Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Wir sind dieser Staub (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
319 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-0954-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir sind dieser Staub -  Elizabeth Wetmore
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
(CHF 9,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Texas, 1976: Odessa steht kurz vor dem nächsten Ölboom. Während die Männer der Stadt den kommenden Wohlstand feiern, kennen und fürchten ihre Frauen die Gewalt, die immer zu folgen scheint.

Als die vierzehnjährige Gloria Ramírez mehr tot als lebendig auf der Veranda von Mary Whiteheads Ranch gefunden wird, wissen Mary und die anderen Frauen von Odessa, was jetzt passieren wird. Aber sie wissen auch, dass sie dieses Mal zusammenhalten werden.

Eine eindringliche Erkundung der Schnittstellen von Gewalt, Herkunft und Klasse.



Elizabeth Wetmore ist im westlichen Texas aufgewachsen und lebt heute in Chicago. Sie arbeitete unter anderem als Bartenderin und Taxifahrerin und lebte eine Zeitlang als Einsiedlerin in den Wäldern von Arizona. Dann begann sie zu schreiben.

Elizabeth Wetmore ist im westlichen Texas aufgewachsen und lebt heute in Chicago. Sie arbeitete unter anderem als Bartenderin und Taxifahrerin und lebte eine Zeitlang als Einsiedlerin in den Wäldern von Arizona. Dann begann sie zu schreiben.

Gloria


Sonntagmorgen draußen auf dem Ölfeld, kurz vor der Dämmerung. Ein junger Bohrarbeiter liegt unbequem in seinem Pick-up ausgestreckt und schläft. Er hat die Schulter von innen gegen die Fahrertür gestemmt, die Stiefel aufs Armaturenbrett gelegt und sich den Cowboyhut so tief ins Gesicht gezogen, dass das Mädchen draußen im Staub nur sein bleiches Kinn erkennen kann. Seine sommersprossigen Wangen sind fast unbehaart. Er wird sie nie täglich rasieren müssen, egal wie alt er wird. Sie hofft, dass er jung stirbt.

Gloria Ramírez hält vollkommen still. Sie ist ein von einem Mesquitebaum herabgefallener Ast, ein halb im Erdboden vergrabener Stein. Sie stellt sich vor, wie er bäuchlings im Staub liegt; der Sand hat ihm Lippen und Wangen zerkratzt, und nur das Blut in seinem Mund stillt seinen Durst. Als er im Schlaf zusammenzuckt und gegen die Fahrertür stößt, hält sie den Atem an und beobachtet, wie seine mahlenden Kiefermuskeln Knochen gegen Knochen drücken. Sein Anblick ist eine Qual, und wieder wünscht sie sich, der Tod würde ihn holen, ein grausiger, einsamer Tod, und danach soll niemand um ihn trauern.

Im Osten färbt der Himmel sich lila, dann blauschwarz und zuletzt so stumpfgrau wie Blei oder Schiefer. In wenigen Minuten werden Orange und Rot aufflammen, dann könnte Gloria die straff aufgespannte Landschaft darunter sehen, das ans Blau getackerte Braun. Alles scheint wie immer. Wenn man nicht vergisst, ihn zu beachten, ist dieser endlose Himmel das Beste am westlichen Texas. Sie wird ihn vermissen, wenn sie nicht mehr hier ist. Bleiben kann sie nicht, jetzt nicht mehr.

Sie hält den Blick starr auf den Pick-up gerichtet und drückt ganz sanft die Finger in den Sand – eins, zwei, drei, vier. Ihre Hand versucht, sie von jähen Bewegungen abzuhalten, sie darf keinen Laut von sich geben, wenn sie auch nur einen Tag länger am Leben bleiben will. Gloria Ramírez weiß vielleicht nicht viel, doch an diesem Morgen des 15. Februar 1976 weiß sie das eine: Hätte er, statt das Bewusstsein zu verlieren, zum Gewehr gegriffen oder seine Hände um ihren Hals gelegt, wäre sie jetzt tot. Zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig – sie wartet, beobachtet, hört ein kleines Tier im Mesquitelaub rascheln. Und dann, als hätte sie Erbarmen, schiebt die Sonne sich über die Erdkante und steht als brennende Scheibe am östlichen Himmel. Glorias Finger zählen lautlos weiter.

