe der Zeit eine russische Matrjoschka mit und ein indisches Tüchlein und einen silbernen Kettenanhänger mit einem siebenarmigen Leuchter, der Menorah, wie sie mir erklärten. Den nahm meine Mutter aber an sich, ich sollte ihn nicht tragen, den Grund erfuhr ich nicht. Die anderen Besucher, die sich mir zuwandten, nannte ich Tante Hertha und Onkel Jacob, sie waren noch älter als der Mann meiner Mutter und wohnten auch in Berlin, in Hohenschönhausen. Dorthin wurde ich manchmal mitgenommen, sie hatten ein Haus mit einem Garten, in dem auch ein Kirschbaum stand. Das Haus war kleiner als das, in dem meine Eltern inzwischen wohnten, aber viel gemütlicher. Wie bei uns gab es viele Bücher, aber auch bunt bemalte Schränke, einen Teppich, der an der Wand hing, und zwei seltsame, klobige Ledersessel, die aussahen, als wären es Autositze. Es waren auch Autositze, hörte ich, der Brecht hatte sie aus seinem alten Steyr ausbauen und in der Werkstatt des Berliner Ensembles die Holzgestelle bauen lassen. Das Berliner Ensemble war mir bekannt. Dort, wo ich vorher gewohnt hatte, zusammen mit meiner Mutter und meinem ersten Vater, dem richtigen, wie ich im Stillen fand, hatte ich das sich drehende Zeichen vom Berliner Ensemble aus dem Küchenfenster sehen können. Den Namen Brecht kannte ich nicht. Tante Hertha gab mir ein Buch mit einem lustigen Gedicht von ihm, das Alfabet. »Steff sitzt lang auf dem Abort / Denn er nimmt ein Buch nach dort. / Ist das Buch dann dick / Kommt er erst am nächsten Tag zurück.« Das konnte ich mir vorstellen, ich las selbst überall, seitdem ich es konnte, und dicke Bücher lieber als dünne. Beim Buchstaben E hieß es: »Eventuell bekommst du Eis / Heißt, dass man es noch nicht weiß. / Eventuell ist überall / Besser als auf keinen Fall.« Darüber dachte ich nach. War ein »vielleicht« wirklich besser als das klare »niemals«? Wenn ich meine Mutter fragte, wann mein richtiger Vater mich besuchen käme oder ob ich ihn in Hamburg, wo er wieder lebte, besuchen dürfte, dann blickte sie erschrocken und sagte etwas wie »Wer weiß …, vielleicht. Eventuell später«, aber in einem Ton, als hätte ich etwas Unmögliches verlangt. Und irgendwann hörte ich auf zu fragen, ich erwähnte ihn gar nicht mehr, niemand erwähnte ihn. Ich verstand es nicht.

Tante Hertha und Onkel Jacob schenkten mir auch Bücher, ich weiß noch, wie ich in den weichen, grünen Lederpolstern aus Brechts Auto hockte und in einem Schachlehrbuch für Kinder las oder in Anna Maria Jokls Die Perlmutterfarbe, während die Erwachsenen in der Veranda Kaffee tranken. Es war schön bei diesem alten Paar. Onkel Jacob sah auch ein bisschen aus wie Wilhelm Pieck auf den Zeitungsbildern, so bauchig und gütig, obwohl er manchmal auf irgendetwas schimpfte und Hertha ihm dann die Hand auf den Arm legte, bis er sich beruhigte. Er sprach viel, sie damals nicht. Sie war klein und dünn, meistens trug sie Hosen und einen Pullover, grau oder braun, keinen Schmuck. Ihr kurz geschnittenes Haar war damals noch dunkel, erst später wurde es grau, immer lag es in schönen Wellen, obwohl sie, wie sie meiner Mutter einmal erzählte, nie zum Friseur ging. Sie ging überhaupt selten irgendwohin, weil sie schwer Luft bekam und am liebsten in ihrem Häuschen blieb, wo sie chinesische Bücher übersetzte. Aber nicht aus dem Chinesischen, sondern aus dem Englischen. Außerdem schrieb sie auf einer Reiseschreibmaschine Jacobs Manuskripte ab. Ich dachte, Jacob sei auch ein Schriftsteller oder Journalist wie der Mann meiner Mutter. Den nannten sie Walter, obwohl er Maximilian hieß; in der Emigration trug er den Namen Walter. Oder war Walter sein richtiger Name und der andere sein falscher? Es war verwirrend. Onkel Jacob schrieb keine Bücher und auch nicht für Zeitungen, er schrieb, wie ich ihn einmal sagen hörte, für die Schublade. Tatsächlich waren die Schubladen und Schränke in dem kleinen Haus voll von beschriebenem Papier, auch auf dem Tisch neben Brechts grünen Sesseln stapelten sich die Blätter. Jacob schrieb über das, was er erlebt hatte, Jahrzehnte vor meiner Geburt. Er schrieb über die Partei und die Jahre in der Emigration, über Leute, die nicht mehr lebten. Darüber redeten sie auch, wenn sie am Kaffeetisch saßen oder bei meinen Eltern zu Besuch waren. Das interessierte mich nicht besonders, aber beeindruckt war ich schon, dass Onkel Jacob und Tante Hertha unseren Präsidenten kannten und Rosa Luxemburg begegnet waren und Clara Zetkin, deren Kopf auf meinen Schulheften abgebildet war, vor allem aber bewunderte ich sie, weil sie LENIN gekannt hatten. LENIN war nicht wie andere Menschen, vielleicht war er so etwas wie ein Gott, ein Name, der über allem schwebte, wie STALIN. Aber mit diesem Stalin war irgendwas, sein Denkmal stand zwar noch in der Nähe vom »Haus des Kindes«, aber Stalins Kopf, der zu Beginn meines ersten Schuljahres auf Plakaten noch in einer Reihe mit den Köpfen von Marx, Engels und Lenin abgebildet war, war aus dieser Reihe der Götter verschwunden. Und irgendwann, als wir am »Haus des Kindes« vorbeifuhren, sah ich, dass auch sein Denkmal nicht mehr da war. Einmal fragte ich Tante Hertha, ob sie Stalin auch gekannt habe, sie lachte und machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ja, ich bin ihm begegnet«, sagte sie. »Mit der Clara zusammen, sie war bei ihm zum Essen eingeladen. Sein Sohn Jakow saß mit am Tisch, fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Stalin sagte etwas zu ihm, der Sohn antwortete, wir haben die Antwort nicht verstanden, aber Stalin beugte sich über den Tisch und ohrfeigte den Jungen. Der stand auf und ging wortlos, auch seine Stiefmutter, nur sechs Jahre älter als Jakow, sagte kein Wort. Uns war der Appetit vergangen.«

