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Kleine Wunder um Mitternacht (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
416 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-24278-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kleine Wunder um Mitternacht -  Keigo Higashino
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Drei junge Einbrecher, die eine Nacht lang untertauchen müssen. Ein verlassener Laden, der aus der Zeit gefallen ist. Ein alter Mann, der mit Briefen das Schicksal der Menschen zum Guten wendet ... Der neue Roman des japanischen Bestsellerautors!
Es ist kurz vor Mitternacht, als drei junge Einbrecher in einen verlassenen Gemischtwarenladen eindringen, um nach ihrem Raubzug unterzutauchen. Doch Atsuya, Shota und Kohei wird keine ruhige Stunde bis zum Morgengrauen gewährt: Ein Brief wird von außen durch einen Schlitz in den Laden geworfen, obwohl in der Dunkelheit vor der Tür kein Mensch zu sehen ist. Als ihn die erstaunten Kleinkriminellen öffnen, beginnt eine unglaubliche Geschichte, die eine Nacht lang das Leben unzähliger Menschen verändern wird - und eigentlich begann sie vor über dreißig Jahren, als ein weiser alter Mann mit seinen Worten kleine Wunder vollbringen konnte.

Keigo Higashino wurde 1958 in Osaka, Japan geboren. Nach seinem Studium an der Osaka Prefecture University und einer Tätigkeit als Ingenieur begann er, Kriminalromane zu schreiben - und zwar mit sensationellem Erfolg. Seine Bücher über den Physikprofessor Yukawa wurden international millionenfach verkauft, für Kino und Fernsehen adaptiert sowie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Mit »Kleine Wunder um Mitternacht« hat sich Higashino zur Gänze neu erfunden und legt einen raffiniert konzipierten und tief berührenden Roman vor. Er lebt zurückgezogen in Tokio.

KAPITEL 2

Midnight Blues

1.

Am Besucherschalter stand ein dünner Mann weit über sechzig. Im letzten Jahr war er noch nicht hier gewesen. Wahrscheinlich hatte er sein ganzes Leben lang in der Stadt gearbeitet, nur um in Rente zu gehen und dann hier weiterzuarbeiten.

Katsuro war unbehaglich zumute. Er nannte dem Mann seinen Namen.

»Katsuro wer?«, fragte der Mann nicht überraschend.

»Katsuro Matsuoka. Ich soll hier ein Konzert geben.«

»Konzert?«

»Wegen Heiligabend …«

»Ach so, die Weihnachtsfeier?« Der Mann reimte es sich zusammen. »Ich hatte gehört, dass es eine musikalische Darbietung geben soll, aber ich dachte, es wäre eine Band. Nur Sie also, was?«

»Äh, Verzeihung«, entschuldigte er sich reflexhaft.

»Einen Moment bitte.«

Der Mann nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer. Er wechselte einige Worte mit dem Menschen am anderen Ende der Leitung und teilte Katsuro mit: »Es holt Sie gleich jemand ab.«

Eine Frau mit Brille kam den Flur herunter, um ihn zu empfangen. An ihr Gesicht erinnerte er sich, sie hatte die Feier im letzten Jahr organisiert. Sie schien ihn ebenfalls zu erkennen und begrüßte ihn mit einem Lächeln. »Herzlich willkommen.«

»Danke, dass Sie mich wieder eingeladen haben«, sagte Katsuro.

»Aber gern doch.«

Sie führte ihn in ein mit einigen Stühlen und einem Tisch ausgestattetes Wartezimmer.

»Sie haben vierzig Minuten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Lieder selbst auszusuchen, wie letztes Jahr?«

»Überhaupt nicht. Ich werde hauptsächlich Weihnachtsmusik spielen. Und ein oder zwei Eigenkompositionen.«

»Interessant.« Die Frau lächelte unergründlich, als wollte sie die Bedeutung von »Eigenkompositionen« erspüren.

Es blieb noch etwas Zeit, bevor er auf die Bühne musste. Katsuro saß im Wartezimmer. Auf dem Tisch standen eine Flasche Tee und ein Pappbecher. Er trank einen Schluck.

Da er im letzten Jahr schon das Weihnachtskonzert gespielt hatte, war dies sein zweiter Besuch in Marukoen, einem Kinderheim in den Bergen außerhalb Tokios. Der vierstöckige Bau aus Stahlbeton in einem Wäldchen bestand aus Wohnräumen, einem Speisesaal, Badezimmern sowie diversen Freizeitanlagen und wurde von Kindern vom Säuglingsalter bis zur Volljährigkeit gemeinschaftlich bewohnt. Mittlerweile war Katsuro in vielen dieser Einrichtungen gewesen. Marukoen gehörte zu den größeren.