Das Tageslicht bringt meilenweit nichts als Ölpumpen und Bohrrückstände zum Vorschein, Präriehasen und Stacheldrahtzaun, Mesquitewäldchen und Büffelgras. Unter Haufen aus Sedimentgestein und ausrangierten Pipelines haben sich Rattenschlangen, Mokassinottern und Klapperschlangen zusammengerollt, atmen langsam und gleichmäßig, warten auf den Frühling. Als es hell geworden ist, erkennt Gloria eine Straße und ein Ranchhaus. Vielleicht ist es nah genug, um hinzulaufen, aber sie ist sich nicht sicher. Hier draußen sieht eine Meile manchmal aus wie zehn und zehn wie zwanzig. Sie weiß, dass dieser Körper – gestern hätte sie noch von ihrem Körper gesprochen – irgendwo auf einem Ölfeld im Sand sitzt, zu weit weg von zu Hause, um den Wassertank mit dem aufgemalten Ortsnamen zu sehen, Odessa, das Bankgebäude und die Kühltürme der Raffinerie, in der ihre Mutter arbeitet. Alma putzt dort Büros und Pausenräume. Bald wird sie von der Nachtschicht heimkehren, ihre Zweizimmerwohnung wird noch nach dem letzten Abendessen riechen, nach Maisgrütze, Schweinefleisch und Tíos Zigaretten, und wenn sie Glorias unberührtes Sofabett sieht, wird sie sich Sorgen machen, vielleicht sogar ein wenig Angst bekommen. Doch vor allem wird sie sich ärgern, weil ihre Tochter wieder mal nicht da ist, wo sie sein sollte: zu Hause.

Gloria verfolgt das Auf und Ab der Ölpumpen. Sie sehen aus wie riesige, gefräßige Heuschrecken aus Stahl. Hat er sie bis nach Penville verschleppt? Mentone? Loving County? Das Permian-Becken besteht aus achtzigtausend Quadratmeilen des Immerselben, sie könnte sich sonst wo befinden; wirklich real sind hier draußen nur ihr Durst und ihre Schmerzen, die gelegentlichen Seufzer des Bohrarbeiters, seine knirschenden Zähne und sein zuckender Körper, das Klacken und Surren einer nur wenige Schritte entfernten Ölpumpe.

Eine Wachtel ruft. Es klingt, als sänge sie ihren Namen, und das Geräusch hebelt ganz sanft den Tag auf. Gloria schaut noch einmal zu der Ranch. Die unbefestigte Straße zerteilt die Wüste in zwei Hälften und führt in gerader Linie darauf zu, und schon meint Gloria, eine Veranda zu erkennen. Vielleicht kann sie das Haus zu Fuß erreichen, vielleicht wird eine Frau die Tür öffnen.

Ihre zitternden Finger drücken die letzte Zahl in den Sand, Tausend, und er hat sich immer noch nicht bewegt. Gloria dreht langsam den Kopf hin und her, und weil sie weiß, dass es vor allem die Stille ist, die sie am Leben erhält, begutachtet sie ihren Körper stumm. Hier ist ein Arm, dort ein Fuß. Die Mittelfußknochen sind mit den Fersen verbunden, die Fersen mit den Knöcheln. Und dahinten, neben der hölzernen Bohrplattform, liegt ihr Herz. Sie sieht sich um, sammelt ihren Körper ein und ihre zerrissene Kleidung, verstreut wie achtlos weggeworfener Müll; das sind nicht mehr ihr schwarzes Lieblings-T-Shirt, ihre Jeans, die Alma ihr zu Weihnachten geschenkt hat, das bei Sears gestohlene Wäscheset aus BH und Slip.

Gloria weiß, sie sollte es besser nicht tun, aber bevor sie losgeht, dreht sie sich noch einmal zum Pick-up um. Unter der Cowboyhutkrempe ragen dünne blonde Haarsträhnen hervor. Er ist hager und sehnig und nur ein paar Jahre älter als Gloria, die, falls sie diesen Tag überlebt, im Herbst fünfzehn wird. Sein Kinn und seine Brust heben und senken sich gleichmäßig, wie bei jedem anderen Menschen, ansonsten regt sich nichts. Er schläft immer noch, oder er tut nur so.

In diesen letzten Gedanken schlittert Glorias Verstand hinein wie ein Pferd in einen Stacheldrahtzaun. Ihr Kiefer fällt herunter und klappt ruckartig wieder zu. Sie keucht und schnappt nach Luft wie ein aus dem Wasser gerissener Fisch. Sie stellt sich ihre abgetrennten Gliedmaßen vor, die verstreut in der Wüste liegen und von den Kojoten angenagt werden. Die ganze Nacht hat sie ihr Geheul gehört. Sie sieht ihre eigenen ausgebleichten, vom Wind glatt polierten Knochen, eine ganze Wüste voll davon, und würde am liebsten schreien. Stattdessen schluckt sie mühsam, lässt sich wieder in den Sand sinken und verschließt die Augen vor dem Bohrarbeiter, dem gleißenden Sonnenlicht, dem unendlichen Himmel.