Das war, was sie mir über Stalin erzählte: Er hat seinen Sohn geschlagen.

Aber ich fragte nicht weiter nach, zu weit weg von meinem Leben waren Stalin und Lenin, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin.

Als ich zehn Jahre alt und gerade in die fünfte Klasse gekommen war, starb Wilhelm Pieck, unser Präsident. Sein Bild in der Schule bekam eine schwarze Schärpe, bevor es nach einer Weile ausgetauscht wurde. Onkel Jacob und Tante Hertha hatten ihn gerngehabt, das wusste ich, ohne dass sie es gesagt haben. Jetzt war überall die Rede vom Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, den kannten sie auch, gut sogar, aber den hatten sie offenbar nicht gern. Inzwischen glaubte ich, dass das alte Ehepaar in Hohenschönhausen alle wichtigen Leute dieser Welt kannte oder ihnen begegnet war. In Paris oder New York, in Moskau oder London.

Ich war gern in dem kleinen Haus, weil es da gut roch, nicht so wie sonst bei alten Leuten, ich hörte gern Jacobs dröhnendes, warmes Lachen, Herthas leise Stimme, die aber auch hart und befehlend werden konnte. Nicht mir gegenüber, mit mir sprach sie beinahe zärtlich, sie mochte es, wenn ich über die Bücher erzählte, die ich gelesen hatte, über meine Freundinnen, sie interessierte sich für meine Schule, für mich, das war ich nicht gewohnt. Jacob gefiel es, wenn ich ihn etwas fragte, er erklärte gern und holte dabei weit aus. Oft hatte ich meine Frage schon vergessen und langweilte mich etwas bei seinen ausführlichen Antworten. Hertha rief mich manchmal bei meinen Eltern an und lud mich ein, sie mit der Straßenbahn und dem Bus zu besuchen. Trotzdem vergingen oft Monate, in denen ich sie nicht sah. Aber die Gewissheit, dort jederzeit willkommen zu sein, gab mir eine schwer zu benennende Sicherheit, das Gefühl der Zugehörigkeit, das ich bei mir zu Hause nicht fand. Ich war in der elften Klasse, als ich das Haus meiner Eltern verließ, ich ging einfach nicht mehr dorthin. Eine Lehrerin wurde mein Vormund, später wohnte ich zur Untermiete bei einer alten Frau in der Anklamer Straße, dann, das war schon zur Zeit des Abiturs, bei einer Freundin in Karlshorst. Als ich achtzehn Jahre alt, also volljährig war, bekam ich eine eigene kleine Dachwohnung, und im Herbst desselben Jahres begann ich ein Studium an der Humboldt-Universität. Hertha und Jacob, obwohl der Mann...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Zusatzinfo mit Bildteil
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 160 jahre spd • 2023 • Bertolt Brecht • Biografie • Biographien • Clara Zetkin • DDR • Die Linke • eBooks • Exil • Geschichte • jubiläum spd • Kapitalismuskritik • Kommunismus • Menschenrechte • Neuerscheinung • Preis der Leipziger Buchmesse • Rosa Luxemburg • Sahra Wagenknecht • Soziale Gerechtigkeit • Sozialismus • SPD • transatlantic • Untergrund • Utopien • Varian Fry • Willy Brandt
ISBN-10 3-641-28051-6 / 3641280516
ISBN-13 978-3-641-28051-2 / 9783641280512
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 9,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten | Der Nummer 1 …

von Florian Illies

eBook Download (2023)
S. Fischer Verlag GmbH
CHF 22,45
Deutsche Ausgabe von »Spare«

von Prinz Harry

eBook Download (2023)
Penguin Verlag
CHF 21,45