Er nahm seine Gitarre, stimmte noch ein letztes Mal nach und sang ein paar Töne. Alles klar. Er war bereit für seinen Auftritt.

Die Frau mit der Brille kehrte zurück und sagte, es sei so weit. Katsuro trank noch einen Becher kalten Tee und erhob sich dann von seinem Stuhl.

Die Feier wurde in der Turnhalle abgehalten. Die Kinder saßen aufrecht auf in mehreren Reihen aufgestellten Klappstühlen. Die meisten sahen aus, als wären sie im Grundschulalter. Als Katsuro vor sie trat, klatschten sie. Es kam ihm vor wie einstudiert.

Ein Mikrofon, ein Klappstuhl und ein Notenständer waren für ihn aufgebaut. Er verbeugte sich vor seinem jungen Publikum und nahm Platz.

»Hallo Marukoen!«

»Hallo«, erwiderten die Kinder im Chor.

»Ich bin Katsuro. Es ist schön, wieder hier zu sein. Ich schätze mal, da ich jedes Jahr komme, habe ich ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann. Leider hab ich keine Geschenke mitgebracht, aber keine Sorge, genau wie im letzten Jahr habe ich wieder einen prallen Sack Musik für euch dabei.«

Die Kinder lachten höflich.

Katsuro schlug die Anfangsakkorde von »Rudolph, the Red-Nosed Reindeer« und begann zu singen. Alle kannten das Lied, und nach einer Weile stimmten sie mit ein.

Im Anschluss spielte er sämtliche klassischen Weihnachtslieder. Die Kinder schienen sich zu amüsieren, nach einer Weile klatschten sie mit, man könnte sogar sagen, dass einige von ihnen abrockten.

Doch ab ungefähr der Hälfte des Konzerts war Katsuro nur noch auf ein Kind fixiert: ein Mädchen in der zweiten Reihe ganz links. Es musste schon um die zehn Jahre alt sein. Es starrte ins Leere, sah nicht einmal in Katsuros Richtung. Die Musik interessierte die Kleine ganz offenbar nicht, denn sie bewegte die Lippen nicht.

Der trostlose Ausdruck in ihrem Gesicht machte Katsuro betroffen. Es lag etwas darin, das nicht zur Kindheit gehörte. Er spürte einen starken Drang, ihren Blick auf sich zu lenken.

Da er aus ihrem Verhalten schloss, dass die üblichen Kinderlieder sie langweilten, versuchte er es mit dem Yumi-Matsutoya-Lied »My Baby Santa Claus« aus dem Erfolgsfilm des vergangenen Jahres, Take Me Out to the Snowland. Rein theoretisch verstieß er gegen das Copyright, indem er das Stück auf einem solchen Konzert spielte, aber wer sollte ihn schon anzeigen?

Den meisten Kindern gefiel es, aber das Mädchen starrte immer noch an die Decke.

Er probierte ein paar Lieder aus, die ein Mädchen dieses Alters seiner Einschätzung nach mögen musste, aber nichts zog. Katsuro war ratlos.

»Also gut, jetzt kommt mein letztes Lied. Das spiele ich immer am Schluss. Danke fürs Zuhören.«

Er legte die Gitarre weg und nahm seine Mundharmonika, dann holte er tief Luft, schloss die Augen und setzte zu einer Melodie an, die er schon tausend Mal gespielt hatte. Dazu brauchte er keine Noten, er kannte das Lied auswendig.

Es dauerte etwa dreieinhalb Minuten. In der Turnhalle wurde es mucksmäuschenstill. Kurz bevor er die Mundharmonika absetzte, blinzelte Katsuro. Da bemerkte er es.

Das Mädchen starrte ihn unverwandt an. Sein Blick war ernst.

Nachdem Katsuro geendet hatte, verbeugte er sich und ging unter weiterem steifen Applaus von der Bühne. Die Frau mit der Brille kam zu ihm und lobte seinen Auftritt.

Schon wollte er sich nach dem Mädchen erkundigen, schluckte den Satz aber hinunter. Welchen Grund konnte er für seine Frage denn angeben?

Seltsamerweise kam er dann aber doch noch mit dem Kind ins Gespräch.

Nach der Feier gab es Essen im Speisesaal, und Katsuro wurde dazu eingeladen. Während er am Tisch saß, sprach ihn das Mädchen an.