Sie darf nicht panisch werden. Panik ist das Schlimmste, würde ihr Onkel jetzt sagen. Wenn Tío vom Krieg erzählt – und seit seiner Heimkehr vor einem Jahr erzählt er von nichts anderem mehr –, fangen seine Geschichten immer gleich an. Wie nennt man einen Soldaten, der in Panik ausgebrochen ist, Gloria? Einen gefallenen Soldaten, jawohl. Die Geschichten enden auch immer gleich: Gloria, hör zu, ein Soldat wird niemals panisch. Du darfst nie die Nerven verlieren, denn sonst – er hebt den Zeigefinger wie eine Pistole, richtet sie auf sein Herz und drückt den Abzug – peng! Und eins weiß Gloria an diesem Morgen mit absoluter Sicherheit, sie will nicht sterben, also schiebt sie sich eine Faust in den Mund und befiehlt sich, aufzustehen. Keinen Mucks zu machen. Los jetzt!

Gloria Ramírez – noch Jahre später wird ihr Name über den Mädchen der Stadt schweben wie ein Wespenschwarm, als Warnung vor dem, was man niemals tun darf – steht auf. Sie denkt ganz kurz an ihre Schuhe, macht sich aber nicht die Mühe, sie zu suchen, ebenso wenig wie die Kaninchenfelljacke, die sie am Vorabend getragen hat, als der junge Mann auf dem Parkplatz des Sonic hielt. Ein aus dem Seitenfenster baumelnder Unterarm, Sommersprossen, goldener Bartflaum im Neonlicht des Drive-in.

Hallo, Herzdame! Seine Stimme nahm dem Drive-in schlagartig alle Hässlichkeit. Sein breiter Akzent verriet, dass er nicht von hier stammte, aber auch nicht von weit her. Glorias Mund wurde so trocken wie Kreide. Wie an fast jedem Samstagabend stand sie neben dem Picknicktisch, windschiefer Treffpunkt zwischen Autos und Trucks: rumhängen, Limonade trinken, Zigaretten schnorren und darauf warten, dass irgendwas passiert. Doch es passierte nie etwas, nicht in diesem Dreckskaff.

Er parkte so dicht neben ihr, dass Gloria selbst durch die Windschutzscheibe die Ölflecken auf seiner Kleidung sehen konnte. Seine Wangen und sein Hals waren windgegerbt, die Finger schwarz. Auf dem Armaturenbrett Straßenkarten und Quittungen, am Kleiderhaken hinter dem Sitz ein Hut. Auf der Ladefläche leere, zerdrückte Bierdosen zwischen Brechstangen und Wasserkanistern. Alles fügte sich mehr oder weniger perfekt zu jenem Horrorbild zusammen, vor dem man Gloria ihr Leben lang gewarnt hatte. Der junge Mann stellte sich vor, Dale Strickland, und fragte nach ihrem Namen.

Geht dich gar nichts an, sagte sie.

Die Worte waren draußen, noch bevor sie nachdenken konnte; womöglich wirkte sie jetzt erst recht wie ein kleines Mädchen und nicht wie die abgeklärte junge Frau, die sie unbedingt sein wollte. Strickland beugte sich noch weiter aus dem Fenster und sah sie an wie ein Hundewelpe, wenn auch wie einer mit blutunterlaufenen, dunkel geränderten Augen. Ein paar Sekunden lang erwiderte sie seinen Blick. Das Blau seiner Augen wirkte hell und dann so dunkel wie Schiefer, je nachdem, in welchem Winkel das Licht auf sein Gesicht fiel. Seine Augen waren so blau wie die Murmeln, die man auf keinen Fall hergeben will, oder vielleicht auch wie der Golf von Mexiko. Andererseits könnte Gloria den Pazifik nicht von einem...

Erscheint lt. Verlag 30.9.2021
Sprache deutsch
Original-Titel Valentine
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Feminismus • Frauen • Gegenwartsliteratur • Mexiko • Patriarchat • Rache • Texas • USA • Vergewaltigung
ISBN-10 3-7517-0954-1 / 3751709541
ISBN-13 978-3-7517-0954-5 / 9783751709545
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Ohne DRM)

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 12,65
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 12,65