»Was war das für ein Lied?«

»Welches?«

»Das letzte, auf der Mundharmonika. Das hab ich noch nie gehört.«

»Kein Wunder, es ist eine Eigenkomposition.«

»Eine Eigenkomposition?«

»Ein Lied, das ich selbst geschrieben habe. Gefällt es dir?«

Das Mädchen nickte eifrig. »Ich fand es super. Ich möchte es noch mal hören.«

»Ach ja? Also gut, warte mal kurz hier.«

Katsuro war angeboten worden zu übernachten, es war ein Zimmer für ihn vorbereitet. Dorthin ging er jetzt, um seine Mundharmonika zu holen.

Er nahm das Mädchen mit in den Flur und spielte ihm das Lied noch einmal vor. Andächtig lauschte die Kleine den Mundharmonikatönen.

»Hat es einen Titel?«

»Es heißt ›Weiterleben‹.«

»›Weiterleben‹«, murmelte sie vor sich hin und begann zu summen. Als Katsuro begriff, was sie da summte, war er perplex, fehlerfrei wiederholte sie die Melodie von »Weiterleben«.

»Du kannst es schon?«

Zum ersten Mal lächelte sie. »Lieder kann ich mir gut merken.«

»Trotzdem ist das erstaunlich.« Katsuro sah ihr in die Augen, das Wort Genie huschte ihm durch den Kopf.

»Herr Matsuoka, wieso kommt es nicht im Radio?«

»Im Radio, tja. Ich weiß nicht so recht.« Katsuro schüttelte den Kopf, um das Zittern, das aus seinem Herzen aufstieg, zu überspielen.

»Das Lied würde sicher ein Hit.«

»Meinst du?«

Sie nickte. »Mir gefällt’s.«

Katsuro grinste. »Danke. Mir auch.«

»Seri, bist du hier draußen?« Eine Frau streckte den Kopf in den Flur. »Kannst du kommen und Tatsu füttern?«

»Ja, gut.« Das Mädchen, das offenbar Seri hieß, verbeugte sich vor Katsuro und ging zurück in den Speisesaal.

Katsuro folgte ihr in einem gewissen Abstand. Seri hatte sich neben einen kleinen Jungen gesetzt und versuchte, ihn dazu zu bewegen, einen Löffel zu halten. Der Junge war schmächtig, seine Miene ausdruckslos.

Da die Frau mit der Brille in der Nähe stand, erkundigte Katsuro sich beiläufig nach Seri und dem Jungen. Ihr Blick wurde ernst.

»Sie sind Geschwister. Sie sind im letzten Frühjahr zu uns gekommen, aus einem gewalttätigen Elternhaus. Tatsu spricht mit niemandem außer seiner älteren Schwester.«

»Oh.«

Katsuro beobachtete Seri dabei, wie sie sich um ihren Bruder kümmerte. Langsam verstand er, warum ihr Weihnachtslieder nicht gefielen.

Nach dem Essen zog Katsuro sich in sein Zimmer zurück. Als er auf dem Bett lag, hörte er ausgelassene Stimmen durchs Fenster. Er setzte sich auf und sah nach draußen. Die Kinder spielten mit Wunderkerzen, ihnen schien die Kälte nichts auszumachen.

Dann entdeckte er Seri und Tatsu. Sie standen etwas abseits und beobachteten die anderen.

Wieso kommt es nicht im Radio?

Es war lange her, dass jemand ihn so etwas gefragt hatte. Ungefähr zehn Jahre, seit er so lachen und der Frage ausweichen musste. Wobei damals seine Einstellung eine völlig andere gewesen war.

Ich hab dich enttäuscht, Vater, sagte er durch die Scheibe in den Nachthimmel. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, eine verlorene Schlacht zu schlagen.

Seine Gedanken drifteten acht Jahre in die Vergangenheit.

2.

Die Nachricht, dass seine Großmutter gestorben war, erhielt Katsuro am...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2021
Übersetzer Astrid Finke
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Namiya zakkaten no kiseki (The Miracles of the Namiya General Store)
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Brief • Die Telefonzelle am Ende der Welt • Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry • eBooks • Einbrecher • Fantasy • Haruki Murakami • Inspirierende Unterhaltung • Jan-Philipp Sendker • Japan • Kazou Ishiguru • Laura Imai Messina • Liebesromane • Rachel Joyce • Roman • Romane • Verdächtige Geliebte • Waisenhaus • Zeitreise • Zeitreiseroman
ISBN-10 3-641-24278-9 / 3641242789
ISBN-13 978-3-641-24278-7 / 9783641242787
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